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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 09.10.1997
Aktenzeichen: C-291/96
Rechtsgebiete: EGV


Vorschriften:

EGV Art. 177 (jetzt EGV Art. 234)
EGV Art. 6
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Der Gerichtshof kann nicht über eine Vorabentscheidungsfrage befinden, wenn offensichtlich ist, daß die von einem nationalen Gericht erbetene Auslegung einer Gemeinschaftsvorschrift in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, oder wenn das Problem hypothetischer Natur ist und der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind. Daraus folgt, daß der Gerichtshof für die Beantwortung einer Frage nach der Auslegung des in Artikel 6 des Vertrages verankerten Verbotes jeder Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit nicht zuständig ist, wenn das nationale Gericht dem Gerichtshof nichts mitgeteilt hat, was annehmen ließe, daß sich dieses Gericht im Rahmen eines Verfahrens, das auf eine strafrechtliche Verurteilung wegen eines Vergehens im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall abzielt, veranlasst sehen könnte, Vorschriften anzuwenden, mit denen die Beachtung der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen im allgemeinen oder die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer im besonderen gewährleistet werden soll.


Urteil des Gerichtshofes (Zweite Kammer) vom 9. Oktober 1997. - Strafverfahren gegen Martino Grado und Shahid Bashir. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Amtsgericht Reutlingen - Deutschland. - Vorabentscheidungsersuchen - Strafverfahren - Verwendung der Höflichkeitsanrede - Diskriminierung - Erheblichkeit der Frage - Unzuständigkeit. - Rechtssache C-291/96.

Entscheidungsgründe:

1 Das Amtsgericht Reutlingen hat mit Beschluß vom 19. August 1996, beim Gerichtshof eingegangen am 3. September 1996, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung von Artikel 6 dieses Vertrages zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Strafverfahren gegen Herrn Grado, einen italienischen Staatsangehörigen, und Herrn Bashir, der die Staatsangehörigkeit eines Drittlandes besitzt.

3 Nach § 407 der deutschen Strafprozessordnung (StPO) kann die Staatsanwaltschaft, wenn sie eine Hauptverhandlung nicht für erforderlich hält, beim Strafrichter den Erlaß eines von ihr vorgefertigten Strafbefehls beantragen. Nach § 408 StPO hat der Richter diesen Antrag mit Datum und seiner Unterschrift zu versehen, wenn dem Erlaß des Strafbefehls seiner Meinung nach keine rechtlichen Bedenken entgegenstehen. Mit der Unterschrift wird aus dem Antrag ein Strafbefehl des Gerichts mit urteilsähnlicher Wirkung.

4 Am 9. April 1996 beantragte die Staatsanwaltschaft Tübingen durch den Staatsanwalt des Referats 35 nach diesen Vorschriften beim Amtsgericht Reutlingen den Erlaß eines Strafbefehls

"gegen 1. Martino G r a d o...

2. Shahid B a s h i r..."

u. a. wegen des Vergehens des unerlaubten Entfernens vom Ort eines Autounfalls, an dem sie beteiligt waren.

5 Der zuständige Richter beim Amtsgericht Reutlingen war der Ansicht, daß das Weglassen der Anrede "Herr" vor dem Namen der Personen, gegen die sich der Strafbefehlsantrag richte, gegen die Menschenwürde und das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz, die in den Artikeln 1 und 3 des deutschen Grundgesetzes verankert seien, verstosse, und bat den Staatsanwalt um Nachbesserung seines Antrags, allerdings vergeblich.

6 Da der Amtsrichter der Auffassung war, daß er nach der StPO, wonach der Strafrichter dem Antrag der Staatsanwaltschaft zu entsprechen habe, sofern keine rechtlichen Bedenken entgegenstuenden, nicht selbst den Strafbefehl abändern oder ergänzen könne, sah er davon ab, seinen Namen unter den Antrag zu setzen.

7 Das Landgericht Tübingen billigte mit Beschluß vom 30. Juli 1996 die Vorgehensweise des Staatsanwalts und entschied, daß der Amtsrichter von Gesetzes wegen nicht befugt sei, das Verfahren nicht weiterzubetreiben.

8 Unter diesen Umständen hat der zuständige Richter beim Amtsgericht Reutlingen das Verfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofes über folgende Vorlagefrage ausgesetzt:

Ist es mit dem Europäischen Gemeinschaftsrecht vereinbar, oder verstösst es gegen das Diskriminierungsverbot in Artikel 6 des Vertrages über die Europäische Union, daß ein Staatsanwalt in einem von ihm vorgefertigten und anschließend vom Gericht zu unterzeichnenden Strafbefehlsantrag gegenüber einem ausländischen Arbeitnehmer (im Sinne von Artikel 48 - 51 des Vertrages über die Europäische Union) aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Union ausdrücklich die Höflichkeitsanrede "Herr" verweigert - und zwar entgegen der sonst bei der Staatsanwaltschaft üblichen und auch von diesem Staatsanwalt sonst selbst geuebten Praxis?

9 Der Amtsrichter weist in seinem Vorlagebeschluß darauf hin, daß sich die Staatsanwaltschaft weigere, gegenüber den ausländischen Angeschuldigten, von denen einer ein Gemeinschaftsbürger sei, die Höflichkeitsanrede "Herr" zu verwenden, obwohl sie sich dieser Höflichkeitsform in anderen Verfahren, die keine Ausländer beträfen, bediene.

10 Die Staatsanwaltschaft Tübingen macht dagegen geltend, die Formulierung der Strafbefehlsanträge hänge davon ab, ob die Anträge eine oder mehrere Personen beträfen. Denn in Anträgen, die sich nur gegen einen Angeschuldigten richteten, sei die Anrede "Herr" oder "Frau" üblich, während die Verwendung dieser Anrede in Anträgen, die sich gegen mehr als einen Angeschuldigten richteten, sprachlich nicht möglich sei. Diese Praxis sei unabhängig von der Staatsangehörigkeit der Angeschuldigten und entspreche der Praxis anderer deutscher Staatsanwaltschaften und zahlreicher Gerichte.

11 Die Kommission trägt vor, zwischen der erbetenen Auslegung des Gemeinschaftsrechts und der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens bestehe offensichtlich kein Zusammenhang. Ausserdem fielen Fragen des Straf- und Strafprozeßrechts, wie sie sich im Ausgangsverfahren stellten, nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts.

12 Nach ständiger Rechtsprechung kann der Gerichtshof nicht über eine Vorabentscheidungsfrage befinden, wenn offensichtlich ist, daß die von einem nationalen Gericht erbetene Auslegung einer Gemeinschaftsvorschrift in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, oder wenn das Problem hypothetischer Natur ist und der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. Urteile vom 15. Dezember 1995 in der Rechtssache C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921, Randnr. 61, und vom 16. Januar 1997 in der Rechtssache C-134/95, USSL N_ 47 di Biella, Slg. 1997, I-195, Randnr. 12).

13 Darüber hinaus beschränkt sich das in Artikel 6 EG-Vertrag verankerte Verbot jeder Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit auf den Anwendungsbereich dieses Vertrages.

14 Das Amtsgericht Reutlingen hat dem Gerichtshof in seinem Vorlagebeschluß jedoch nichts mitgeteilt, was annehmen ließe, daß sich dieses Gericht im Rahmen eines Verfahrens, das auf eine strafrechtliche Verurteilung wegen eines Vergehens im Zusammenhang mit einem Autounfall abzielt, veranlasst sehen könnte, Vorschriften anzuwenden, mit denen die Beachtung der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen im allgemeinen oder die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer im besonderen gewährleistet werden soll.

15 Selbst wenn sich daher die Praxis der Staatsanwaltschaft Tübingen als diskriminierend gegenüber Gemeinschaftsbürgern erweisen würde, wäre nicht ersichtlich, daß dies Auswirkungen auf das Ausgangsverfahren hätte.

16 Unter diesen Umständen ist nach ständiger Rechtsprechung (vgl. Beschluß vom 16. Mai 1994 in der Rechtssache C-428/93, Monin Automobiles, Slg. 1994, I-1707, Randnr. 15) davon auszugehen, daß sich die dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage nicht auf eine Auslegung des Gemeinschaftsrechts bezieht, die für die vom Gericht zu erlassende Entscheidung objektiv erforderlich ist.

17 Demnach ist der Gerichtshof für die Beantwortung der vom Amtsgericht Reutlingen vorgelegten Frage nicht zuständig.

Kostenentscheidung:

Kosten

18 Die Auslagen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben hat, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Zweite Kammer)

auf die ihm vom Amtsgericht Reutlingen mit Beschluß vom 19. August 1996 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Der Gerichtshof ist für die Beantwortung der vom Amtsgericht Reutlingen vorgelegten Frage nicht zuständig.

Ende der Entscheidung

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