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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 26.02.1991
Aktenzeichen: C-119/89
Rechtsgebiete: EWGV


Vorschriften:

EWGV Art. 95
EWGV Art. 169
EWGV Art. 99
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Ein Mitgliedstaat verstösst gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 95 EWG-Vertrag, wenn er nicht die erforderlichen Maßnahmen trifft, um Personen, die nicht mehrwertsteuerpflichtig sind und schon in einem anderen Mitgliedstaat mit der Mehrwertsteuer belastete Gegenstände ins Inland einführen, ohne daß sie die Erstattung dieser Steuer haben erlangen können, das Recht zu gewähren, von der bei der Einfuhr geschuldeten Mehrwertsteuer den Betrag der im Ausfuhrmitgliedstaat entrichteten Mehrwertsteuer abzuziehen, der im Zeitpunkt der Einfuhr noch im Wert der Gegenstände enthalten ist, während die Lieferung gleichartiger Waren durch Nichtsteuerpflichtige im Inland nicht der Mehrwertsteuer unterliegt.

Die uneingeschränkte Anwendung des Diskriminierungsverbots des Artikels 95 wird nämlich nicht schon dadurch gewährleistet, daß die Berufung auf diese unmittelbare Wirkung entfaltende Vorschrift vor den nationalen Gerichten möglich ist, da dies nur eine Mindestgarantie darstellt, die nicht die Schwierigkeiten beseitigt, die im Hinblick auf die Erfordernisse der Rechtssicherheit daraus erwachsen, daß im Rahmen des nationalen Rechts Vorschriften aufrechterhalten bleiben, die nicht die Berücksichtigung dieses Restbetrags der Steuer vorsehen.

Die zur Verteidigung gegen die Feststellung einer solchen Vertragsverletzung vorgebrachten Einwände bezueglich der Rechtsnatur der Mehrwertsteuer und der Verteilung des Steueraufkommens zwischen den Mitgliedstaaten greifen nicht durch. Denn zum einen stellt der im Einfuhrmitgliedstaat vorgenommene Abzug desjenigen Betrags der im Ausfuhrmitgliedstaat entrichteten Mehrwertsteuer, der im Zeitpunkt der Einfuhr noch im Wert der Gegenstände enthalten ist, keineswegs die Rechtsnatur der Mehrwertsteuer als Verbrauchsteuer in Frage, da eine solche Qualifizierung von der Verteilung der Abgabenbelastung zwischen Ausfuhr- und Einfuhrmitgliedstaat unabhängig ist. Zum anderen ist es zwar Sache des Gemeinschaftsgesetzgebers, eine gemeinsame Mehrwertsteuerregelung herbeizuführen, die vollkommen wettbewerbsneutral ist sowie eine vollständige Entlastung der fraglichen Einfuhren im Ausfuhrland und eine gerechte Verteilung des Steueraufkommens zwischen den Mitgliedstaaten einschließt; solange jedoch eine solche Regelung nicht getroffen worden ist, verbietet es Artikel 95 EWG-Vertrag, daß ein Mitgliedstaat seine Mehrwertsteuerregelung auf eingeführte Waren in einer Weise anwendet, die im Widerspruch zum Verbot der abgabenrechtlichen Diskriminierung steht.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 26. FEBRUAR 1991. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN KOENIGREICH SPANIEN. - MEHRWERTSTEUER - EINFUHR - NICHTSTEUERPFLICHTIGE - ABZUG DES RESTBETRAGS DER IM AUSFUHRMITGLIEDSTAAT ENTRICHTETEN MEHRWERTSTEUER. - RECHTSSACHE C-119/89.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 11. April 1989 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß das Königreich Spanien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 95 EWG-Vertrag verstossen hat, daß es

nicht die erforderlichen Maßnahmen getroffen hat, um Personen, die nicht mehrwertsteuerpflichtig sind und schon in einem anderen Mitgliedstaat mit der Mehrwertsteuer belastete Gegenstände nach Spanien einführen, ohne daß sie die Erstattung dieser Steuer haben erlangen können, das Recht zu gewähren, von der bei der Einfuhr geschuldeten Mehrwertsteuer den Betrag der im Ausfuhrmitgliedstaat entrichteten Mehrwertsteuer abzuziehen, der im Zeitpunkt der Einfuhr noch im Wert der Gegenstände enthalten ist.

2 Die Kommission trägt vor, dadurch, daß das Königreich Spanien keine Vorschriften erlassen habe, die Nichtsteuerpflichtigen gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofes den genannten Abzug gestatteten, werde eine im Widerspruch zum Grundsatz der Rechtssicherheit stehende mehrdeutige tatsächliche Lage geschaffen und eine Doppelbesteuerung ermöglicht, die insofern mit dem in Artikel 95 niedergelegten unmittelbar anwendbaren Grundsatz der abgabenrechtlichen Gleichbehandlung in seiner Auslegung durch den Gerichtshof unvereinbar sei, als die Lieferung gleichartiger Waren durch Nichtsteuerpflichtige innerhalb Spaniens nicht der Mehrwertsteuer unterliege. Weder die Existenz eines Vorschlags für eine sechzehnte Richtlinie des Rates zur Einführung einer gemeinsamen Regelung für bestimmte Gegenstände, die endgültig mit der Mehrwertsteuer belastet worden sind und von einem Endverbraucher eines Mitgliedstaats aus einem anderen Mitgliedstaat eingeführt werden (ABl. 1986 C 96, S. 5), noch die Unterschiede zwischen den Abgabenregelungen der Mitgliedstaaten, auf deren Beseitigung Artikel 99 abziele, befreiten das Königreich Spanien von der Pflicht zur Beachtung des Artikels 95.

3 Das Königreich Spanien entgegnet, sein nationales Recht stehe mit Artikel 95 EWG-Vertrag im Einklang. Das Recht zum Abzug im Einfuhrstaat laufe der Rechtsnatur der Mehrwertsteuer als einer Verbrauchsteuer und einer ausgewogenen Verteilung des Steueraufkommens zwischen Ausfuhrmitgliedstaat und

Einfuhrmitgliedstaat zuwider. Die Gegenstände müssten statt dessen bei der Ausfuhr von der Steuer befreit und bei der Einfuhr auf der Grundlage des Werts des Gegenstands im Zeitpunkt der Grenzueberschreitung besteuert werden. Die Kommission trage auch nicht der Existenz anderer indirekter Steuern Rechnung, was Wettbewerbsverzerrungen zum Nachteil der Mitgliedstaaten hervorrufe, die wie das Königreich Spanien keine solchen Steuern eingeführt hätten.

4 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, des Verfahrens und des Vorbringens der Parteien wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteil dies erfordert.

5 Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß Artikel 95 nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes ein Verbot der abgabenrechtlichen Diskriminierung eingeführter Waren enthält, das unmittelbare Wirkungen erzeugt und für die einzelnen Rechte begründet, die die innerstaatlichen Gerichte zu schützen haben (siehe insbesondere Urteil vom 5. Mai 1982 in der Rechtssache 15/81, Schul I, Slg. 1982, 1409, Randnr. 46).

6 Ebenfalls nach ständiger Rechtsprechung (siehe Urteile vom 21. Mai 1985 in der Rechtssache 47/84, Schul II, Slg. 1985, 1491, und vom 25. Februar 1988 in der Rechtssache 299/86, Drexl, Slg. 1988, 1213) ist Artikel 95 EWG-Vertrag dahin auszulegen, daß bei der Berechnung der Mehrwertsteuer, die ein Mitgliedstaat auf eine von einem Nichtsteuerpflichtigen gelieferte Ware bei der Einfuhr aus einem anderen Mitgliedstaat erhebt, während diese Steuer bei der Lieferung gleichartiger Waren durch eine Privatperson innerhalb des Einfuhrmitgliedstaats nicht erhoben wird, der Betrag der im Ausfuhrmitgliedstaat entrichteten Mehrwertsteuer, der zum Zeitpunkt der Einfuhr noch im Wert der Ware enthalten ist, in der Weise zu

berücksichtigen ist, daß dieser Betrag nicht in die Besteuerungsgrundlage einbezogen wird und darüber hinaus von der bei der Einfuhr geschuldeten Mehrwertsteuer abgezogen wird.

7 Es ist unstreitig, daß die fraglichen nationalen Vorschriften die Erhebung von Mehrwertsteuer bei der Einfuhr von im Ausfuhrmitgliedstaat bereits mit der Mehrwertsteuer belasteten Gegenständen durch Nichtsteuerpflichtige vorsehen, ohne den Betroffenen den Abzug der restlichen Mehrwertsteuer vom Betrag der bei der Einfuhr entrichteten Mehrwertsteuer zu gestatten, während die Lieferung gleichartiger Waren durch Nichtsteuerpflichtige innerhalb Italiens nicht der Mehrwertsteuer unterliegt.

8 Derartige Vorschriften sind insofern mit dem Verbot der abgabenrechtlichen Diskriminierung eingeführter Waren unvereinbar, als sie die nichtsteuerpflichtigen Einführer trotz der unmittelbaren Wirkung des Artikels 95 über ihr Recht, sich auf diese Vorschrift zu berufen, im Ungewissen lassen und als sie die Bediensteten der nationalen Verwaltung, die mit der Erhebung der Mehrwertsteuer betraut sind, veranlassen können, den Grundsatz des Abzugs der restlichen Mehrwertsteuer nicht anzuwenden.

9 Die den einzelnen gegebene Möglichkeit, sich vor den innerstaatlichen Gerichten auf unmittelbar anwendbare Vertragsbestimmungen zu berufen, stellt nämlich nur eine Mindestgarantie dar und reicht für sich allein nicht aus, um die uneingeschränkte Anwendung des EWG-Vertrags zu gewährleisten (siehe Urteil vom 15. Oktober 1986 in der Rechtssache 168/85, Kommission/Italien, Slg. 1986, 2945, Randnr. 11).

10 Ausserdem erfordern die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Rechtsschutzes auf den vom Gemeinschaftsrecht erfassten Gebieten eine

eindeutige Formulierung der Rechtsnormen der Mitgliedstaaten, die den betroffenen Personen die klare und genaue Kenntnis ihrer Rechte und Pflichten ermöglicht und die innerstaatlichen Gerichte in die Lage versetzt, deren Einhaltung sicherzustellen (siehe Urteil vom 21. Juni 1988 in der Rechtssache 257/86, Kommission/Italien, Slg. 1988, 3249).

11 Die vom Königreich Spanien zu seiner Verteidigung vorgebrachten Einwände bezueglich der Rechtsnatur der Mehrwertsteuer und der Verteilung des Steueraufkommens zwischen den Mitgliedstaaten sind zurückzuweisen.

12 Zum einen stellt der im Einfuhrmitgliedstaat vorgenommene Abzug desjenigen Betrags der im Ausfuhrmitgliedstaat entrichteten Mehrwertsteuer, der im Zeitpunkt der Einfuhr noch im Wert der Gegenstände enthalten ist, keineswegs die Rechtsnatur der Mehrwertsteuer als einer Verbrauchsteuer in Frage, da eine solche Qualifizierung von der Verteilung der Abgabenbelastung zwischen Ausfuhr- und Einfuhrmitgliedstaat unabhängig ist.

13 Zum anderen ist es zwar Sache des Gemeinschaftsgesetzgebers, eine gemeinsame Mehrwertsteuerregelung herbeizuführen, die vollkommen wettbewerbsneutral ist sowie eine vollständige Entlastung der fraglichen Einfuhren im Ausfuhrland und eine gerechte Verteilung des Steueraufkommens zwischen den Mitgliedstaaten einschließt; solange jedoch eine solche Regelung nicht getroffen worden ist, verbietet es Artikel 95 EWG-Vertrag, daß ein Mitgliedstaat seine Mehrwertsteuerregelung auf eingeführte Waren in einer Weise anwendet, die im Widerspruch zum Verbot der abgabenrechtlichen Diskriminierung steht (siehe Urteil Schul I, a. a. O.).

14 Die Durchführung der Harmonisierung des Abgabenrechts nach Artikel 99 EWG-Vertrag kann nämlich nicht zur Vorbedingung für die

Anwendung des Artikels 95 gemacht werden, der die Mitgliedstaaten mit unmittelbarer Wirkung verpflichtet, ihr Abgabenrecht schon vor jeder Harmonisierung in nichtdiskriminierender Weise anzuwenden (siehe Urteil vom 27. Februar 1980 in der Rechtssache 171/78, Kommission/Dänemark, Slg. 1980, 447).

15 Der Einwand des Königreichs Spanien, der sich auf die Existenz anderer Arten von indirekten Steuern in einigen Mitgliedstaaten stützt, ist ebenfalls zurückzuweisen.

16 Der genannte Umstand kann es nicht rechtfertigen, daß ein Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 95 EWG-Vertrag verstösst.

17 Demnach greifen die Argumente des Königreichs Spanien nicht durch.

18 Nach alledem ist festzustellen, daß das Königreich Spanien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 95 EWG-Vertrag verstossen hat, daß es nicht die erforderlichen Maßnahmen getroffen hat, um Personen, die nicht mehrwertsteuerpflichtig sind und schon in einem anderen Mitgliedstaat mit der Mehrwertsteuer belastete Gegenstände nach Spanien einführen, ohne daß sie die Erstattung dieser Steuer haben erlangen können, das Recht zu gewähren, von der bei der Einfuhr geschuldeten Mehrwertsteuer den Betrag der im Ausfuhrmitgliedstaat entrichteten Mehrwertsteuer abzuziehen, der im Zeitpunkt der Einfuhr noch im Wert der Gegenstände enthalten ist, während die Lieferung gleichartiger Waren durch Nichtsteuerpflichtige innerhalb Spaniens nicht der Mehrwertsteuer unterliegt.

Kostenentscheidung:

Kosten

19 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da das Königreich Spanien mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

für Recht erkannt und entschieden:

1) Das Königreich Spanien hat dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 95 EWG-Vertrag verstossen, daß es nicht die erforderlichen Maßnahmen getroffen hat, um Personen, die nicht mehrwertsteuerpflichtig sind und schon in einem anderen Mitgliedstaat mit der Mehrwertsteuer belastete Gegenstände nach Spanien einführen, ohne daß sie die Erstattung dieser Steuer haben erlangen können, das Recht zu gewähren, von der bei der Einfuhr geschuldeten Mehrwertsteuer den Betrag der im Ausfuhrmitgliedstaat entrichteten Mehrwertsteuer abzuziehen, der im Zeitpunkt der Einfuhr noch im Wert der Gegenstände enthalten ist, während die Lieferung gleichartiger Waren durch Nichtsteuerpflichtige innerhalb Spaniens nicht der Mehrwertsteuer unterliegt.

2) Das Königreich Spanien trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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