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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 05.06.1997
Aktenzeichen: C-41/96
Rechtsgebiete: EGV, UWG
Vorschriften:
EGV Art. 177 | |
EGV Art. 85 Abs. 3 | |
UWG § 1 |
Die Lückenlosigkeit eines selektiven Vertriebssystems ist nach dem Gemeinschaftsrecht keine Voraussetzung für seine Rechtswirksamkeit. Für die Beurteilung der Rechtmässigkeit einer Vereinbarung nach Artikel 85 des Vertrages ist nicht zu prüfen, ob die Voraussetzungen dafür erfuellt sind, daß diese Vereinbarung Aussenseitern im Wege einer Klage wegen unlauteren Wettbewerbs entgegengehalten werden kann.
Somit kann ein Vertriebsbindungssystem, das nicht lückenlos ist und deshalb nach der nationalen Rechtsprechung auf dem Gebiet des unlauteren Wettbewerbs Aussenseitern nicht entgegengehalten werden kann, nach Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages rechtsgültig sein.
Daher sind weder die Bestimmungen des Artikels 85 Absatz 1 des Vertrages und erst recht nicht die des Artikels 85 Absatz 3 des Vertrages oder die der Verordnung Nr. 123/85 über die Anwendung von Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von Vertriebs- und Kundendienstvereinbarungen über Kraftfahrzeuge so auszulegen, daß sie der Anwendung einer nationalen Rechtsprechung auf dem Gebiet des unlauteren Wettbewerbs entgegenstehen, nach der ein Vertriebsbindungssystem, auch wenn es nach den genannten Bestimmungen freigestellt ist, Aussenseitern nur entgegengehalten werden kann, wenn es lückenlos ist.
Urteil des Gerichtshofes (Sechste Kammer) vom 5. Juni 1997. - VAG-Händlerbeirat eV gegen SYD-Consult. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Landgericht Hamburg - Deutschland. - Artikel 85 Absatz 3 EG-Vertrag - Verordnung (EWG) Nr. 123/85 - Vertriebsbindungssystem - Lückenlosigkeit des Systems als Voraussetzung dafür, es Außenseitern entgegenhalten zu können. - Rechtssache C-41/96.
Entscheidungsgründe:
1 Das Landgericht Hamburg hat mit Beschluß vom 4. Oktober 1995, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Februar 1996, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, die sich auf die Lückenlosigkeit eines nach der Verordnung (EWG) Nr. 123/85 der Kommission vom 12. Dezember 1984 über die Anwendung von Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von Vertriebs- und Kundendienstvereinbarungen über Kraftfahrzeuge (ABl. 1985, L 15, S. 16) freigestellten Vertriebsbindungssystems als Voraussetzung dafür bezieht, es Aussenseitern entgegenhalten zu können.
2 Diese Frage stellt sich im Rahmen einer Klage des V. A. G. Händlerbeirats eV (nachstehend: V. A. G.), der deutschen Vereinigung der Vertragshändler der Volkswagenwerk AG (nachstehend: VW), gegen die Firma SYD-Consult wegen unlauteren Wettbewerbs.
3 Innerhalb der Europäischen Union vertreibt VW die von ihr hergestellten Kraftfahrzeuge ausschließlich über gebundene Vertragshändler, die unmittelbar mit den Endverbrauchern verhandeln. Diesen Vertragshändlern ist es nach den von ihnen geschlossenen Händlerverträgen u. a. untersagt, Neufahrzeuge an Wiederverkäufer zu verkaufen, die nicht durch einen Händlervertrag an VW gebunden sind.
4 Obwohl SYD-Consult nicht durch einen solchen Vertrag gebunden ist, verkauft sie in Deutschland Neufahrzeuge der Marke VW, die sie von gebundenen Vertragshändlern in Italien kauft und nach Deutschland wiedereinführt. Da die Verkaufspreise in Italien deutlich unter denen in Deutschland liegen, kann SYD-Consult ihren deutschen Kunden die Fahrzeuge zu Preisen anbieten, die niedriger sind als die der deutschen Vertragshändler.
5 Der V. A. G. begründete seine Klage wegen unlauteren Wettbewerbs, die er vor dem Landgericht Hamburg erhoben hat, um SYD-Consult den Wiederverkauf untersagen zu lassen, damit, daß VW innerhalb der Europäischen Union ein Vertriebsbindungssystem errichtet habe, das nach der Verordnung Nr. 123/85 freigestellt worden sei, und daß SYD-Consult vertriebsgebundene Neuwagen unter Ausnutzung eines Vertragsbruchs italienischer Vertragshändler erworben und sich damit einen ungerechtfertigten Wettbewerbsvorsprung verschafft habe, der gegen § 1 des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) verstosse.
6 SYD-Consult wendete vor dem nationalen Gericht hiergegen im wesentlichen ein, das Vertriebsbindungssystem von VW sei nicht lückenlos, so daß nach der einschlägigen deutschen Rechtsprechung die Voraussetzungen für einen Verstoß gegen § 1 UWG nicht erfuellt seien. Wie sich aus dem Vorlagebeschluß ergibt, verstossen nach dieser Rechtsprechung Erwerb und Verkauf vertriebsgebundener Waren durch nicht einem Vertriebsbindungssystem unterliegende Aussenseiter nur dann gegen § 1 UWG, wenn ein rechtsbeständiges, gedanklich und praktisch lückenloses Vertriebsbindungssystem besteht.
7 Der V. A. G. hielt dem entgegen, daß der Gerichtshof in seinem Urteil vom 13. Januar 1994 in der Rechtssache C-376/92 (Cartier, Slg. 1994, I-15) die Unvereinbarkeit dieser deutschen Rechtsprechung mit dem Gemeinschaftsrecht festgestellt habe und daher wegen des Grundsatzes uneingeschränkter und einheitlicher Anwendung des Gemeinschaftsrechts auch im deutschen Lauterkeitsrecht für die Inanspruchnahme eines Dritten die Lückenlosigkeit des Vertriebsbindungssystems nicht mehr gefordert werden könne.
8 Da für das Landgericht Hamburg die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits von der Auslegung dieses Urteils und seiner Anwendbarkeit auf den vorliegenden Sachverhalt abhängt, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist im Hinblick auf das Urteil des Gerichtshofes vom 13. Januar 1994 in der Rechtssache C-376/92, Metro-SB-Märkte GmbH & Co. KG/Cartier S.A., eine Anwendung des deutschen nationalen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht, insbesondere mit dem Grundsatz uneingeschränkter und einheitlicher Anwendung des Gemeinschaftsrechts, vereinbar, die wie folgt gekennzeichnet ist:
Aussenseiter, die ausserhalb eines durch eine Gruppenfreistellungsverordnung der EG-Kommission in der Anwendung des Artikels 85 Absatz 1 EWG-Vertrag freigestellten Vertriebsbindungssystems vertriebsgebundene Erzeugnisse beziehen, können nur dann wegen Unterlassung des Vertriebs der vertriebsgebundenen Erzeugnisse in Anspruch genommen werden, wenn - neben den weiteren Voraussetzungen des § 1 des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) - das Vertriebsbindungssystem lückenlos ist, wobei sich die Vorlagefrage ausdrücklich auf die Alternative bezieht, daß das Vertriebsbindungssystem nur theoretisch oder theoretisch und praktisch lückenlos sein muß.
9 Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob die Bestimmungen des Artikels 85 Absatz 3 des Vertrages und der Verordnung Nr. 123/85 dahin auszulegen sind, daß sie der Anwendung einer nationalen Rechtsprechung auf dem Gebiet des unlauteren Wettbewerbs entgegenstehen, nach der ein Vertriebsbindungssystem, auch wenn es nach den genannten Bestimmungen freigestellt ist, Aussenseitern nur entgegengehalten werden kann, wenn es lückenlos ist.
10 Zur Beantwortung dieser Frage ist erstens festzustellen, daß nach dem Vorlagebeschluß die vom V. A. G. angeführte deutsche Rechtsprechung anhand von Rechtsstreitigkeiten entwickelt worden ist, in denen der Hersteller eines Erzeugnisses die gebundenen Händler auf Einhaltung ihrer vertraglichen Bindungen in Anspruch nahm, und auf dem Gedanken beruht, daß einem gebundenen Händler nur dann die Einhaltung seiner Bindungen zugemutet werden kann, wenn die Vertriebsbindung in jeder Beziehung lückenlos ist, da er andernfalls einem unfairen Wettbewerb mit Aussenseitern ausgesetzt wäre.
11 Nach dieser Rechtsprechung ist ein Vertriebsbindungssystem also nur dann bindend für die Parteien und kann Aussenseitern nur dann entgegengehalten werden, wenn es völlig lückenlos ist, so daß bei einem Aussenseiter, der sich vertriebsgebundene Erzeugnisse beschaffen konnte, davon ausgegangen wird, daß er vom Vertragsbruch eines gebundenen Händlers profitiert hat.
12 Zweitens hat der Gerichtshof in Randnummer 28 des erwähnten Urteils Cartier bereits festgestellt, daß die Lückenlosigkeit eines selektiven Vertriebssystems nach dem Gemeinschaftsrecht keine Voraussetzung für seine Rechtswirksamkeit ist. Dieser Feststellung liegt u. a. die Erwägung zugrunde, daß bei der Beurteilung der Rechtmässigkeit einer Vereinbarung nach Artikel 85 des Vertrages nicht zu prüfen ist, ob die Voraussetzungen dafür erfuellt sind, daß diese Vereinbarung Aussenseitern im Wege einer Klage wegen unlauteren Wettbewerbs entgegengehalten werden kann (Randnr. 24).
13 Infolgedessen kann ein Vertriebsbindungssystem, das nicht lückenlos ist und daher nach einer nationalen Rechtsprechung auf dem Gebiet des unlauteren Wettbewerbs Aussenseitern nicht entgegengehalten werden kann, nach Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages rechtswirksam sein.
14 Somit lässt sich dem genannten Urteil Cartier nicht entnehmen, daß eine nationale Rechtsprechung auf dem Gebiet des unlauteren Wettbewerbs, nach der ein Vertriebsbindungssystem, das nicht lückenlos ist, Aussenseitern nicht entgegengehalten werden kann, mit Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages unvereinbar ist.
15 Drittens muß das, was für Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages gilt, erst recht für Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages oder eine Verordnung der Kommission über die Anwendung dieses Absatzes 3 auf Gruppen von Vereinbarungen oder abgestimmten Verhaltensweisen wie die Verordnung Nr. 123/85 gelten.
16 Wie der Gerichtshof in seinen Urteilen vom 15. Februar 1996 in den Rechtssachen C-226/94 (Grand garage albigeois u. a., Slg. 1996, I-651, Randnr. 15) und C-309/94 (Nissan France u. a., Slg. 1996, I-677, Randnr. 15) in Erinnerung gebracht hat, stellt die Verordnung Nr. 123/85 als Durchführungsverordnung zu Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages nämlich keine zwingenden Vorschriften auf, die die Gültigkeit oder den Inhalt von Vertragsklauseln unmittelbar berühren oder die Vertragsparteien zur Anpassung des Inhalts ihres Vertrages verpflichten, sondern beschränkt sich darauf, den Wirtschaftsteilnehmern des Kraftfahrzeugsektors bestimmte Möglichkeiten zu geben, ihre Vertriebs- und Kundendienstvereinbarungen dem Verbot des Artikels 85 Absatz 1 zu entziehen, obwohl sie bestimmte Arten von Alleinvertriebs- und Wettbewerbsverbotsklauseln enthalten.
17 Wie sich im übrigen aus Randnummer 20 dieser beiden Urteile ergibt, kann die Verordnung Nr. 123/85 nicht so ausgelegt werden, daß sie es einem ausserhalb des offiziellen Vertriebsnetzes einer bestimmten Kraftfahrzeugmarke stehenden Wirtschaftsteilnehmer, der kein bevollmächtigter Vermittler im Sinne des Artikels 3 Nummer 11 der Verordnung ist, untersagt, sich Neufahrzeuge dieser Marke durch Parallelimporte zu beschaffen und die Tätigkeit des unabhängigen Absatzes dieser Fahrzeuge auszuüben (vgl. in diesem Sinne zuletzt Urteil vom 20. Februar 1997 in der Rechtssache C-128/95, Fontaine u. a., Slg. 1997, I-0000, Randnr. 17).
18 Wie der Gerichtshof schließlich in den Randnummern 13 und 16 des genannten Urteils Fontaine u. a. weiter festgestellt hat, betrifft die Verordnung Nr. 123/85 entsprechend der Aufgabe, die ihr im Rahmen der Anwendung von Artikel 85 des Vertrages zugewiesen ist, nur die vertraglichen Beziehungen zwischen den Lieferanten und ihren Vertragshändlern, indem sie die Voraussetzungen festlegt, unter denen bestimmte Vereinbarungen zwischen ihnen nach den Wettbewerbsregeln des Vertrages zulässig sind, und kann die Rechte und Pflichten Dritter, insbesondere unabhängiger Händler, im Verhältnis zu den zwischen den Kraftfahrzeugherstellern und ihren Vertragshändlern geschlossenen Verträgen nicht berühren.
19 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, daß weder die Bestimmungen des Artikels 85 Absatz 3 des Vertrages noch die der Verordnung Nr. 123/85 so auszulegen sind, daß sie der Anwendung einer nationalen Rechtsprechung auf dem Gebiet des unlauteren Wettbewerbs entgegenstehen, nach der ein Vertriebsbindungssystem, auch wenn es nach den genannten Bestimmungen freigestellt ist, Aussenseitern nur entgegengehalten werden kann, wenn es lückenlos ist.
Kostenentscheidung:
Kosten
20 Die Auslagen der französischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Tenor:
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
(Sechste Kammer)
auf die ihm vom Landgericht Hamburg mit Beschluß vom 4. Oktober 1995 vorgelegte Frage für Recht erkannt:
Weder die Bestimmungen des Artikels 85 Absatz 3 EG-Vertrag noch die der Verordnung (EWG) Nr. 123/85 der Kommission vom 12. Dezember 1984 über die Anwendung von Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von Vertriebs- und Kundendienstvereinbarungen über Kraftfahrzeuge sind so auszulegen, daß sie der Anwendung einer nationalen Rechtsprechung auf dem Gebiet des unlauteren Wettbewerbs entgegenstehen, nach der ein Vertriebsbindungssystem, auch wenn es nach den genannten Bestimmungen freigestellt ist, Aussenseitern nur entgegengehalten werden kann, wenn es lückenlos ist.
Ende der Entscheidung
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