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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 15.01.2002
Aktenzeichen: C-55/00
Rechtsgebiete: EGV


Vorschriften:

EGV Art. 39
EGV Art. 251
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Wenn ein Mitgliedstaat mit einem Drittstaat ein bilaterales Abkommen abschließt, zwingt der fundamentale Grundsatz der Gleichbehandlung diesen Mitgliedstaat, den Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten die gleichen Vorteile zu gewähren, die auch seinen eigenen Staatsangehörigen aufgrund dieses Abkommens zustehen, es sei denn, dass er eine objektive Rechtfertigung für seine Weigerung vorbringen kann. Denn die Mitgliedstaaten müssen bei der Durchführung der Vereinbarungen, die sie aufgrund von internationalen Abkommen eingegangen sind, unabhängig davon, ob es sich um ein Abkommen zwischen Mitgliedstaaten oder zwischen einem Mitgliedstaat und einem oder mehreren Drittstaaten handelt, vorbehaltlich des Artikels 307 EG ihre Verpflichtungen aus dem Gemeinschaftsrecht beachten. Dass die Drittstaaten ihrerseits keine gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung zu beachten haben, ist insoweit unerheblich.

( vgl. Randnrn. 33-34 )

2. Die zuständigen Sozialversicherungsträger eines ersten Mitgliedstaats sind gemäß ihren gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen aus Artikel 39 EG gehalten, für den Erwerb des Anspruchs auf Leistungen bei Alter die von einem Staatsangehörigen eines zweiten Mitgliedstaats in einem Drittstaat zurückgelegten Versicherungszeiten zu berücksichtigen, wenn diese Träger bei Vorliegen derselben Beitragsvoraussetzungen die Berücksichtigung solcher von den eigenen Staatsangehörigen zurückgelegten Zeiten aufgrund eines zwischen dem ersten Mitgliedstaat und dem Drittstaat geschlossenen bilateralen Abkommens anerkennen.

( vgl. Randnr. 39 und Tenor )


Urteil des Gerichtshofes vom 15. Januar 2002. - Elide Gottardo gegen Istituto nazionale della previdenza sociale (INPS). - Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunale ordinario di Roma - Italien. - Vorabentscheidungsersuchen - Artikel 12 EG und 39 Absatz 2 EG - Leistungen bei Alter - Zwischen der Italienischen Republik und der Schweizerischen Eidgenossenschaft geschlossenes Abkommen über Soziale Sicherheit - Nichtberücksichtigung der von einem französischen Staatsangehörigen in der Schweiz zurückgelegten Versicherungszeiten. - Rechtssache C-55/00.

Parteien:

In der Rechtssache C-55/00

betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG vom Tribunale ordinario Rom (Italien) in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit

Elide Gottardo

gegen

Istituto nazionale della previdenza sociale (INPS)

vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 12 EG und 39 Absatz 2 EG

erlässt

DER GERICHTSHOF

unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der Kammerpräsidentin F. Macken und des Kammerpräsidenten S. von Bahr sowie der Richter C. Gulmann, D. A. O. Edward (Berichterstatter), A. La Pergola, L. Sevón, M. Wathelet, V. Skouris, J. N. Cunha Rodrigues und C. W. A. Timmermans,

Generalanwalt: D. Ruiz-Jarabo Colomer

Kanzler: L. Hewlett, Verwaltungsrätin

unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen

- von Frau Gottardo, vertreten durch R. Ciancaglini und M. Rossi, avvocatesse,

- des Istituto nazionale della previdenza sociale (INPS), vertreten durch C. De Angelis und M. Di Lullo, avvocati,

- der italienischen Regierung, vertreten durch U. Leanza als Bevollmächtigten im Beistand von D. Del Gaizo, avvocato dello Stato,

- der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,

- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch P. Hillenkamp, E. Traversa und N. Yerrel als Bevollmächtigte,

aufgrund des Sitzungsberichts,

nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von Frau Gottardo, des Istituto nazionale della previdenza sociale (INPS), der italienischen Regierung und der Kommission in der Sitzung vom 6. März 2001

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 5. April 2001,

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunale ordinario Rom hat mit Beschluss vom 1. Februar 2000, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Februar 2000, gemäß Artikel 234 EG eine Frage nach der Auslegung der Artikel 12 EG und 39 Absatz 2 EG zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der französischen Staatsangehörigen Gottardo und dem Istituto nazionale della previdenza sociale (INPS) über den Anspruch von Frau Gottardo auf eine italienische Altersrente.

Gemeinschaftsregelung

3 Artikel 12 EG bestimmt:

"Unbeschadet besonderer Bestimmungen dieses Vertrags ist in seinem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.

Der Rat kann nach dem Verfahren des Artikels 251 Regelungen für das Verbot solcher Diskriminierungen treffen."

4 Artikel 39 Absätze 1 und 2 EG lautet:

"(1) Innerhalb der Gemeinschaft ist die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährleistet.

(2) Sie umfasst die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen."

5 Die Koordinierung der nationalen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit steht im Zusammenhang mit der Freizügigkeit und ist Gegenstand der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 3096/95 des Rates vom 22. Dezember 1995 (ABl. L 335, S. 10, im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71).

6 Artikel 3 der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt:

"(1) Die Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen und für die diese Verordnung gilt, haben die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates, soweit besondere Bestimmungen dieser Verordnung nichts anderes vorsehen.

(2)...

(3) Der Geltungsbereich der Abkommen über soziale Sicherheit, die aufgrund von Artikel 7 Absatz 2 Buchstabe c) weiterhin anwendbar sind, sowie der Abkommen, die aufgrund von Artikel 8 Absatz 1 abgeschlossen werden, wird auf alle von dieser Verordnung erfassten Personen erstreckt, soweit Anhang III nichts anderes bestimmt."

7 Artikel 1 Buchstaben j Unterabsatz 1 und k der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt:

"Für die Anwendung dieser Verordnung werden die nachstehenden Begriffe wie folgt definiert:

...

j) "Rechtsvorschriften": in jedem Mitgliedstaat die bestehenden und künftigen Gesetze, Verordnungen, Satzungen und alle anderen Durchführungsvorschriften in Bezug auf die in Artikel 4 Absätze 1 und 2 genannten Zweige und Systeme der sozialen Sicherheit oder die in Artikel 4 Absatz 2a erfassten beitragsunabhängigen Sonderleistungen.

...

k) "Abkommen über die soziale Sicherheit": jede zwei- oder mehrseitige Vereinbarung, die auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit für alle oder einen Teil der in Artikel 4 Absätze 1 und 2 bezeichneten Zweige und Systeme ausschließlich zwischen zwei oder mehr Mitgliedstaaten jetzt oder künftig in Kraft ist; jede mehrseitige Vereinbarung, die auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit für alle oder einen Teil der in Artikel 4 Absätze 1 und 2 bezeichneten Zweige und Systeme für mindestens zwei Mitgliedstaaten und einen oder mehrere andere Staaten jetzt oder künftig in Kraft ist; ferner alle im Rahmen dieser Vereinbarungen getroffenen weiteren Vereinbarungen jeder Art..."

Nationale Regelung

8 Die Italienische Republik und die Schweizerische Eidgenossenschaft unterzeichneten am 14. Dezember 1962 in Rom ein bilaterales Abkommen über Soziale Sicherheit sowie sein Schlussprotokoll und gemeinsame Erklärungen (im Folgenden: italienisch-schweizerisches Abkommen oder Abkommen). Dieses Abkommen wurde für die Italienische Republik durch das Gesetz Nr. 1781 vom 31. Oktober 1963 (GURI Nr. 326 vom 17. Dezember 1963) ratifiziert und trat am 1. September 1964 in Kraft.

9 Artikel 1 Absatz 1 des italienisch-schweizerischen Abkommens bestimmt:

"Dieses Abkommen findet Anwendung:

a) In der Schweiz:

...

b) In Italien:

i) auf die Gesetzgebung über die Invaliden-, Alters- und Hinterlassenenversicherung, mit Einschluss der Sonderordnungen, die für bestimmte Kategorien von Arbeitnehmern an Stelle der allgemeinen Ordnung treten;

..."

10 Gemäß Artikel 2 des Abkommens sind "[d]ie schweizerischen und italienischen Staatsangehörigen... in den Rechten und Pflichten aus den in Artikel 1 genannten Gesetzgebungen einander gleichgestellt".

11 Artikel 9, der zu Kapitel 1 - Invaliden-, Alters- und Hinterlassenenversicherung - des Dritten Abschnitts des italienisch-schweizerischen Abkommens gehört, legt fest, was als "Grundsatz der Zusammenrechnung" bezeichnet werden kann. Absatz 1 dieses Artikels bestimmt:

"Hat ein Versicherter auf Grund allein der nach italienischer Gesetzgebung zurückgelegten Versicherungszeiten und gleichgestellten Zeiten gemäß den Vorschriften dieser Gesetzgebung im Falle von Invalidität, Alter oder Tod keinen Anspruch auf Leistungen, so werden für den Erwerb des Anspruchs auf solche Leistungen die in der schweizerischen Alters- und Hinterlassenenversicherung zurückgelegten Versicherungszeiten (Beitragszeiten und gleichgestellte Zeiten) mit den in der italienischen Versicherung zurückgelegten Zeiten zusammengerechnet, soweit sie sich nicht überschneiden."

12 Am 2. April 1980 unterzeichneten die beiden Vertragsstaaten eine Zusatzvereinbarung zu dem Abkommen, die für die Italienische Republik durch das Gesetz Nr. 668 vom 7. Oktober 1981 (GURI Nr. 324 vom 25. November 1981) ratifiziert wurde und am 10. Februar 1982 in Kraft trat. Artikel 3 dieser Zusatzvereinbarung bezweckt, den Grundsatz der Zusammenrechnung, wie er in der vorstehenden Randnummer beschrieben ist, auszuweiten, indem er Artikel 9 Absatz 1 des Abkommens folgenden Unterabsatz hinzufügt:

"Hat ein Versicherter auch unter Berücksichtigung des ersten Unterabsatzes keinen Anspruch auf Leistungen, so werden ebenfalls die Versicherungszeiten angerechnet, die in Drittstaaten, mit denen sowohl die Schweiz als auch Italien ein Abkommen über die Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung abgeschlossen haben, zurückgelegt worden sind."

13 Bei Inkrafttreten dieser Zusatzvereinbarung war die Zusammenrechnung der Versicherungszeiten in Bezug auf folgende Staaten möglich: das Königreich Belgien, das Königreich Dänemark, die Bundesrepublik Deutschland, die Hellenische Republik, das Königreich Spanien, das Großherzogtum Luxemburg, das Königreich der Niederlande, die Republik Österreich, das Königreich Schweden, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland, das Fürstentum Liechtenstein, die Vereinigten Staaten von Amerika und die Bundesrepublik Jugoslawien. Da die Französische Republik mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft kein Abkommen geschlossen hat, können die in Frankreich zurückgelegten Versicherungszeiten im Rahmen des italienisch-schweizerischen Abkommens für den Erwerb des Anspruchs auf Leistungen bei Alter, Tod oder Invalidität nicht berücksichtigt werden.

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

14 Frau Gottardo, von Geburt italienische Staatsangehörige, verzichtete auf diese Staatsangehörigkeit zugunsten der französischen Staatsangehörigkeit infolge der am 7. Februar 1953 in Frankreich geschlossenen Ehe mit einem französischen Staatsangehörigen. Nach den in den Akten enthaltenen Angaben war Frau Gottardo zum damaligen Zeitpunkt verpflichtet, die Staatsangehörigkeit ihres Ehemannes anzunehmen.

15 Frau Gottardo arbeitete nacheinander in Italien, in der Schweiz und in Frankreich und entrichtete in diesen Staaten Sozialversicherungsbeiträge, und zwar in Italien für 100, in der Schweiz für 252 und in Frankreich für 429 Wochen Beschäftigungszeit. Sie bezieht eine schweizerische und eine französische Altersrente, die ihr bewilligt wurden, ohne dass hierfür eine Zusammenrechnung von Versicherungszeiten notwendig gewesen wäre.

16 Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Angaben ergibt sich, dass Frau Gottardo gemäß der italienischen Regelung über soziale Sicherheit eine italienische Altersrente verlangt. Selbst wenn die italienischen Behörden jedoch die in Frankreich zurückgelegten Versicherungszeiten gemäß Artikel 45 der Verordnung Nr. 1408/71 berücksichtigen würden, würde sie aufgrund der Zusammenrechnung der italienischen und der französischen Zeiten nicht die Mindestbeitragszeit erreichen, die die italienische Regelung für den Erwerb eines Anspruchs auf eine italienische Rente voraussetzt. Frau Gottardo hätte nur dann Anspruch auf eine italienische Altersrente, wenn darüber hinaus nach dem Grundsatz der Zusammenrechnung des Artikels 9 Absatz 1 des italienisch-schweizerischen Abkommens die in der Schweiz zurückgelegten Versicherungszeiten berücksichtigt würden.

17 Der Antrag auf Altersrente, den Frau Gottardo am 3. September 1996 gestellt hatte, wurde vom INPS mit Bescheid vom 14. November 1997 mit der Begründung abgelehnt, dass sie französische Staatsangehörige sei und folglich das italienisch-schweizerische Abkommen auf sie keine Anwendung finde. Ihr Widerspruch gegen diesen Bescheid wurde mit Bescheid des INPS vom 9. Juni 1998 mit derselben Begründung zurückgewiesen.

18 Frau Gottardo erhob daraufhin Klage beim Tribunale ordinario Rom und machte geltend, dass das INPS ihr, da sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sei, unter den gleichen Voraussetzungen wie den eigenen Staatsangehörigen einen Rentenanspruch zuerkennen müsse.

19 Da sich das Tribunale ordinario Rom fragt, ob die Ablehnung des Antrags von Frau Gottardo durch das INPS, die ausschließlich auf ihrer französischen Staatsangehörigkeit beruhe, nicht gegen Artikel 12 EG oder Artikel 39 EG verstößt, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Hat ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist und die Entrichtung von Sozialversicherungsbeiträgen an den zuständigen Träger eines anderen Mitgliedstaats nachweisen kann, einen Anspruch auf Feststellung seiner Altersrente unter Kumulierung seiner an den Sozialversicherungsträger eines Drittstaats entrichteten Beiträge aufgrund eines Abkommens, das der Mitgliedstaat mit diesem Drittstaat geschlossen hat und das er zugunsten seiner Staatsangehörigen anwendet?

Würdigung durch den Gerichtshof

20 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die zuständigen Sozialversicherungsträger eines ersten Mitgliedstaats (im Ausgangsverfahren der Italienischen Republik) gemäß ihren gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen aus Artikel 12 EG oder Artikel 39 EG gehalten sind, für den Erwerb des Anspruchs auf Leistungen bei Alter die von einem Staatsangehörigen eines zweiten Mitgliedstaats (im Ausgangsverfahren der Französischen Republik) in einem Drittstaat (im Ausgangsverfahren in der Schweizerischen Eidgenossenschaft) zurückgelegten Versicherungszeiten zu berücksichtigen, wenn diese Träger bei Vorliegen derselben Beitragsvoraussetzungen die Berücksichtigung solcher von den eigenen Staatsangehörigen zurückgelegten Zeiten aufgrund eines zwischen dem ersten Mitgliedstaat und dem Drittstaat geschlossenen bilateralen Abkommens anerkennen.

21 Nach Artikel 12 EG entfaltet das Diskriminierungsverbot seine Wirkungen im "Anwendungsbereich [des Vertrags]" "unbeschadet besonderer Bestimmungen dieses Vertrags". Mit dieser Wendung verweist Artikel 12 EG auf andere Bestimmungen des Vertrages, in denen das allgemeine Verbot des Artikels 12 für besondere Anwendungsfälle konkretisiert ist. So verhält es sich u. a. auch mit den Bestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Urteil vom 2. Februar 1989 in der Rechtssache 186/87, Cowan, Slg. 1989, 195, Randnr. 14).

Zum Gleichbehandlungsgrundsatz des Vertrages

22 Da Frau Gottardo als Arbeitnehmerin in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten unterrichtet hat, hat sie ihr Recht auf Freizügigkeit ausgeübt. Ihr Antrag auf Gewährung einer Altersrente unter Kumulierung der von ihr zurückgelegten Versicherungszeiten fällt sowohl in den persönlichen als auch in den sachlichen Anwendungsbereich des Artikels 39 EG.

23 Aus dem Vorlagebeschluss geht hervor, dass die zuständigen italienischen Behörden den eigenen Staatsangehörigen, wenn sie Sozialversicherungsbeiträge sowohl an den italienischen als auch an den schweizerischen Sozialversicherungsträger entrichtet haben und sich somit in der gleichen Lage befinden wie Frau Gottardo, die Möglichkeit gewähren, ihre Altersrente unter Zusammenrechnung der italienischen und der schweizerischen Versicherungszeiten feststellen zu lassen.

24 Wie das INPS in seinen Erklärungen eingeräumt hat, würde Frau Gottardo, wenn sie die italienische Staatsangehörigkeit behalten hätte, die Voraussetzungen für den Erwerb des Anspruchs auf die italienische Altersrente erfuellen. Das INPS bestreitet nicht, dass die Ablehnung des Antrags nur durch die französische Staatsangehörigkeit von Frau Gottardo diktiert wurde. Daher ist unstreitig, dass es sich um eine unterschiedliche Behandlung handelt, die allein aufgrund der Staatsangehörigkeit erfolgt ist.

25 Die italienische Regierung und das INPS sind jedoch der Auffassung, dass die Weigerung des INPS, Frau Gottardo unter Zusammenrechnung ihrer sowohl in Italien und Frankreich als auch in der Schweiz zurückgelegten Versicherungszeiten eine Altersrente zu gewähren, dadurch gerechtfertigt sei, dass der Abschluss eines bilateralen Abkommens durch nur einen Mitgliedstaat, die Italienische Republik, mit einem Drittstaat, der Schweizerischen Eidgenossenschaft, nicht in den Zuständigkeitsbereich der Gemeinschaft falle.

26 Die italienische Regierung verweist dazu auf den Wortlaut von Artikel 3 der Verordnung Nr. 1408/71 im Licht der Begriffsbestimmungen des Artikels 1 Buchstaben j und k dieser Verordnung, wie sie vom Gerichtshof im Urteil vom 2. August 1993 in der Rechtssache C-23/92 (Grana-Novoa, Slg. 1993, I-4505) ausgelegt worden sind.

27 In der Rechtssache Grana-Novoa hatte die Klägerin, eine spanische Staatsangehörige, erst in der Schweiz und dann in Deutschland eine versicherungspflichtige Tätigkeit ausgeübt. Die deutschen Behörden hatten ihr eine deutsche Rente wegen Erwerbsunfähigkeit mit der Begründung verweigert, dass die Anzahl ihrer Beschäftigungsjahre in Deutschland nicht ausreiche. Frau Grana-Novoa wollte sich, ebenso wie Frau Gottardo im Ausgangsverfahren, auf die Bestimmungen eines Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft berufen, dessen Anwendung auf deutsche und schweizerische Staatsangehörige beschränkt war, damit die von ihr in der Schweiz zurückgelegten Versicherungszeiten berücksichtigt würden.

28 Mit der ersten Frage des Bundessozialgerichts wurde der Gerichtshof gebeten, sich zur Auslegung des Begriffes "Rechtsvorschriften" in Artikel 1 Buchstabe j der Verordnung Nr. 1408/71 zu äußern. Der Gerichtshof hat entschieden, dass ein Abkommen zwischen nur einem Mitgliedstaat und einem oder mehreren Drittstaaten nicht unter den Begriff der Rechtsvorschriften im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 fällt. Die zweite Frage des Bundessozialgerichts, die den Grundsatz der Gleichbehandlung betraf, wurde nur für den Fall der Bejahung der ersten Frage gestellt, so dass der Gerichtshof sie nicht geprüft hat.

29 Da die Frage in der vorliegenden Rechtssache auf die Anwendung der Grundsätze abzielt, die sich unmittelbar aus den Bestimmungen des Vertrages ergeben, ist auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes zu bilateralen Abkommen hinzuweisen.

30 Hinsichtlich eines zwischen zwei Mitgliedstaaten geschlossenen Kulturabkommens, das die Gewährung von Stipendien den Staatsangehörigen dieser beiden Staaten vorbehielt, hat der Gerichtshof entschieden, dass Artikel 7 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2) die Behörden der beiden Mitgliedstaaten verpflichtet, die Gewährung der in dem bilateralen Abkommen vorgesehenen Ausbildungsförderung auf die in ihrem Hoheitsgebiet niedergelassenen Arbeitnehmer der Gemeinschaft zu erstrecken (Urteil vom 27. September 1988 in der Rechtssache 235/87, Matteucci, Slg. 1988, 5589, Randnr. 16).

31 Der Gerichtshof hat außerdem entschieden, dass, wenn die Anwendung einer Gemeinschaftsvorschrift durch eine Maßnahme behindert werden kann, die im Rahmen der Durchführung eines - auch außerhalb des Anwendungsbereichs des Vertrages geschlossenen - bilateralen Abkommens getroffen wurde, jeder Mitgliedstaat verpflichtet ist, die Anwendung dieser Vorschrift zu erleichtern und zu diesem Zweck jeden anderen Mitgliedstaat zu unterstützen, dem eine gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung obliegt (Urteil Matteucci, Randnr. 19).

32 Bezüglich eines bilateralen Doppelbesteuerungsabkommens zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittstaat hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass die direkten Steuern zwar in die alleinige Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, dass sich diese Staaten jedoch nicht über die Gemeinschaftsvorschriften hinwegsetzen können, sondern ihre Zuständigkeit unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts ausüben müssen. Er hat daher entschieden, dass der Grundsatz der Inländerbehandlung den an einem solchen Abkommen beteiligten Mitgliedstaat verpflichtet, die in dem Abkommen vorgesehenen Vorteile den Betriebsstätten der Gesellschaften mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat unter den gleichen Voraussetzungen wie den Gesellschaften mit Sitz in dem an dem Abkommen beteiligten Mitgliedstaat zu gewähren (Urteil vom 21. September 1999 in der Rechtssache C-307/97, Saint-Gobain ZN, Slg. 1999, I-6161, Randnrn. 57 bis 59).

33 Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich, dass die Mitgliedstaaten bei der Durchführung der Vereinbarungen, die sie aufgrund von internationalen Abkommen eingegangen sind, unabhängig davon, ob es sich um ein Abkommen zwischen Mitgliedstaaten oder zwischen einem Mitgliedstaat und einem oder mehreren Drittstaaten handelt, vorbehaltlich des Artikels 307 EG ihre Verpflichtungen aus dem Gemeinschaftsrecht beachten müssen. Dass die Drittstaaten ihrerseits keine gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung zu beachten haben, ist insoweit unerheblich.

34 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass, wenn ein Mitgliedstaat mit einem Drittstaat ein bilaterales Abkommen über die soziale Sicherheit abschließt, das die Berücksichtigung der in diesem Drittstaat zurückgelegten Versicherungszeiten für den Erwerb des Anspruchs auf Leistungen bei Alter vorsieht, der fundamentale Grundsatz der Gleichbehandlung diesen Mitgliedstaat zwingt, den Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten die gleichen Vorteile zu gewähren, die auch seinen eigenen Staatsangehörigen aufgrund dieses Abkommens zustehen, es sei denn, dass er eine objektive Rechtfertigung für seine Weigerung vorbringen kann.

35 Daraus folgt ebenfalls, dass die Auslegung des Begriffes "Rechtsvorschriften" in Artikel 1 Buchstabe j der Verordnung Nr. 1408/71 durch den Gerichtshof nicht dazu führen kann, dass die jedem Mitgliedstaat obliegende Verpflichtung, den in Artikel 39 EG vorgesehenen Grundsatz der Gleichbehandlung zu beachten, beeinträchtigt wird.

Zum Vorliegen einer objektiven Rechtfertigung

36 Die Gefährdung des Gleichgewichts und der Gegenseitigkeit eines bilateralen Abkommens zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittstaat kann zwar eine objektive Rechtfertigung für die Weigerung des an diesem Abkommen beteiligten Mitgliedstaats darstellen, die Vorteile, die seine eigenen Staatsangehörigen aus diesem Abkommen ziehen, auf die Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten zu erstrecken (in diesem Sinne Urteil Saint-Gobain ZN, Randnr. 60).

37 Das INPS und die italienische Regierung haben jedoch nicht dargetan, dass im Ausgangsverfahren ihre gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen die sich aus den Vereinbarungen, die die Italienische Republik mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft getroffen hat, ergebenden Verpflichtungen in Frage stellen würden. Denn würde die Italienische Republik die Berücksichtigung der in der Schweiz zurückgelegten Versicherungszeiten für den Erwerb des Anspruchs auf italienische Leistungen bei Alter einseitig auf Arbeitnehmer erstrecken, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, so würde dies in keiner Weise die Rechte der Schweizerischen Eidgenossenschaft aus dem italienisch-schweizerischen Abkommen beeinträchtigen oder der Eidgenossenschaft neue Verpflichtungen auferlegen.

38 Die einzigen Einwände, die das INPS und die italienische Regierung geltend machen, um ihre Weigerung zu rechtfertigen, die Zusammenrechnung der von Frau Gottardo zurückgelegten Versicherungszeiten anzuerkennen, betreffen die mögliche Erhöhung ihrer finanziellen Lasten und die mit der Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft verbundenen administrativen Schwierigkeiten. Diese Gründe können die Nichtbeachtung der sich aus dem Vertrag ergebenden Verpflichtungen durch die Italienische Republik nicht rechtfertigen.

39 Auf die Frage des vorlegenden Gerichts ist daher zu antworten, dass die zuständigen Sozialversicherungsträger eines ersten Mitgliedstaats gemäß ihren gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen aus Artikel 39 EG gehalten sind, für den Erwerb des Anspruchs auf Leistungen bei Alter die von einem Staatsangehörigen eines zweiten Mitgliedstaats in einem Drittstaat zurückgelegten Versicherungszeiten zu berücksichtigen, wenn diese Träger bei Vorliegen derselben Beitragsvoraussetzungen die Berücksichtigung solcher von den eigenen Staatsangehörigen zurückgelegten Zeiten aufgrund eines zwischen dem ersten Mitgliedstaat und dem Drittstaat geschlossenen bilateralen Abkommens anerkennen.

Kostenentscheidung:

Kosten

40 Die Auslagen der italienischen und der österreichischen Regierung sowie der Kommission, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Tribunale ordinario Rom mit Beschluss vom 1. Februar 2000 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Die zuständigen Sozialversicherungsträger eines ersten Mitgliedstaats sind gemäß ihren gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen aus Artikel 39 EG gehalten, für den Erwerb des Anspruchs auf Leistungen bei Alter die von einem Staatsangehörigen eines zweiten Mitgliedstaats in einem Drittstaat zurückgelegten Versicherungszeiten zu berücksichtigen, wenn diese Träger bei Vorliegen derselben Beitragsvoraussetzungen die Berücksichtigung solcher von den eigenen Staatsangehörigen zurückgelegten Zeiten aufgrund eines zwischen dem ersten Mitgliedstaat und dem Drittstaat geschlossenen bilateralen Abkommens anerkennen.

Ende der Entscheidung

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