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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 07.06.1988
Aktenzeichen: 20/85
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag
Vorschriften:
EWG-Vertrag Art. 177 | |
EWG-Vertrag Art. 51 |
Die Nummer 15 des Anhangs VI Abschnitt C der Verordnung Nr. 1408/71 ist insofern ungültig, als nach ihr dann, wenn nach den deutschen Rechtsvorschriften für den Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit oder Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit oder Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit auf den bisherigen Beruf abzustellen ist, bei der Prüfung dieses Anspruchs nur nach deutschen Rechtsvorschriften versicherungspflichtige Beschäftigungen berücksichtigt werden.
Auch wenn diese Vorschrift nämlich unabhängig von der Staatsangehörigkeit des betreffenden Arbeitnehmers gilt, führt sie in Verbindung mit den deutschen Rechtsvorschriften zur Benachteiligung anderer als deutscher Arbeitnehmer, die zunächst in einem anderen Mitgliedstaat und danach in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt waren, da sie diese daran hindert, sich im Hinblick auf die Gewährung einer Rente auf eine in einem anderen Mitgliedstaat erworbene höhere Qualifikation zu berufen, als sie ihnen in der Bundesrepublik Deutschland zuerkannt wird. Aufgrund dessen ist eine solche Vorschrift nicht geeignet, die durch Artikel 48 EWG-Vertrag vorgeschriebene Gleichbehandlung zu gewährleisten und hat daher im Rahmen der Koordinierung der nationalen Rechtsvorschriften, die in Artikel 51 EWG-Vertrag vorgesehen ist, um die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft zu fördern, keinen Platz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 7. JUNI 1988. - MARIO ROVIELLO GEGEN LANDESVERSICHERUNGSANSTALT SCHWABEN. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG, VORGELEGT VOM BUNDESSOZIALGERICHT. - SOZIALE SICHERHEIT - RENTE WEGEN BERUFS- ODER ERWERBSUNFAEHIGKEIT. - RECHTSSACHE 20/85.
Entscheidungsgründe:
1 Das Bundessozialgericht hat mit Beschluß vom 28. November 1984, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Januar 1985, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag drei Fragen nach der Auslegung des Anhangs VI Abschnitt C Nummer 15 der Verordnung ( EWG ) Nr. 1408/71 des Rates über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu - und abwandern ( ABl. L 149, S. 1 ), in der Fassung der Verordnung ( EWG ) Nr. 2000/83 des Rates vom 2. Juni 1983 ( ABl. L 230, S. 1 ) ( im folgenden : Nummer 15 ) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit über die Weigerung der Beklagten des Ausgangsverfahrens, dem Kläger des Ausgangsverfahrens eine Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.
3 Wie sich aus den Akten ergibt, erhält ein Versicherter gemäß § 1246 der Reichsversicherungsordnung Rente wegen Berufsunfähigkeit, wenn a ) von den letzten 60 Kalendermonaten vor Eintritt der Berufsunfähigkeit mindestens 36 Kalendermonate mit Beiträgen für eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit belegt sind, b ) eine Wartezeit von mindestens 60 Versicherungsmonaten erfuellt ist und c ) die Erwerbsfähigkeit auf weniger als die Hälfte, bezogen auf die bisher ausgeuebte Berufstätigkeit, herabgesunken ist.
4 Was die Feststellung einer Minderung der Erwerbsfähigkeit angeht, ist ein Schema zur Einstufung der Antragsteller im Hinblick auf die Verweisung auf eine andere Tätigkeit entwickelt worden. Danach werden folgende vier Kategorien von Arbeitnehmern unterschieden : a ) Vorarbeiter bzw. besonders hoch qualifizierter Arbeiter, b ) Facharbeiter, c ) angelernter Arbeiter und d ) ungelernter Arbeiter. Eine Berufsunfähigkeitsrente kann verweigert werden, wenn es der Grad der Berufsunfähigkeit des Antragstellers zulässt, ihn auf eine Beschäftigung zu verweisen, die zu den Tätigkeiten gehört, die für die seiner bisherigen Berufstätigkeit unmittelbar nachgeordnete Tätigkeitsstufe typisch ist. Kann er aufgrund seiner Berufsunfähigkeit nur auf eine Beschäftigung auf einer nicht unmittelbar nachgeordneten Tätigkeitsstufe oder kann er überhaupt nicht auf eine Beschäftigung verwiesen werden, wird ihm eine Rente gewährt.
5 Wie sich aus den Akten ergibt, hat dieses Einstufungsschema die zuständigen deutschen Träger häufig zu schwierigen und langwierigen Untersuchungen im Herkunftsstaat veranlasst, um die Qualifikation, die von Wanderarbeitnehmern, die in Ausübung einer Tätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland berufsunfähig geworden sind, geltend gemacht wird, genau bestimmen zu können. Diese Schwierigkeiten haben anscheinend dazu geführt, daß in Anhang VI Abschnitt C der Verordnung Nr. 1408/71 durch die Verordnung Nr. 2000/83 folgende Nummer 15 eingefügt wurde :
" Ist nach den deutschen Rechtsvorschriften für den Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit oder Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit oder Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit auf den bisherigen Beruf abzustellen, so werden bei der Prüfung dieses Anspruchs nur nach deutschen Rechtsvorschriften versicherungspflichtige Beschäftigungen berücksichtigt."
6 Der Kläger des Ausgangsverfahrens, ein italienischer Staatsangehöriger, übte nach seinen Angaben in Italien von 1960 bis 1974 eine versicherungspflichtige Tätigkeit als Fliesenleger aus und war dort anschließend selbständig tätig. Später begab er sich in die Bundesrepublik Deutschland und arbeitete dort mit Unterbrechungen vom 4. Mai 1976 bis Juni 1980, wobei er der Pflichtversicherung unterlag. Er legte somit in diesem Land eine versicherungspflichtige Beschäftigungszeit von 48 Monaten zurück. Nachdem sein Antrag auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitsrente abgelehnt worden war, erhob er Klage; das Landessozialgericht stellte jedoch fest, bei Zugrundelegung der deutschen Rechtsvorschriften verfüge der Kläger nicht über einen Berufsabschluß als Fliesenleger und habe diese Tätigkeit auch nicht dauernd ausgeuebt; er sei daher nicht als Facharbeiter einzustufen, sondern könne lediglich als angelernter Arbeiter angesehen werden. Aufgrund des vorstehend beschriebenen Einstufungsschemas könne er daher auf eine Tätigkeit als ungelernter Arbeiter, der der Kategorie des angelernten Arbeiters unmittelbar nachgeordneten Kategorie, verwiesen werden und habe somit keinen Anspruch auf eine Rente. Der Kläger legte hiergegen Revision beim Bundessozialgericht ein.
7 Nach Auffassung des Bundessozialgerichts wirft der Rechtsstreit Fragen der Auslegung des Gemeinschaftsrechts auf; es hat daher das Verfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofes über folgende Vorlagefragen ausgesetzt :
"1 ) Ist Anhang VI Abschnitt C Nummer 15 der Verordnung ( EWG ) Nr. 1408/71 des Rates in der Fassung der Verordnung ( EWG ) Nr. 2000/83 ( ABl. L 230 vom 22.8.1983, S. 1 ) und der Verordnung ( EWG ) Nr. 2001/83 ( ABl. L 230 vom 22.8.1983, S. 6 ) bei der Prüfung eines Anspruchs auf Rente wegen Berufsunfähigkeit so auszulegen, daß auf den bisherigen Beruf eines Versicherten nur dann abzustellen ist, wenn die zur Erlangung dieses Rentenanspruchs erforderliche Versicherungszeit allein in nach deutschen Rechtsvorschriften versicherungspflichtigen Beschäftigungen zurückgelegt ist?
2 ) Für den Fall der Bejahung der Frage 1 :
Ist diese Regelung auch bei Versicherungsfällen vor der Geltung dieser Verordnung ( 1. Juli 1982 ) anzuwenden?
3 ) Für den Fall der Verneinung der Frage 2 :
Bewirkt diese Regelung, daß der noch nicht festgestellte Rentenanspruch aus einem solchen Versicherungsfall auf die Zeit bis zu ihrer Geltung ( 1. Juli 1982 ) zu begrenzen ist?"
8 Wegen weiterer Einzelheiten der einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften, des Sachverhalts, des Verfahrens und der beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.
9 Zunächst ist festzustellen, daß, wie bereits vom Bundessozialgericht dargelegt, die Nummer 15 in die Verordnung Nr. 2000/83 eingefügt wurde, nachdem ein Vorschlag, der diese Bestimmung nicht enthielt, dem Wirtschafts - und Sozialausschuß sowie dem Parlament vorgelegt worden war. Der Ausschuß der Ständigen Vertreter soll die Nummer 15 hinzugefügt und hierdurch den vom Parlament gebilligten Text geändert haben. Diese Fassung soll schließlich vom Rat ohne erneute Vorlage an das Parlament angenommen worden sein. Der Kläger des Ausgangsverfahrens ist der Auffassung, die Nummer 15 verletze daher wesentliche Formvorschriften und sei somit ungültig.
10 Da in den beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen die Frage der Vereinbarkeit der Nummer 15 mit Artikel 51 EWG-Vertrag aufgeworfen wird, ist diese Frage vorweg zu prüfen.
11 Der Kläger des Ausgangsverfahrens hält die Nummer 15 für ungültig, da sie dahin auszulegen sei, daß nur eine in der Bundesrepublik Deutschland versicherte Beschäftigung bei der Prüfung des Anspruchs auf eine Berufsunfähigkeitsrente berücksichtigt werde; damit verstosse diese Bestimmung gegen Artikel 51 EWG-Vertrag. Was speziell die Wartefrist angehe, die, wie oben dargestellt Voraussetzung für den Erwerb des Rentenanspruchs sei, so bewirke diese, daß nur die Versicherungszeiten berücksichtigt würden, die in einer den deutschen Rechtsvorschriften unterliegenden Beschäftigung zurückgelegt worden seien.
12 Die Beklagte des Ausgangsverfahrens und die Kommission tragen demgegenüber vor, die Nummer 15 sei dahin auszulegen, daß sie nur für die Feststellung der bisher vom Antragsteller ausgeuebten Berufstätigkeit gelte und vorschreibe, daß für diese Feststellung ausschließlich auf die in der Bundesrepublik Deutschland geleistete Arbeit abzustellen sei.
13 Der vom Kläger des Ausgangsverfahrens vertretenen Auslegung kann nicht gefolgt werden. Die Nummer 15 ist nämlich entsprechend ihrem Wortlaut dahin auszulegen, daß dann, wenn nach den deutschen Rechtsvorschriften für die Eröffnung eines Anspruchs auf Berufsunfähigkeitsrente oder auf eine andere von dieser Bestimmung erfasste Rente auf die Art der zuvor erreichten beruflichen Qualifikation abzustellen ist, bei der Prüfung dieser Qualifikation nur Beschäftigungen berücksichtigt werden können, die nach diesen Rechtsvorschriften versicherungspflichtig sind.
14 Damit stellt sich die Frage, ob die Nummer 15 in dieser Auslegung mit Artikel 51 EWG-Vertrag vereinbar ist. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß, wie der Gerichtshof wiederholt festgestellt hat, der Grundsatz der Gleichbehandlung nicht nur offenkundige Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbietet, sondern auch alle verschleierten Formen der Diskriminierung, die durch Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu demselben Ergebnis führen.
15 Hierzu ist erstens darauf hinzuweisen, daß das in der Nummer 15 verwendete Merkmal, auch wenn es unabhängig von der Staatsangehörigkeit des betreffenden Arbeitnehmers gilt, seiner Natur nach im wesentlichen Wanderarbeitnehmer aus anderen Mitgliedstaaten erfasst, die zunächst in diesen Staaten und danach in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt waren.
16 Zweitens ist festzustellen, daß die Bestimmungen der Nummer 15 in Verbindung mit den deutschen Rechtsvorschriften zur Benachteiligung bestimmter Wanderarbeitnehmer dieser Gruppe führen, die in einem anderen Mitgliedstaat eine höhere Qualifikation erreicht hatten als in der Bundesrepublik Deutschland, die sich auf diese berufliche Qualifikation aber nicht berufen können und denen daher möglicherweise eine Rente verweigert wird, auf die sie ohne die Nummer 15 Anspruch gehabt hätten. Der Umstand, daß andere Wanderarbeitnehmer, die sich in einer anderen Lage befinden, möglicherweise durch die Nummer 15 begünstigt werden, kann die vorstehend beschriebene Diskriminierung weder beseitigen noch aufwiegen.
17 Unter diesen Umständen ist festzustellen, daß die Nummer 15 nicht geeignet ist, die durch Artikel 48 EWG-Vertrag vorgeschriebene Gleichbehandlung zu gewährleisten, und daher im Rahmen der Koordinierung der nationalen Rechtsvorschriften, die in Artikel 51 EWG-Vertrag vorgesehen ist, um die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft zu fördern, keinen Platz hat.
18 Daraus folgt, daß die Nummer 15 des Anhangs VI Abschnitt C der Verordnung Nr. 1408/71 insofern ungültig ist, als nach ihr dann, wenn nach den deutschen Rechtsvorschriften für den Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit oder Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit oder Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit auf den bisherigen Beruf abzustellen ist, bei der Prüfung dieses Anspruchs nur nach deutschen Rechtsvorschriften versicherungspflichtige Beschäftigungen berücksichtigt werden.
19 Da die Ungültigkeit der Nummer 15 festgestellt worden ist, bedarf es weder einer Prüfung dieser Bestimmung im Hinblick darauf, ob bei ihrem Erlaß die wesentlichen Formvorschriften eingehalten worden sind, noch einer Beantwortung der vom nationalen Gericht gestellten Fragen nach ihrer Auslegung.
Kostenentscheidung:
Kosten
20 Die Auslagen des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Tenor:
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm vom Bundessozialgericht mit Beschluß vom 28. November 1984 vorgelegten Fragen für Recht erkannt :
Die Nummer 15 des Anhangs VI Abschnitt C der Verordnung Nr. 1408/71 ist insofern ungültig, als nach ihr dann, wenn nach den deutschen Rechtsvorschriften für den Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit oder Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit oder Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit auf den bisherigen Beruf abzustellen ist, bei der Prüfung dieses Anspruchs nur nach deutschen Rechtsvorschriften versicherungspflichtige Beschäftigungen berücksichtigt werden.
Ende der Entscheidung
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