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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 23.02.1994
Aktenzeichen: C-236/92
Rechtsgebiete: Richtlinie 75/442/EWG


Vorschriften:

Richtlinie 75/442/EWG Art. 4
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. 1. Die einzelnen können sich in all den Fällen, in denen Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, vor dem nationalen Gericht gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen berufen, wenn der Staat die Richtlinie nicht fristgemäß oder unrichtig in nationales Recht umgesetzt hat.

Eine Gemeinschaftsbestimmung ist in dieser Hinsicht unbedingt, wenn sie eine Verpflichtung begründet, die weder an eine Bedingung geknüpft ist noch zu ihrer Erfuellung und Wirksamkeit einer Maßnahme der Gemeinschaftsorgane oder der Mitgliedstaaten bedarf, und sie ist hinreichend genau, um von einem einzelnen herangezogen und vom Gericht angewandt zu werden, wenn sie unzweideutig eine Verpflichtung begründet.

2. Artikel 4 der Richtlinie 75/442 über Abfälle, wonach die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen zu treffen haben, um sicherzustellen, daß die Abfälle beseitigt werden, ohne die menschliche Gesundheit zu gefährden oder die Umwelt zu schädigen, begründet für die einzelnen keine Rechte, die die nationalen Gerichte zu schützen haben.

Diese Bestimmung, in der die Ziele genannt sind, die die Mitgliedstaaten bei der Erfuellung der konkreteren, sich aus anderen Bestimmungen der Richtlinie ergebenden Verpflichtungen zu beachten haben, hat nämlich nur programmatischen Charakter. Sie steckt den Rahmen ab, in dem die Tätigkeit der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Behandlung der Abfälle stattfinden soll, und schreibt für sich allein nicht den Erlaß konkreter Maßnahmen oder diese oder jene Methode der Abfallbeseitigung vor. Sie ist weder unbedingt noch hinreichend genau und damit nicht geeignet, Rechte zu verleihen, die die einzelnen gegenüber dem Staat geltend machen können.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 23. FEBRUAR 1994. - COMITATO DI COORDINAMENTO PER LA DIFESA DELLA CAVA UND ANDERE GEGEN REGIONE LOMBARDIA UND ANDERE. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: TRIBUNALE AMMINISTRATIVO REGIONALE PER LA LOMBARDIA - ITALIEN. - ABLAGERUNG VON FESTEM HAUSHALTSMUELL - RICHTLINIE 75/442/EWG. - RECHTSSACHE C-236/92.

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunale amministrativo regionale per la Lombardia (Italien) hat mit Verfügung vom 1. April 1992, beim Gerichtshof eingegangen am 7. April 1992, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag fünf Fragen insbesondere nach der Auslegung von Artikel 4 der Richtlinie 75/442/EWG des Rates vom 15. Juli 1975 über Abfälle (ABl. L 194, S. 39; nachstehend: die Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in Rechtsstreitigkeiten insbesondere zwischen einem Verband mit der Bezeichnung Comitato di coordinamento per la difesa della Cava und mehreren Einzelpersonen einerseits und der Region Lombardei andererseits über deren Entscheidung, in ihrem Gebiet eine Mülldeponie einzurichten.

3 Aus den Akten geht hervor, daß die Giunta regionale der Region Lombardei durch mehrere Entscheidungen von 1989 und 1990 einem Vorhaben für den Bau einer Deponie für festen Haushaltsmüll in einer im Gebiet der Region gelegenen Gemeinde zugestimmt hatte.

4 Diese Entscheidungen wurden von Einzelpersonen vor Gericht mit der Begründung angefochten, daß sie ihre Rechte auf Umweltschutz beeinträchtigten. Das angerufene nationale Gericht stellte fest, daß die nationale Regelung zur Umsetzung der Richtlinie (Dekret Nr. 915 des Präsidenten der Republik vom 10. September 1982, GURI Nr. 343 vom 15. Dezember 1982, S. 9071) für die Abfallbeseitigung nahezu ausschließlich die Benutzung von Deponien vorsehe, und fragte sich, ob diese Regelung mit der Richtlinie vereinbar sei, die die Mitgliedstaaten verpflichte, geeignete Maßnahmen zur Einschränkung der Abfallbildung, zur Verwertung und zur Umwandlung von Abfällen zu treffen.

5 Das nationale Gericht hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Vorabentscheidungsfragen vorzulegen:

1) Verleihen das gemeinschaftliche Umweltrecht und insbesondere Artikel 4 der Richtlinie 75/422/EWG des Rates vom 15. Juli 1975 über Abfälle dem einzelnen subjektive Rechte, die das nationale Gericht schützen muß?

2) Sind die "subjektiven Gemeinschaftsrechte", wenn sie in Form "berechtigter Interessen" in die italienische Rechtsordnung übertragen worden sind, vom zuständigen Verwaltungsgericht nach der für die "berechtigten italienischen Interessen" vorgesehenen Regelung zu schützen, und demnach mit der Verpflichtung, (falls erforderlich) von der öffentlichen Verwaltung, die Partei ist, eine fachliche Beratung zu verlangen, oder sind sie nach der für die "subjektiven italienischen Rechte" vorgesehenen Regelung zu schützen, und demnach mit der Verpflichtung, - falls erforderlich - einen Dritten als Sachverständigen zu benennen?

3) Ist das nationale Gericht, wenn es subjektive Gemeinschaftsrechte einzelner zu schützen hat, verpflichtet, die nationalen Vorschriften, die gegen Gemeinschaftsvorschriften verstossen, auch dann nicht anzuwenden, wenn diese Nichtanwendung im Hinblick auf das öffentliche Interesse der Gemeinschaften oder eines Mitgliedstaats verheerende Wirkungen haben kann, oder ist das nationale Gericht im letztgenannten Fall verpflichtet, ähnliche Befugnisse wahrzunehmen, wie sie der Gerichtshof nach Artikel 174 letzter Absatz besitzt, und kann es sich somit zum Beispiel (aber es handelt sich nur um ein Beispiel) auf die Feststellung beschränken, daß jenes bestimmte nationale Gesetz rechtswidrig ist, und zwar im Hinblick auf eventuelle spätere Klagen auf Ersatz des durch diese Rechtswidrigkeit verursachten Schadens oder im Hinblick auf Maßnahmen, die die Kommission der Europäischen Gemeinschaften eventuell nach Artikel 169 ff. EWG-Vertrag oder nach anderen Vorschriften treffen zu müssen meint?

4) Muß das nationale Gericht (nach dem Urteil des Gerichtshofes vom 19. November 1991 in den Rechtssachen C-6/90 und C-9/90, Francovich und Bonifaci/Italienische Republik) zumindest dann, wenn seiner Meinung nach das bei ihm anhängige Verfahren auch mit der Feststellung der Nichtanwendung nationaler Rechtsetzungsakte oder der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit dieser Rechtsetzungsakte beendet werden könnte, auch den Organen der Legislative, die diese (als gemeinschaftsrechtswidrig angesehenen) Rechtsetzungsakte erlassen haben, die Ausübung des Grundrechts auf Verteidigung garantieren?

5) Welches prozessuale Modell (das nationale, das den "allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts" entnommene usw.) muß das nationale Gericht (bei Bejahung der vorstehenden Frage) anwenden, um - in derartigen Fällen - der staatlichen und der regionalen Legislative sowie der staatlichen und der regionalen Exekutive die konkrete Ausübung des (Grund-)Rechts auf Verteidigung in bei ihm anhängigen Verfahren zu gestatten?

6 Die erste Frage geht dahin, ob Artikel 4 der Richtlinie für den einzelnen Rechte begründet, die die nationalen Gerichte zu schützen haben.

7 Diese Bestimmung lautet wie folgt:

"Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, daß die Abfälle beseitigt werden, ohne die menschliche Gesundheit zu gefährden oder die Umwelt zu schädigen und insbesondere ohne

- Wasser, Luft, Boden sowie Tier- und Pflanzenwelt zu gefährden;

- Geräusch- oder Geruchsbelästigungen zu verursachen;

- die Umgebung und das Landschaftsbild zu beeinträchtigen."

8 Nach ständiger Rechtsprechung (vgl. insbesondere Urteile vom 19. Januar 1982 in der Rechtssache 8/81, Becker, Slg. 1982, 53, und vom 22. Juni 1989 in der Rechtssache 103/88, Fratelli Costanzo, Slg. 1989, 1839) können sich die einzelnen in all den Fällen, in denen Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, vor dem nationalen Gericht gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen berufen, wenn der Staat die Richtlinie nicht fristgemäß oder unrichtig in nationales Recht umgesetzt hat.

9 Eine Gemeinschaftsbestimmung ist unbedingt, wenn sie eine Verpflichtung begründet, die weder an eine Bedingung geknüpft ist noch zu ihrer Erfuellung und Wirksamkeit einer Maßnahme der Gemeinschaftsorgane oder der Mitgliedstaaten bedarf (vgl. insbesondere Urteil vom 3. April 1968 in der Rechtssache 28/67, Molkerei-Zentrale Westfalen/Lippe, Slg. 1968, 215).

10 Eine Bestimmung ist ausserdem hinreichend genau, um von einem einzelnen herangezogen und vom Gericht angewandt zu werden, wenn sie unzweideutig eine Verpflichtung begründet (vgl. Urteile vom 26. Februar 1986 in der Rechtssache 152/84, Marshall, Slg. 1986, 723, und vom 4. Dezember 1986 in der Rechtssache 71/85, Federatie Nederlandse Vakbeweging, Slg. 1986, 3855).

11 Die fragliche Bestimmung weist diese Merkmale nicht auf.

12 Artikel 4 der Richtlinie, der im wesentlichen den Inhalt der dritten Begründungserwägung der Richtlinie aufgreift, hat nämlich - in seinem Zusammenhang gesehen - programmatischen Charakter und nennt die Ziele, die die Mitgliedstaaten bei der Erfuellung der konkreteren Verpflichtungen zu beachten haben, die sich für sie aus den Artikeln 5 bis 11 der Richtlinie auf dem Gebiet der Planung, Überwachung und Kontrolle der Maßnahmen zur Abfallbeseitigung ergeben.

13 Der Gerichtshof hat ausserdem in bezug auf die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus Artikel 10 der Richtlinie bereits entschieden, daß diese Bestimmung kein besonderes Erfordernis aufstellt, das die Freiheit der Mitgliedstaaten bei der Organisation der Überwachung der in ihr genannten Tätigkeiten einschränken würde, daß aber von dieser Freiheit unter Beachtung der in der dritten Begründungserwägung und in Artikel 4 der Richtlinie genannten Ziele Gebrauch gemacht werden muß (vgl. Urteil vom 12. Mai 1987 in den verbundenen Rechtssachen 372/85, 373/85 und 374/85, Trän, Slg. 1987, 2141).

14 Es ist somit davon auszugehen, daß die fragliche Bestimmung den Rahmen absteckt, in dem die Tätigkeit der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Behandlung der Abfälle stattfinden soll, und nicht als solche den Erlaß konkreter Maßnahmen oder diese oder jene Methode der Abfallbeseitigung vorschreibt. Sie ist daher weder unbedingt noch hinreichend genau und damit nicht geeignet, Rechte zu verleihen, die die einzelnen gegenüber dem Staat geltend machen können.

15 Auf die erste Frage ist demnach zu antworten, daß Artikel 4 der Richtlinie für die einzelnen keine Rechte begründet, die die nationalen Gerichte zu schützen haben.

16 Im Hinblick auf die Antwort auf diese Frage brauchen die anderen Vorlagefragen nicht mehr beantwortet zu werden.

Kostenentscheidung:

Kosten

17 Die Auslagen der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Tribunale amministrativo regionale per la Lombardia (Italien) mit Verfügung vom 1. April 1992 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Artikel 4 der Richtlinie 75/442/EWG des Rates vom 15. Juli 1975 über Abfälle begründet für die einzelnen keine Rechte, die die nationalen Gerichte zu schützen haben.

Ende der Entscheidung

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