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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 14.02.2008
Aktenzeichen: C-449/06
Rechtsgebiete: Verordnung Nr. 259/68
Vorschriften:
Verordnung Nr. 259/68 |
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)
14. Februar 2008
"Beamte - Vergütung - Statut - Familienzulagen - Festsetzung der Höhe der nationalen Familienzulagen - Bestimmung des Rangs der Kinder - Kind, für das ein Anspruch auf Familienzulagen nach dem Statut besteht"
Parteien:
In der Rechtssache C-449/06
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Tribunal du travail de Bruxelles (Belgien) mit Entscheidung vom 17. Oktober 2006, beim Gerichtshof eingegangen am 6. November 2006, in dem Verfahren
Sophiane Gysen
gegen
Groupe S-Caisse d'Assurances sociales pour indépendants
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts, des Richters G. Arestis, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter E. Juhász (Berichterstatter) und J. Malenovský,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: R. Grass,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Frau Gysen, vertreten durch N. Sluse, avocate,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch J. Currall und D. Martin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. November 2007
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe:
1 Das Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal du travail de Bruxelles, das die Verordnung (EWG, Euratom, EGKS) Nr. 259/68 des Rates vom 29. Februar 1968 zur Festlegung des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften und der Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten dieser Gemeinschaften sowie zur Einführung von Sondermaßnahmen, die vorübergehend auf die Beamten der Kommission anwendbar sind (ABl. L 56, S. 1), in der Fassung der Verordnung (EWG, Euratom, EGKS) Nr. 2074/83 des Rates vom 21. Juli 1983 (ABl. L 203, S. 1) (im Folgenden: Statut) betrifft, ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits von Frau Gysen gegen die Groupe S-Caisse d'Assurances sociales pour indépendants (im Folgenden: Kasse) wegen der Bestimmung des Rangs der Kinder von Frau Gysen für die Festsetzung der Höhe der belgischen Familienzulagen.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsvorschriften
2 Das Statut ist nach seinem Art. 11 Abs. 2 "in allen [seinen] Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat".
3 Nach Art. 67 Abs. 1 des Statuts umfassen die Familienzulagen die Haushaltszulage, die Zulage für unterhaltsberechtigte Kinder und die Erziehungszulage.
4 Nach Art. 67 Abs. 2 des Statuts haben Beamte, die Familienzulagen nach diesem Artikel erhalten, die anderweitig gezahlten Zulagen gleicher Art anzugeben; diese werden von den nach Anhang VII Art. 1 bis 3 des Statuts gezahlten Zulagen abgezogen.
5 Nach Anhang VII Art. 2 Abs. 7 des Statuts wird, wenn das Sorgerecht für ein unterhaltsberechtigtes Kind aufgrund gesetzlicher Vorschriften oder durch Beschluss eines Gerichts bzw. der zuständigen Verwaltungsbehörde einer anderen Person übertragen wird, die Zulage für Rechnung und im Namen des Beamten an diese Person gezahlt.
Nationale Regelung
6 Nach der belgischen Königlichen Verordnung vom 8. April 1976 über die Regelung der Familienzulagen für Selbständige (Moniteur belge/Belgisch Staatsblad vom 6. Mai 1976) erhöht sich die Zulage je Kind mit der Anzahl der zulageberechtigten Kinder.
7 Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Königlichen Verordnung bestimmt in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung den Rang der Kinder entsprechend der zeitlichen Reihenfolge der Geburten der Kinder, die nach dieser Königlichen Verordnung, nach den koordinierten Gesetzen über die Familienzulagen für Arbeitnehmer, nach der Königlichen Verordnung vom 26. März 1965 über die Familienzulagen für bestimmte Kategorien vom Staat besoldeter Bediensteter, nach dem Gesetz vom 20. Juli 1971 zur Einführung von garantierten Familienbeihilfen und nach den in Belgien geltenden internationalen Abkommen über die soziale Sicherheit zulageberechtigt sind.
Sachverhalt und Vorabentscheidungsfrage
8 Frau Gysen, die belgische Staatsangehörige ist, übt eine selbständige Erwerbstätigkeit in Belgien aus. Sie heiratete am 1. Februar 1986. Aus dieser Ehe ging ein am 20. Oktober 1989 geborenes Kind hervor. Die Ehe wurde im Juni 1993 geschieden.
9 Frau Gysen heiratete im Dezember 1993 wieder. Aus dieser Ehe gingen zwei am 5. Mai 1994 bzw. am 17. September 1996 geborene Kinder hervor. Die Ehe wurde im Jahr 2000 geschieden.
10 Der älteste Sohn von Frau Gysen wohnt seit dem 17. Januar 2001 bei seiner Mutter. Für die beiden jüngeren Kinder bestimmt eine gerichtliche Entscheidung vom 13. Februar 2001, dass die elterliche Sorge und die Vermögenssorge gemeinsam ausgeübt werden und dass Frau Gysen die Familienzulagen erhält.
11 Am 1. Dezember 2001 trat der Vater des 1989 geborenen Kindes in den Dienst der Kommission der Europäischen Gemeinschaften. Seit diesem Zeitpunkt bezieht Frau Gysen im Namen und für Rechnung des Vaters von der Kommission die gesamten Familienzulagen für ihren ältesten Sohn.
12 Mit Schreiben vom 22. Februar 2002 teilte Frau Gysen diesen Umstand der Kasse mit, worauf diese die Zahlung der Familienzulagen für den ältesten Sohn von Frau Gysen einstellte, für die beiden Jüngeren aber fortsetzte.
13 Da die Kasse zu der Auffassung gelangte, dass die Zulagen zu Unrecht gezahlt worden seien, zog sie dann ab März 2003 von den monatlichen Familienzulagen einen Betrag von 2 284,84 Euro ab. Dieser Betrag entspricht der Differenz zwischen den für die Jüngeren als Kinder zweiten und dritten Rangs gezahlten Zulagen und den Zulagen, die nach Auffassung der Kasse hätten gezahlt werden müssen, nämlich den Zulagen für zwei Kinder ersten und zweiten Rangs.
14 Da Frau Gysen der Meinung war, dass die Verwaltungsentscheidungen der Kasse über diesen Abzug auf einer rechtswidrigen Feststellung des Rangs ihrer drei Kinder beruhten und infolgedessen aufgehoben werden müssten, erhob sie Klage beim vorlegenden Gericht.
15 Unter diesen Umständen hat das Tribunal du travail de Bruxelles das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Können oder müssen das Statut und sein Anhang VII (Vorschriften über Dienstbezüge) Abschnitt 1 betreffend "Familienzulagen" im Sinne von Art. 67 Abs. 1, die die Haushaltszulage, die Zulage für unterhaltsberechtigte Kinder und die Erziehungszulage umfassen, als "in Belgien geltendes internationales Abkommen über die soziale Sicherheit" im Sinne der hier streitigen nationalen Regelung angesehen werden?
Zur Vorlagefrage
16 Um dem vorlegenden Gericht eine zweckdienliche Antwort zu geben, die ihm eine Entscheidung in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit ermöglicht, sind die Natur und die Rechtsverbindlichkeit des Statuts hervorzuheben.
17 Im Rahmen des durch Art. 234 EG geschaffenen Systems der richterlichen Zusammenarbeit obliegt die Auslegung der Vorschriften des Gemeinschaftsrechts dem Gerichtshof. Die Auslegung nationaler Rechtsvorschriften ist im Rahmen dieses Systems Sache der nationalen Gerichte (vgl. Urteil vom 12. Oktober 1993, Vanacker und Lesage, C-37/92, Slg. 1993, I-4947, Randnr. 7).
18 Aus dem vom vorlegenden Gericht dargestellten rechtlichen Rahmen des Ausgangsverfahrens ergibt sich, dass nach belgischem Recht das Kind eines Selbständigen, der eine Zulage erhält, auf die der Ehegatte oder frühere Ehegatte gegenüber Einrichtungen der sozialen Sicherheit eines anderen Mitgliedstaats aufgrund eines internationalen Abkommens einen Anspruch hat, bei der Bestimmung des Rangs der Kinder dieses Selbständigen für die Berechnung der Höhe der belgischen Familienzulagen, auf die dieser für seine anderen Kinder Anspruch hat, berücksichtigt wird.
19 Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich außerdem, dass der Rechtsstreit auf die Weigerung der Kasse zurückgeht, das Kind, für das im Namen und für Rechnung des Vaters, eines Beamten der Gemeinschaft, eine Zulage in voller Höhe auf der Grundlage des Statuts gewährt wird, bei der Bestimmung des Rangs der Kinder der selbständig erwerbstätigen Mutter für die Berechnung der Familienzulagen, auf die sie für ihre anderen Kinder Anspruch hat, zu berücksichtigen.
20 Aus den Akten wird deutlich, dass der Grund für die unterschiedliche Behandlung dieser beiden Fallgestaltungen durch die Kasse in der Besonderheit der Rechtsgrundlage der für das im Jahr 1989 geborene Kind von Frau Gysen nach dem Statut gezahlten Zulage liegt.
21 Die Kasse macht vor dem vorlegenden Gericht geltend, das Statut verleihe den Beamten der Gemeinschaft Rechte, auf die sie sich gegenüber ihrem Arbeitgeber berufen könnten, und gegebenenfalls das Recht, bei den Gemeinschaftsgerichten Klage zu erheben; diese Rechte seien aber im innerstaatlichen Recht nicht sofort und unmittelbar anwendbar.
22 Diese Auffassung widerspricht der Natur und Rechtsverbindlichkeit des Statuts.
23 Zwar kann die Verordnung Nr. 259/68, mit der das Statut erlassen wurde, nicht einem internationalen Abkommen gleichgestellt werden, da es nicht von den Mitgliedstaaten nach den Bestimmungen des internationalen Rechts, sondern vom Rat als einem Organ der Europäischen Gemeinschaft autonom erlassen wurde (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Februar 1970, Kommission/Italien, 38/69, Slg. 1970, 47, Randnr. 11, und vom 18. März 1980, Kommission/Italien, 91/79, Slg. 1980, 1099, Randnr. 7), ebenso wie der EG-Vertrag, auf den diese Verordnung gegründet ist, nicht einem internationalen Abkommen über die soziale Sicherheit gleichgestellt werden kann. Es ist jedoch daran zu erinnern, dass diese Verordnung nach Art. 249 Abs. 2 EG allgemeine Geltung hat, in allen ihren Teilen verbindlich ist und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gilt (vgl. Urteile vom 20. Oktober 1981, Kommission/Belgien, 137/80, Slg. 1981, 2393, Randnr. 7, und vom 7. Mai 1987, Kommission/Belgien, 186/85, Slg. 1987, 2029, Randnr. 21). Zudem sieht, wie auch Frau Gysen geltend macht, Art. 11 Abs. 2 des Statuts selbst ausdrücklich dessen Verbindlichkeit in allen seinen Teilen und seine unmittelbare Geltung in jedem Mitgliedstaat vor.
24 Im Hinblick auf die unmittelbare Geltung der Verordnung Nr. 259/68 im innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten ist das nationale Gericht gehalten, sie anzuwenden, um die Beachtung des Diskriminierungsverbots zu gewährleisten. Es ist somit Sache des nationalen Gerichts, sicherzustellen, dass Personen, die für ein Kind Anspruch auf Familienzulagen nach dem Statut haben, und Personen, die für ein Kind Anspruch auf solche Zulagen nach nationalem Recht oder aufgrund eines in dem betreffenden Mitgliedstaat geltenden internationalen Abkommens über die soziale Sicherheit haben, gleichbehandelt werden.
25 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass zum einen das Statut allgemeine Geltung hat, in allen seinen Teilen verbindlich ist und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gilt und dass zum anderen im Hinblick auf die unmittelbare Geltung der Verordnung Nr. 259/68 im innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten das Kind, für das ein Anspruch auf Familienzulagen nach dem Statut besteht, einem Kind gleichgestellt werden muss, für das ein Anspruch auf solche Zulagen nach nationalem Recht oder aufgrund eines in dem betreffenden Mitgliedstaat geltenden internationalen Abkommens über die soziale Sicherheit besteht.
Kostenentscheidung:
Kosten
26 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Tenor:
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
Die Verordnung (EWG, Euratom, EGKS) Nr. 259/68 des Rates vom 29. Februar 1968 zur Festlegung des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften und der Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten dieser Gemeinschaften sowie zur Einführung von Sondermaßnahmen, die vorübergehend auf die Beamten der Kommission anwendbar sind, in der Fassung der Verordnung (EWG, Euratom, EGKS) Nr. 2074/83 des Rates vom 21. Juli 1983 hat allgemeine Geltung, ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Im Hinblick auf die unmittelbare Geltung dieser Verordnung im innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten muss das Kind, für das ein Anspruch auf Familienzulagen nach dem Statut der Beamten der Europäischen Gemeinschaften besteht, einem Kind gleichgestellt werden, für das ein Anspruch auf solche Zulagen nach nationalem Recht oder aufgrund eines in dem betreffenden Mitgliedstaat geltenden internationalen Abkommens über die soziale Sicherheit besteht.
Ende der Entscheidung
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