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Gericht: Europäisches Gericht
Urteil verkündet am 29.05.1991
Aktenzeichen: T-12/90
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag, VO (EWG) Nr. 17/62
Vorschriften:
EWG-Vertrag Art. 85 | |
EWG-Vertrag Art. 173 | |
VO (EWG) Nr. 17/62 Art. 15 |
1. Eine Entscheidung ist ordnungsgemäß zugestellt, wenn sie ihrem Adressaten zugegangen ist und dieser in die Lage versetzt worden ist, von ihr Kenntnis zu nehmen. Wird die Zustellung durch Einschreiben mit Rückschein bewirkt, so ist der Tag der Unterzeichnung des Rückscheins als Zustellungstag anzusehen, ohne daß der Tag zu berücksichtigen ist, an dem der Adressat ein gewöhnliches Empfangsbekenntnis-Formular zurückgesandt hat, das der Entscheidung beigefügt war, um ein eventuelles Pflichtversäumnis der Postdienststellen wettzumachen.
2. Da die gemeinschaftsrechtliche Regelung über die Klagefristen zwingenden Rechts ist, ist der Begriff des entschuldbaren Irrtums, der gemäß den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes eine Abweichung von dieser Frist gestattet, eng auszulegen und kann sich nur auf Ausnahmefälle beziehen, insbesondere auf solche, in denen das betroffene Gemeinschaftsorgan ein Verhalten an den Tag gelegt hat, das für sich genommen oder aber in ausschlaggebendem Maß geeignet war, bei einem gutgläubigen Rechtsbürger, der alle Sorgfalt aufwendet, die von einem Wirtschaftsteilnehmer mit normalem Kenntnisstand zu verlangen ist, eine Verwirrung hervorzurufen, die in den Grenzen dessen liegt, was hingenommen werden kann.
3. Die Ausschlußwirkung, von der eine Klage betroffen ist, kann nur dann gemäß Artikel 42 Absatz 2 der Satzung des Gerichtshofes der EWG wegen Zufalls oder eines Falls höherer Gewalt aufgehoben werden, wenn ungewöhnliche, vom Willen des Klägers unabhängige Schwierigkeiten vorliegen, die selbst bei Beachtung aller erforderlichen Sorgfalt unvermeidbar erscheinen.
URTEIL DES GERICHTS ERSTER INSTANZ (ZWEITE KAMMER) VOM 29. MAI 1991. - BAYER AG GEGEN KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN. - WETTBEWERB - ZULAESSIGKEIT - KLAGEFRIST - ORDNUNGSGEMAESSHEIT DER ZUSTELLUNG - ENTSCHULDBARER IRRTUM - ZUFALL ODER FALL HOEHERER GEWALT. - RECHTSSACHE T-12/90.
Entscheidungsgründe:
Sachverhalt
1 Mit der Entscheidung 90/38/EWG vom 13. Dezember 1989 (ABl. L 21, S. 71; im folgenden: "die Entscheidung") stellte die Kommission fest, daß in der Zeit vom 10. Juli 1986 bis zum 13. November 1989 zwischen der Bayer AG, an die die Entscheidung gerichtet war (im folgenden: "die Klägerin"), und ihren Abnehmern Vereinbarungen gegolten hätten, wonach diese Abnehmer verpflichtet gewesen seien, "Bayo-n-ox Premix 10 %" ausschließlich zur Deckung ihres eigenen Bedarfs in ihren Werken zu verwenden. Nach Ansicht der Kommission stellten diese Vereinbarungen Zuwiderhandlungen gegen Artikel 85 EWG-Vertrag dar. Die Kommission setzte deswegen gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962, der Ersten Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages (ABl. 1962 Nr. 13, S. 204), gegen die Klägerin ein Geldbusse von 500 000 ECU fest.
2 Diese Entscheidung wurde der Klägerin am 20. Dezember 1989 auf dem Postweg als Einschreiben mit Rückschein zugesandt. Nach dem Akteninhalt, dessen Richtigkeit nicht bestritten worden ist, steht fest, daß das Schreiben am 28. Dezember 1989 bei der Poststelle der Klägerin eingegangen ist.
3 Der Umschlag, der diese Sendung enthielt, war auf der Vorderseite erstens mit einem Freistempelaufdruck versehen, zweitens mit einem Aufkleber, auf dem zum einen Bezeichnung und Anschrift der Kommission standen und zum anderen mit den Worten "An die BAYER AKTIENGESELLSCHAFT/D-5090 LEVERKUSEN/REPUBLIQUE FEDERALE D' ALLEMAGNE" Name und Anschrift der Klägerin angegeben waren, drittens mit einem weiteren, links oben angebrachten Stempelaufdruck mit dem Inhalt "A.R./RECOMMANDE/Avec Accusé de réception/AANGETEKEND/Met Ontvangstbewijs" (Einschreiben/Mit Empfangsbestätigung) und viertens in der linken unteren Ecke mit einem weiteren Aufkleber, der in roter Umrandung die Angaben "R [rot]/BRUXELLES 4/BRUSSEL 4/663 [rot]" enthielt. Auf die Rückseite des Umschlags war mit seinen beiden seitlichen Enden ein abtrennbares Formular aus dickem rotem Papier mit der Überschrift "Avis de réception/de paiement/d' inscription" (Rückschein über den Empfang, die Zahlung, die Eintragung) aufgeklebt. Das Formular wurde bei der Behandlung durch die Poststelle von dem Umschlag abgetrennt, auf dem aber sichtbare Spuren zurückblieben.
4 Ein in der Poststelle beschäftigter Bevollmächtigter der Klägerin brachte in dem Feld mit der Angabe "date et signature du destinataire" (Datum und Unterschrift des Empfängers) des genannten Rückscheins das Datum des 28. Dezember 1989 und seine Unterschrift an. Das Postamt Leverkusen versah den fraglichen Rückschein mit einem Stempel, der ebenfalls das Datum des 28. Dezember 1989 angab, und sandte ihn an die Kommission zurück, bei der er auch eingegangen ist.
5 Ein in der Poststelle der Klägerin beschäftigter Bediensteter nahm an, die Sendung sei für die Patentabteilung bestimmt, und ließ sie an diese weiterleiten, ohne den Umschlag zu öffnen und ohne darauf das Datum des Eingangs bei der Poststelle zu vermerken. Die Patentabteilung stempelte auf der Vorderseite des Umschlags in roter Farbe die Angabe "NICHT K-RP Patentabteilung" auf und schickte die Sendung mit der Werkspost an die Poststelle zurück. Ein dort beschäftigter Bediensteter der Klägerin öffnete den Umschlag am 3. Januar 1990 und versah ihn auf der Vorderseite mit dem Datumsstempel von diesem Tag. Dann leitete er den Umschlag mit seinem Inhalt an die Rechtsabteilung der Klägerin weiter.
6 Der fragliche Umschlag enthielt die Entscheidung der Kommission, ein Begleitschreiben vom 19. Dezember 1989, ein Standardformular für eine Bankgarantie und ein Schriftstück mit der Überschrift "Acknowledgement of receipt/Accusé de réception" (Empfangsbekenntnis). Das Sekretariat der Rechtsabteilung der Klägerin versah die Entscheidung mit dem Eingangsstempel vom 3. Januar 1990. Zwei Mitarbeiter der Rechtsabteilung trugen in das Empfangsbekenntnis das Datum 3. Januar 1990 ein und unterzeichneten es. Dann wurde dieses Formular an die Kommission zurückgesandt, bei der es auch eingegangen ist.
7 Am 15. Januar 1990 richtete die Rechtsabteilung der Klägerin ein die streitige Entscheidung betreffendes Schreiben an den Vizepräsidenten der Kommission, Sir Leon Brittan. In diesem Schreiben wurde als Datum der Zustellung der Entscheidung der 3. Januar 1990 erwähnt.
Verfahren
8 Mit Klageschrift, die am 9. März 1990 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Bayer AG beantragt, die genannte Entscheidung der Kommission aufzuheben, hilfsweise, die gegen sie festgesetzte Geldbusse von 500 000 ECU aufzuheben, und äusserst hilfsweise, diese Geldbusse herabzusetzen.
9 Mit einem am 30. März 1990 eingereichten gesonderten Schriftsatz hat die Kommission gemäß Artikel 91 § 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes, die nach Artikel 11 Absatz 3 des Beschlusses des Rates vom 24. Oktober 1988 zur Errichtung eines Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften im Verfahren vor dem Gericht entsprechend gilt, beantragt, über eine Einrede der Unzulässigkeit der Klage wegen Verspätung vorab zu entscheiden. Am 7. Mai 1990 hat die Klägerin ihre Stellungnahme zu diesem Antrag eingereicht.
10 Auf Bericht des Berichterstatters hat das Gericht (Zweite Kammer) beschlossen, die mündliche Verhandlung über diese Einrede der Unzulässigkeit zu eröffnen. Die Parteien sind aufgefordert worden, bestimmte Fragen zu beantworten; ausserdem ist die Klägerin aufgefordert worden, den Originalumschlag vorzulegen, mit dem die Zustellung erfolgt ist. Die Parteien sind diesen Aufforderungen fristgemäß nachgekommen. Die Vorlage des Umschlags, durch die die Angaben in den schriftlichen Erklärungen der Parteien ergänzt worden sind, hat es dem Gericht ermöglicht, die oben unter den Randnummern 3 bis 7 wiedergegebenen Feststellungen zu treffen.
11 Die mündliche Verhandlung über die Einrede der Unzulässigkeit hat am 6. Dezember 1990 stattgefunden. Am Ende der Sitzung hat der Präsident die mündliche Verhandlung für geschlossen erklärt.
12 Die Kommission beantragt,
- die Klage wegen Versäumung der Klagefrist als unzulässig abzuweisen und
- der Klägerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
13 Die Klägerin macht geltend, die Klage sei fristgerecht erhoben worden. Hilfsweise vertritt sie die Ansicht, eine eventuelle Überschreitung der Frist des Artikels 173 Absatz 3 EWG-Vertrag sei ihr nicht zuzurechnen.
Zulässigkeit
14 Die Kommission trägt vor, mit der am 9. März 1990 erhobenen Klage begehre die Klägerin die Aufhebung einer Entscheidung, die ihr am 28. Dezember 1989 zugestellt worden sei. Die Frist für die Erhebung einer Nichtigkeitsklage sei aber am 6. März 1990 abgelaufen: Die Frist für die Erhebung einer solchen Klage betrage nach Artikel 173 Absatz 3 EWG-Vertrag zwei Monate, sie beginne nach Artikel 81 § 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes am Tag nach der Bekanntgabe der Maßnahme an den Betroffenen und sei nach Artikel 81 § 2 in Verbindung mit Artikel 1 zweiter Gedankenstrich der Anlage II der Verfahrensordnung des Gerichtshofes im vorliegenden Fall mit Rücksicht auf die räumliche Entfernung um sechs Tage zu verlängern, da die Klägerin ihren Sitz in der Bundesrepublik Deutschland habe. Die am 9. März 1990 eingereichte Klage sei daher als verspätet anzusehen und damit unzulässig.
15 Die Klägerin hat drei Verteidigungsgründe gegen diese Einrede der Unzulässigkeit vorgebracht: Erstens rügt sie, daß die von der Kommission bewirkte Zustellung nicht ordnungsgemäß gewesen sei, zweitens trägt sie hilfsweise vor, es hätten Umstände vorgelegen, derentwegen ihr Irrtum über den Beginn der Klagefrist entschuldbar sei, und drittens macht sie Umstände geltend, derentwegen ein Zufall oder ein Fall höherer Gewalt gegeben sei. Diese drei Verteidigungsgründe der Klägerin sind nunmehr nacheinander zu prüfen.
16 Das Gericht weist vorab darauf hin, daß feststeht, daß die Klagefrist im vorliegenden Fall nach Artikel 173 Absatz 3 EWG-Vertrag in Verbindung mit Artikel 81 und Artikel 1 der Anlage II der Verfahrensordnung des Gerichtshofes zwei Monate und sechs Tage betragen und am Tag nach dem Tag zu laufen begonnen hat, an dem die streitige Entscheidung der Klägerin bekanntgegeben worden ist oder an dem sie von ihr Kenntnis erlangt hat.
Nicht ordnungsgemässe Zustellung
17 Die Klägerin macht erstens geltend, die Zweimonatsfrist des Artikels 173 Absatz 3 EWG-Vertrag für die Erhebung einer Nichtigkeitsklage habe erst am 3. Januar 1990 begonnen und sei unter Berücksichtigung der Entfernungsfrist von sechs Tagen nach Artikel 1 der Anlage II zur Verfahrensordnung des Gerichtshofes erst am 9. März 1990 abgelaufen. Daß die nur an die "BAYER AKTIENGESELLSCHAFT/D-5090 LEVERKUSEN" adressierte streitige Entscheidung am 28. Dezember 1989 bei ihrer Poststelle eingegangen sei, bedeute nicht, daß sie ihr an diesem Tag zugestellt worden sei oder daß sie an diesem Tag von ihr Kenntis erlangt habe. Die Klägerin weist darauf hin, daß eine solche Entscheidung nach Artikel 10 der Verordnung Nr. 99/63/EWG der Kommission vom 25. Juli 1963 über die Anhörungen nach Artikel 19 Absätze (1) und (2) der Verordnung Nr. 17 des Rates (ABl. 1963 Nr. 127, S. 2268) dem Empfänger durch Einschreiben mit Rückschein zu übermitteln oder gegen Quittung zu übergeben sei. Die Kommission habe dadurch, daß sie in den eingeschriebenen Brief das Schriftstück mit der Überschrift "Acknowledgement of receipt/Accusé de réception" (Empfangsbekenntnis) gelegt habe, beide Zustellungsarten verwendet. Die gleichzeitige Verwendung beider Zustellungsarten im vorliegenden Fall habe dazu geführt, daß die Zustellung nicht ordnungsgemäß erfolgt sei. Daher habe die Klagefrist erst von dem Tag an zu laufen begonnen, an dem die Klägerin tatsächlich von der Entscheidung Kenntnis erlangt habe, also, wie sie meint dargetan zu haben, am 3. Januar 1990. Ferner trägt die Klägerin vor, da die Kommission das auf den 3. Januar 1990 lautende Empfangsbekenntnis entgegengenommen habe, ohne irgendwelche Einwände zu erheben, stuenden der späteren Berufung der Kommission auf den zu einem früheren Zeitpunkt unterzeichneten Rückschein die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit entgegen.
18 Zur Ordnungsgemäßheit der Zustellung weist das Gericht darauf hin, daß die Versendung durch Einschreiben mit Rückschein nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes eine angemessene Form der Zustellung darstellt, da so der Fristbeginn sicher bestimmt werden kann. Desgleichen ist eine Entscheidung ordnungsgemäß zugestellt, wenn sie ihrem Adressaten zugegangen ist und dieser in die Lage versetzt worden ist, von ihr Kenntnis zu nehmen (Urteil vom 26. November 1985 in der Rechtssache 42/85, Cockerill-Sambre/Kommission, Slg. 1985, 3749).
19 Im vorliegenden Fall hat das Gericht festgestellt, daß die Dienststellen der Kommission der Klägerin die Entscheidung durch Einschreiben mit Rückschein zugesandt haben und daß dieses Schreiben am 28. Dezember 1989 unter ordnungsgemässen Bedingungen am Sitz der Klägerin in Leverkusen eingegangen ist. Daraus folgt, daß die Klägerin an diesem Tag in der Lage war, vom Inhalt des Schreibens und damit vom Wortlaut der Entscheidung Kenntnis zu nehmen.
20 Die Tatsache, daß der Umschlag ein Schriftstück mit der Überschrift "Acknowledgement of receipt/Accusé de réception" (Empfangsbekenntnis) enthielt, bedeutet nämlich keinesfalls, daß eine von der ordnungsgemäß auf dem Postweg bewirkten Zustellung verschiedene zweite Zustellung vorgelegen hätte. Es kann in diesem Stadium der Begründung dahinstehen, welche Auswirkungen die Beifügung dieses Formulars im Hinblick auf die Begriffe "entschuldbarer Irrtum", "Zufall" und "Fall höherer Gewalt" gehabt haben mag; vielmehr genügt hier der Hinweis, daß eine mittels des "Acknowledgement of receipt/Accusé de réception" (Empfangsbekenntnis) vorgenommene Zustellung vorausgesetzt hätte, daß die Entscheidung einem Bediensteten der Klägerin von einem hierzu ordnungsgemäß bevollmächtigten Beauftragten der Kommission persönlich übergeben worden wäre, was hier aber nicht der Fall war. Tatsächlich soll durch die Versendung dieses Formulars zusammen mit der Entscheidung in ein und demselben Umschlag lediglich, wie die Kommission vorgetragen hat, sichergestellt werden, daß die Kommission über ein zweifelsfreies Datum der Kenntniserlangung des Unternehmens von der Entscheidung verfügt, wenn die betroffene Postverwaltung ihrer Aufgabe nicht gerecht wird und den Rückschein nicht an die Kommission zurücksendet, was hier aber nicht der Fall war. Die streitige Entscheidung ist der Klägerin somit ordnungsgemäß und wirksam am 28. Dezember 1989 zugestellt worden.
21 Nach allem ist der erste Verteidigungsgrund der Klägerin zurückzuweisen.
Entschuldbarer Irrtum
22 Hilfsweise trägt die Klägerin vor, selbst wenn man annehme, daß die Frist des Artikels 173 Absatz 3 EWG-Vertrag am 28. Dezember 1989 zu laufen begonnen habe, dürfe die Klage nicht als unzulässig abgewiesen werden. Dies ergebe sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes, wonach eine Klage bei Nichtbeachtung der durch die einschlägigen Rechtsvorschriften festgesetzten Fristen dennoch zulässig sein könne, wenn der Kläger sich in entschuldbarer Weise über den Fristbeginn geirrt habe (Urteile vom 18. Oktober 1977 in der Rechtssache 25/68, Schertzer/Parlament, Slg. 1977, 1729, und vom 5. April 1979 in der Rechtssache 117/78, Orlandi/Kommission, Slg. 1979, 1613, 1620). Die Klägerin hat in diesem Zusammenhang vier Argumente zur Untermauerung ihrer Ansicht vorgebracht, daß ihr Irrtum im vorliegenden Fall entschuldbar gewesen sei.
23 Erstens trägt die Klägerin vor, im Verwaltungsverfahren, das dem Erlaß der Entscheidung vorangegangen ist, habe die Kommission alle für sie bestimmten Mitteilungen ausnahmslos unmittelbar an ihre Rechtsabteilung adressiert und als Einschreiben mit Rückschein versandt. Sie habe daher erwarten können, daß die endgültige Entscheidung ebenfalls direkt an die Rechtsabteilung gesandt würde. Entgegen ihrer bis dahin gehandhabten ständigen Übung habe die Kommission die Entscheidung an die "BAYER AKTIENGESELLSCHAFT" adressiert, ohne die Abteilung näher zu bezeichnen, für die sie bestimmt gewesen sei.
24 Zweitens macht die Klägerin geltend, sie habe alles unternommen, um Fehler bei der Weiterleitung von eingehender Post zu verhindern. Die Klägerin räumt jedoch ein, daß ihr in der Poststelle beschäftigter Bevollmächtigter die internen Weisungen missachtet habe, wonach die Mitarbeiter der Poststelle erstens jeden Umschlag öffnen müssten, auf dem nicht genau genug angegeben sei, für welche Abteilung die Sendung bestimmt sei, zweitens auf dem Umschlag einen Stempel mit dem Datum des Eingangs der Sendung bei der Poststelle anbringen müssten und schließlich der zuständigen Abteilung das fragliche Schriftstück zusammen mit dem Umschlag, auf dem sich der Stempel mit dem Eingangsdatum befinde, zuleiten müssten.
25 Drittens macht die Klägerin geltend, aus dem Umstand, daß der Umschlag ein Empfangsbekenntnis enthalten habe, das der Entscheidung von der Kommission beigefügt worden sei, ergebe sich ganz eindeutig die Entschuldbarkeit ihres Irrtums. Im Hinblick auf Artikel 10 der Verordnung Nr. 99/63 habe die Rechtsabteilung davon ausgehen dürfen, daß dieses Empfangsbekenntnis das einzige von der Kommission zur Vornahme der Zustellung der Entscheidung verwendete Dokument sei; sie habe daher nicht ahnen können, daß von der Poststelle bereits ein Rückschein mit einem anderen Datum ausgefuellt und zurückgesandt worden sei.
26 Viertens meint die Klägerin, für die Entschuldbarkeit ihres Irrtums spreche schließlich ganz eklatant der Umstand, daß die Kommission sie zu keinem Zeitpunkt - weder beim Erhalt des Empfangsbekenntnisses noch im späteren Schriftverkehr, insbesondere nicht beim Erhalt des Schreibens vom 15. Januar 1990 - auf ihren Irrtum aufmerksam gemacht habe. Durch dieses Schweigen habe die Kommission gegen die Grundsätze sowohl der Rechtssicherheit als auch des Vertrauensschutzes verstossen, zu deren Beachtung sie der Klägerin gegenüber verpflichtet gewesen sei.
27 Auf alle diese Argumente hat die Kommission in der mündlichen Verhandlung im wesentlichen entgegnet, angesichts der Wichtigkeit der Vorschriften über die Klagefristen könne nicht angenommen werden, daß der Beginn der Klagefrist durch einen Irrtum hinausgeschoben werden könne, der die Folge schwerwiegender Fehler innerhalb eines Unternehmens sei und für den dessen Beschäftigte die alleinige Verantwortung trügen.
28 Nach Auffassung des Gerichts ist vorab die Tragweite des Begriffs des entschuldbaren Irrtums zu klären, der gemäß dem Urteil des Gerichtshofes vom 18. Oktober 1977 in der Rechtssache 25/68 (Schertzer, a. a. O.) in Ausnahmefällen die Erhaltung des Klagerechts nach Ablauf der Klagefrist bewirken kann. Dieser Begriff, der von den in Artikel 42 des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofes der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (im folgenden: "Satzung des Gerichtshofes") ausdrücklich genannten Begriffen "Zufall" oder "Fall höherer Gewalt" zu unterscheiden ist, hat seinen Entstehungsgrund unmittelbar in dem Bestreben, die Wahrung der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes zu sichern.
29 In bezug auf die Klagefristen, die nach ständiger Rechtsprechung weder der Disposition des Gerichts noch der Parteien unterliegen und zwingenden Rechts sind, ist der Begriff des entschuldbaren Irrtums eng auszulegen und kann sich nur auf Ausnahmefälle beziehen, insbesondere auf solche, in denen das betroffene Gemeinschaftsorgan ein Verhalten an den Tag gelegt hat, das für sich genommen oder aber in ausschlaggebendem Maß geeignet war, bei einem gutgläubigen Rechtsbürger, der alle Sorgfalt aufwendet, die von einem Wirtschaftsteilnehmer mit normalem Kenntnisstand zu verlangen ist, eine Verwirrung hervorzurufen, die in den Grenzen dessen liegt, was hingenommen werden kann. In einem solchen Fall kann sich nämlich die Verwaltung nicht auf ihren eigenen Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes berufen, der für den Irrtum des Rechtsbürgers ursächlich war.
30 Unter Berücksichtigung dieser Erwägungen ist zu prüfen, ob die von der Klägerin im vorliegenden Fall angeführten vier Umstände geeignet sind, ihren Irrtum über den Beginn der Klagefrist entschuldbar zu machen.
31 Das Gericht ist erstens mit Rücksicht auf die Verpflichtungen, die jedem Wirtschaftsteilnehmer mit normalem Kenntnisstand obliegen, der Ansicht, daß die Tatsache, daß die Kommission die Zustellung der angefochtenen Entscheidung am Sitz der Klägerin bewirkt hat, während sie zuvor angeblich alle ihre Mitteilungen unmittelbar an die Rechtsabteilung der Klägerin gerichtet hatte, keinen aussergewöhnlichen Umstand darstellen kann, der geeignet wäre, den Irrtum der Klägerin entschuldbar zu machen.
32 Zweitens entbehrt das Argument, die Klägerin habe alles getan, um jeden Fehler bei der Weiterleitung der an sie gerichteten Post auszuschließen, selbst wenn man seine Erheblichkeit unterstellt, nach Ansicht des Gerichts im vorliegenden Fall jeder Grundlage, da aus den Akten hervorgeht und auch nicht bestritten worden ist, daß beim Eingang des Einschreibens tatsächlich Fehler im Unternehmen der Klägerin gemacht worden sind.
33 Der erste, von der Klägerin nicht bestrittene Fehler bestand darin, daß ihre Poststelle die internen Weisungen nicht beachtete, wonach die Mitarbeiter der Poststelle jeden Umschlag zu öffnen hatten, dessen interner Empfänger im Unternehmen nicht eindeutig festzustehen schien. Der zweite Fehler lag darin, daß die Poststelle des Unternehmens es unterließ, auf dem Umschlag einen Stempel mit dem Datum des Eingangs der Sendung bei der Poststelle anzubringen. Der dritte Fehler war eine Folge der beiden vorhergehenden und bestand darin, daß das fragliche Schriftstück nicht unverzueglich mit dem Umschlag an die zuständige Abteilung weitergeleitet wurde. Der vierte Fehler schließlich ist darin zu erblicken, daß die Rechtsabteilung des Unternehmens weder den Stempelaufdruck "NICHT K-RP Patentabteilung", den die Patentabteilung auf der Vorderseite des Umschlags angebracht hatte, noch die gut sichtbaren Spuren des Rückscheins auf dem Umschlag berücksichtigte.
34 Einerseits hätte die Rechtsabteilung der Klägerin nach Ansicht des Gerichts ohne die drei genannten Fehler der Poststelle notwendigerweise Kenntnis von der ordnungsgemässen Zustellung der angefochtenen Entscheidung erlangt, die die Kommission am 28. Dezember 1989 bewirkt hatte; andererseits war die Rechtsabteilung der Klägerin angesichts all dieser Fehler verpflichtet, so wie dies jede normal sorgfältige Unternehmensabteilung hätte tun müssen, genau und aufmerksam den Zeitpunkt zu ermitteln, an dem die Sendung vor dem Umweg über die Patentabteilung ursprünglich bei der Poststelle des Unternehmens eingegangen war. Die Klägerin hat aber weder in ihren schriftlichen Erklärungen noch in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, daß eine solche Ermittlung durchgeführt worden sei.
35 Nach alledem kann sich die Klägerin weder auf das mangelhafte Funktionieren ihrer internen Organisation noch auf die Missachtung ihrer internen Weisungen berufen, um damit darzutun zu versuchen, daß ihr Irrtum entschuldbar gewesen sei, zumal feststeht, daß diese Weisungen nicht beachtet worden sind und daß jedenfalls die Dienststellen der Kommission in keiner Weise das mangelhafte Funktionieren der Abteilungen der Klägerin mitverursacht haben.
36 Hinsichtlich des dritten Arguments der Klägerin, nämlich der Tatsache, daß der Umschlag ein von der Kommission der Entscheidung beigefügtes Empfangsbekenntnis enthielt, lässt sich nicht ausschließen, daß ein solcher Umstand möglicherweise beim Zustellungsempfänger gewisse Zweifel über die von der Kommission verwendete Zustellungsart hätte hervorrufen können, zumal die Kommission dasselbe Formular, wie sie in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich eingeräumt hat, auch allgemein zur Zustellung durch Übergabe gegen Quittung und, wie im vorliegenden Fall, zu Zwecken der blossen verwaltungsmässigen Aktenführung verwendet. Doch hätte die Beifügung des Schriftstücks mit der Überschrift "Acknowledgement of receipt/Accusé de réception" (Empfangsbekenntnis) im vorliegenden Fall keine Verwirrung bei der Klägerin hervorrufen können, wenn diese mit normaler Sorgfalt vorgegangen wäre und ihre verschiedenen Abteilungen nicht die genannten Fehler begangen hätten.
37 Somit ist das dritte Argument der Klägerin zurückzuweisen.
38 Was schließlich das Argument angeht, die Kommission habe zum einen beim Erhalt des Schriftstücks mit der Überschrift "Acknowledgement of receipt/Accusé de réception" (Empfangsbekenntnis), in das die Klägerin das Datum des 3. Januar 1990 als Zustellungstag eingetragen hatte, keine Reaktion gezeigt und zum anderen die Klägerin in dem auf die Zustellung folgenden Schriftwechsel, insbesondere nach Erhalt des Schreibens der Klägerin vom 15. Januar 1990, das dieselbe unzutreffende Angabe über den Tag der Zustellung enthielt, nicht auf ihren Irrtum über dieses Datum hingewiesen, ist das Gericht der Ansicht, daß die Klägerin im vorliegenden Fall ein solches Argument nicht mit Erfolg geltend machen kann, um damit ihre Auffassung von der Entschuldbarkeit ihres Irrtums zu untermauern oder um der Kommission einen Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes hinsichtlich der Art und Weise der Berechnung der ihr zur Verfügung stehenden Klagefrist vorzuwerfen.
39 Zum ersten Teil der Argumentation der Klägerin, der sich auf den fehlenden Hinweis der Kommission auf den Widerspruch zwischen dem Datum 28. Dezember 1989, dem Tag der Zustellung durch Einschreiben mit Rückschein, und dem Datum 3. Januar 1990 bezieht, das die Rechtsabteilung der Klägerin irrtümlich in das Schriftstück mit der Überschrift "Acknowledgement of receipt/Accusé de réception" (Empfangsbekenntnis) eingetragen hatte, ist zunächst festzustellen, daß die Kommission den Rückschein mit dem Datum 28. Dezember 1989, den ein Bevollmächtigter der Klägerin unterschrieben hatte, tatsächlich erhalten hat. Im Hinblick auf den Zweck des Schriftstücks mit der Überschrift: "Acknowledgement of receipt/Accusé de réception" (Empfangsbekenntnis), das es, wie die Kommission dargelegt hat, dieser ermöglichen soll, zumindest über ein sicheres Datum der Kenntniserlangung zu verfügen, wenn der Rückschein ihr ausnahmsweise von einer Postverwaltung nicht zurückgesandt wird, ist das Gericht zweitens der Ansicht, daß die Kommission unter den hier gegebenen Umständen und beim seinerzeitigen Verfahrensstand, nachdem der Rückschein tatsächlich an sie zurückgesandt worden war, nicht verpflichtet war, die Übereinstimmung der in die beiden Schriftstücke eingetragenen Daten zu überprüfen, da ausschließlich das in den Rückschein eingetragene Datum der ordnungsgemässen Zustellung maßgeblich war. Eine derartige Überprüfungspflicht oblag der Kommission umso weniger, als ein solcher Widerspruch zwischen den Daten in den beiden genannten Schriftstücken grundsätzlich nicht auftreten kann, es sei denn, er beruht - wie im vorliegenden Fall - auf Fehlern, die dem Unternehmen zuzurechnen sind.
40 Zum zweiten Teil der Argumentation der Klägerin, der sich auf das Schweigen der Kommission nach Erhalt des Schreibens der Klägerin vom 15. Januar 1990 bezieht, ist zu bemerken, daß von den Dienststellen der Kommission vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, daß sie von sich aus, wenn wie im vorliegenden Fall der Streit nicht gerade um den Beginn der Klagefrist geht, sämtliche unzutreffenden Datumsangaben berichtigen, die nur beiläufig im Schriftverkehr der verschiedenen Wirtschaftsteilnehmer mit ihr gemacht werden.
41 Nach alledem sind die vier Argumente, die die Klägerin zur Untermauerung ihres zweiten Verteidigungsgrundes vorgebracht hat, zurückzuweisen; dieser Verteidigungsgrund selbst greift somit nicht durch.
Zufall oder Fall höherer Gewalt
42 Schließlich meint die Klägerin, sich auf einen Zufall oder einen Fall höherer Gewalt im Sinne des Artikels 42 Absatz 2 der Satzung des Gerichtshofes berufen zu können. Da sie ihre Organisations- und Kontrollpflichten in jeder Hinsicht erfuellt habe, könne ihr kein Verschulden angelastet und somit unter Berücksichtigung des Gesamtverhaltens der Kommission nicht die Versäumung der festgesetzten Frist vorgeworfen werden.
43 Die Kommission hat darauf entgegnet, aufgrund der Umstände des Einzelfalles könne das Gericht nicht zu dem Ergebnis gelangen, daß die Ausnahmevorschriften über einen Zufall oder einen Fall höherer Gewalt anzuwenden seien. Für die im Unternehmen der Klägerin gemachten Fehler seien allein deren Bedienstete verantwortlich. Sie selbst treffe in der Kette der Fehler, die begangen worden seien, keine Verantwortung.
44 Insoweit ist zu der Frage, ob die Klägerin das Vorliegen von Umständen dargetan hat, derentwegen ein Zufall oder ein Fall höherer Gewalt gegeben wäre, zu bemerken, daß es sich nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes um ungewöhnliche, vom Willen der Klägerin unabhängige Schwierigkeiten handeln muß, die selbst bei Beachtung aller erforderlichen Sorgfalt unvermeidbar erscheinen (Urteile des Gerichtshofes vom 9. Februar 1984 in der Rechtssache 284/82, Busseni/Kommission, Slg. 1984, 557, und vom 30. Mai 1984 in der Rechtssache 224/83, Ferriera Vittoria/Kommission, Slg. 1984, 2349).
45 Die Klägerin hat nun aber zur Untermauerung dieses Verteidigungsgrundes dieselben Argumente vorgebracht wie zur Untermauerung des Verteidigungsgrundes, daß ein von ihr begangener Irrtum im vorliegenden Fall entschuldbar sei. Angesichts der vorstehenden Ausführungen über den angeblich entschuldbaren Irrtum steht eindeutig fest, daß im vorliegenden Fall erst recht nicht die oben entwickelten Voraussetzungen für das Vorliegen von Umständen erfuellt sind, derentwegen ein die Überschreitung der Klagefrist rechtfertigender Zufall oder ein Fall höherer Gewalt im Sinne des Artikels 42 der Satzung des Gerichtshofes gegeben wäre.
46 Nach alledem sind die drei von der Klägerin vorgebrachten Verteidigungsgründe zurückzuweisen. Die am 9. März 1990 in das Register der Kanzlei des Gerichts eingetragene Klage ist somit nach Ablauf der der Klägerin im vorliegenden Fall zur Verfügung stehenden Frist von zwei Monaten und sechs Tagen erhoben worden; sie ist daher als unzulässig abzuweisen.
Kostenentscheidung:
Kosten
47 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes sind der unterliegenden Partei auf Antrag die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen. Da die Klägerin mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
Tenor:
Aus diesen Gründen
hat
DAS GERICHT (Zweite Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1) Die Klage wird als unzulässig abgewiesen.
2) Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Ende der Entscheidung
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