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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 10.03.1992
Aktenzeichen: C-215/90
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag, Verordnung Nr. 1408/71 des Rates vom 14.06.1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständig sowie deren Familienangehörige
Vorschriften:
EWG-Vertrag Art. 177 | |
Verordnung Nr. 1408/71 des Rates vom 14.06.1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständig sowie deren Familienangehörige Art. 19 | |
Verordnung Nr. 1408/71 des Rates vom 14.06.1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständig sowie deren Familienangehörige Art. 25 |
Artikel 19 der Verordnung Nr. 1408/71, der auf dem Gebiet der Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft den Fall eines in einem anderen Mitgliedstaat als dem zuständigen Mitgliedstaat wohnenden Arbeitnehmers betrifft, ist auf einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats anwendbar, der sich nach einer Beschäftigung als Arbeitnehmer in einem Mitgliedstaat, aufgrund deren er die Versicherteneigenschaft erwarb, in einem anderen Mitgliedstaat niederlässt und dort erkrankt, ohne vor seiner Erkrankung dort gearbeitet zu haben.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (FUENFTE KAMMER) VOM 10. MAERZ 1992. - VEREINIGTES KOENIGREICH (CHIEF ADJUDICATION OFFICER) GEGEN ANNE MARIA TWOMEY. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: SOCIAL SECURITY COMMISSIONER - VEREINIGTES KOENIGREICH. - SOZIALE SICHERHEIT - LEISTUNGEN BEI KRANKHEIT - BEGUENSTIGTER. - RECHTSSACHE C-215/90.
Entscheidungsgründe:
1 Der Social Security Commissioner, London, hat mit Beschluß vom 21. Juni 1990, beim Gerichtshof eingegangen am 23. Juli 1990, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 51 EWG-Vertrag und der Artikel 19 und 25 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der kodifizierten Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen dem Chief Adjudication Officer, dem Kläger, und Anne Maria Twomey, der Beklagten des Ausgangsverfahrens.
3 Die Beklagte, eine britische Staatsangehörige, war von Mai 1986 bis zum 3. Juli 1987 in London als Hausangestellte beschäftigt. Am 19. Juli desselben Jahres ließ sie sich in Irland nieder; am 23. Februar 1988 beantragte sie beim britischen Ministerium für soziale Sicherheit Krankengeld. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Beklagte in Irland keinerlei Berufstätigkeit ausgeuebt.
4 Dieser Antrag wurde dem Social Security Appeal Tribunal Newcastle-upon-Tyne vorgelegt, das ihn mit der Begründung ablehnte, daß die britischen Rechtsvorschriften die Zahlung der beantragten Leistungen ausschlössen, wenn der Antragsteller nicht im Vereinigten Königreich wohne.
5 Zur Klärung der Rechtslage legte der Kläger gegen diese Entscheidung beim Social Security Commissioner, London, Rechtsmittel ein; dieser hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Hat bei richtiger Auslegung des Artikels 51 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und des Artikels 19 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der in einem anderen Mitgliedstaat (Mitgliedstaat A) wohnt, der während seines Aufenthalts im Mitgliedstaat A aufgrund von Krankheit arbeitsunfähig wird, der vor Eintritt dieser Arbeitsunfähigkeit arbeitslos war und der seine letzte unselbständige (oder selbständige) Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat (Mitgliedstaat B) ausübte, in dem er auch wohnte, gegen den zuständigen Träger des Mitgliedstaats B Anspruch auf Krankengeld (wenn alle anderen nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats B bestehenden Voraussetzungen - mit Ausnahme der an den Wohnort geknüpften Voraussetzung - für einen Anspruch auf eine derartige Leistung erfuellt sind) oder richtet sich ein derartiger Leistungsanspruch ausschließlich nach Artikel 25 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71?
6 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.
7 Mit der Vorlagefrage möchte das nationale Gericht im wesentlichen wissen, ob Artikel 19 der Verordnung Nr. 1408/71 im Lichte des Artikels 51 EWG-Vertrag in dem Sinne auszulegen ist, daß er auf einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats anwendbar ist, der sich nach einer Beschäftigung als Arbeitnehmer in einem Mitgliedstaat in einem anderen Mitgliedstaat niederlässt und dort erkrankt, ohne vor seiner Erkrankung dort gearbeitet zu haben.
8 Der genannte Artikel 19 Absatz 1 lautet:
"(1) Ein Arbeitnehmer oder Selbständiger, der im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als des zuständigen Staates wohnt und die nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates für den Leistungsanspruch erforderlichen Voraussetzungen, gegebenenfalls unter Berücksichtigung des Artikels 18, erfuellt, erhält in dem Staat, in dem er wohnt,
a) Sachleistungen für Rechnung des zuständigen Trägers vom Träger des Wohnorts nach den für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften, als ob er bei diesem versichert wäre;
b) Geldleistungen vom zuständigen Träger nach den für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften. Im Einvernehmen zwischen dem zuständigen Träger und dem Träger des Wohnorts können diese Leistungen jedoch vom Träger des Wohnorts nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates für Rechnung des zuständigen Trägers gewährt werden."
9 Zunächst ist auf das Vorbringen der deutschen Regierung einzugehen, daß Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71, der Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaats im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt sind, den Rechtsvorschriften dieses States unterwirft, die Lage der Beklagten nicht betreffe, da sie in Großbritannien nicht mehr beschäftigt sei. Sie sei deshalb dem Recht des Mitgliedstaats des Wohnortes unterworfen; demzufolge könne Artikel 19 keine Anwendung finden, da die Beklagte im Gebiet des zuständigen Mitgliedstaats wohne.
10 Dem kann nicht gefolgt werden. Wie der Gerichtshof im Urteil vom 12. Juni 1986 in der Rechtssache 302/84 (Ten Holder, Slg. 1986, 1821, Randnrn. 14 und 15) festgestellt hat, unterliegt ein Arbeitnehmer, der seine im Gebiet eines Mitgliedstaats ausgeuebte Tätigkeit beendet hat, weiterhin dessen Rechtsvorschriften, wenn er nicht in einem anderen Mitgliedstaat beschäftigt ist. Nur die Arbeitnehmer, die endgültig jede Berufstätigkeit aufgegeben haben, stehen ausserhalb des Anwendungsbereichs des Artikels 13 Absatz 2 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 (vgl. u. a. Urteil vom 21. Februar 1991 in der Rechtssache C-140/88, Noij, Slg. 1991, I-387, Randnrn. 9 und 10).
11 Der Kläger ist der Ansicht, Artikel 19 sei nur auf Personen anwendbar, die zum Zeitpunkt ihrer Erkrankung eine Tätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen ihres Wohnortes ausgeuebt hätten. Eine weiterreichende Auslegung des Artikels 19, die in dessen Anwendungsbereich Personen einbezöge, die zu einem Zeitpunkt erkrankten, zu dem sie nicht beschäftigt seien, stelle den systematischen Zusammenhang der auf die Arbeitslosen anwendbaren Regelung in Frage. Ein Arbeitsloser, der im Gebiet eines anderen als des zuständigen Mitgliedstaats eine Beschäftigung suche, könne nämlich Leistungen bei Arbeitslosigkeit nur während drei Monaten erhalten (Artikel 69 der Verordnung Nr. 1408/71), während ihm die Leistungen bei Krankheit ohne zeitliche Beschränkung gewährt würden.
12 Nach Ansicht des Klägers lässt sich, wenn durch die angeführten Vorschriften die Ziele des Artikels 51 EWG-Vertrag auf dem Gebiet der Leistungen bei Arbeitslosigkeit erreicht würden, nicht sagen, daß diese Ziele auf dem Gebiet der Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft günstigere Vorschriften verlangten.
13 Zunächst ist festzustellen, daß nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes die in Artikel 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 1408/71 enthaltene Definition des Begriffs "Arbeitnehmer" von allgemeiner Tragweite ist und sich auf jede Person erstreckt, die, ob sie nun eine Erwerbstätigkeit ausübt oder nicht, die Versicherteneigenschaften nach den für die soziale Sicherheit geltenden Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten besitzt (vgl. u. a. Urteil vom 31. Mai 1979 in der Rechtssache 182/78, Pierik, Slg. 1979, 1977, Randnr. 4). Die Beklagte besitzt jedoch die Versicherteneigenschaft nach den britischen Rechtsvorschriften, da sie Anspruch auf Leistungen bei Krankheit hätte, wenn sie im Vereinigten Königreich wohnte.
14 Sodann ist festzustellen, daß der Gemeinschaftsgesetzgeber, wenn er den Anwendungsbereich des Artikels 19 der Verordnung Nr. 1408/71 auf während ihrer Beschäftigung erkrankte Personen hätte beschränken wollen, dies ausdrücklich vorgesehen hätte, wie er es in Artikel 71 Absatz 1 dieser Verordnung getan hat.
15 Eine Auslegung von Artikel 19 in dem Sinne, daß er alle Arbeitnehmer im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 einschließt, impliziert zwar die vom Kläger dargelegte unterschiedliche Behandlung. Wie die Kommission jedoch zu Recht ausgeführt hat, ist dieser Unterschied mit der Tatsache zu erklären, daß sich die Anwendungsbereiche des Artikels 19 und des Artikels 25 voneinander unterscheiden. Während Artikel 25 auf Arbeitslose anwendbar ist, die sich vorübergehend auf der Suche nach einer Beschäftigung in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat aufhalten, betrifft Artikel 19 den Arbeitnehmer, der in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat wohnt, d. h. den Arbeitnehmer, der dort seinen "gewöhnlichen Aufenthalt" (Artikel 1 Buchstabe h dieser Verordnung) hat.
16 Schließlich ist festzustellen, daß nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes (vgl. Urteil vom 31. Mai 1979, Pierik, a. a. O.) der in Artikel 22 der Verordnung Nr. 1408/71 aufgeführte Begriff "Arbeitnehmer" die Rentenberechtigten mit einschließt. Da dieser Artikel im selben Abschnitt steht wie Artikel 19, kann der in Artikel 19 verwendete identische Begriff nicht als nur tätige Arbeitnehmer erfassend ausgelegt werden.
17 Folglich ist eine enge Auslegung des Begriffs "Arbeitnehmer" im Sinne des Artikels 19, die dazu führte, eine Person in der Lage der Beklagten von dessen Anwendungsbereich auszuschließen, nicht zu rechtfertigen.
18 Dem nationalen Gericht ist deshalb zu antworten, daß Artikel 19 der Verordnung Nr. 1408/71 auf einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats anwendbar ist, der sich nach einer Beschäftigung als Arbeitnehmer in einem Mitgliedstaat in einem anderen Mitgliedstaat niederlässt und dort erkrankt, ohne vor seiner Erkrankung dort gearbeitet zu haben.
Kostenentscheidung:
Kosten
19 Die Auslagen der deutschen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Tenor:
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
auf die ihm vom Social Security Commissioner, London, mit Beschluß vom 21. Juni 1990 vorgelegte Frage für Recht erkannt:
Artikel 19 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der kodifizierten Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) ist auf einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats anwendbar, der sich nach einer Beschäftigung als Arbeitnehmer in einem Mitgliedstaat in einem anderen Mitgliedstaat niederlässt und dort erkrankt, ohne vor seiner Erkrankung dort gearbeitet zu haben.
Ende der Entscheidung
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