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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Beschluss verkündet am 11.04.1989
Aktenzeichen: 1/88 S. A
Rechtsgebiete: Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften


Vorschriften:

Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften Art. 1
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Jede Pfändungsmaßnahme bei den Gemeinschaften kann unter bestimmten Umständen das Funktionieren und die Unabhängigkeit der Gemeinschaften behindern, so daß bei Einwänden des betroffenen Organs eine Ermächtigung des Gerichtshofes erforderlich ist.

Wenn der Gerichtshof über die Erteilung einer solchen Ermächtigung zu entscheiden hat, beschränkt sich seine Zuständigkeit auf die Prüfung der Frage, ob die Pfändung im Hinblick auf die Wirkungen, die sie nach dem anwendbaren nationalen Recht entfaltet, geeignet ist, das ordnungsgemässe Funktionieren und die Unabhängigkeit der Europäischen Gemeinschaften zu behindern. Wenn das betroffene Organ oder Drittgläubiger zu der Annahme kommen sollten, ihre finanziellen Interessen könnten durch eine Pfändung oder durch deren teilweise Aufhebung verletzt werden, so können sie die Rechtsbehelfe einlegen, die ihnen das anwendbare nationale Recht zur Verfügung stellt.

Für eine Pfändung der Beträge, die die Gemeinschaften einem Mitgliedstaat als dem Eigentümer der von ihnen genutzten Gebäude als privatrechtlich vereinbarten Mietzins zu zahlen haben, kann die Ermächtigung erteilt werden, da sie im Unterschied zu den Zwangsmaßnahmen, die die Finanzierung der gemeinsamen Politiken oder die Durchführung von Aktionsprogrammen der Gemeinschaften betreffen, nicht geeignet ist, das Funktionieren der Gemeinschaften zu behindern.


BESCHLUSS DES GERICHTSHOFES VOM 11. APRIL 1989. - S. A. GENERALE DE BANQUE. - ANTRAG AUF ERMAECHTIGUNG ZUR ZUSTELLUNG EINES PFAENDUNGS- UND UEBERWEISUNGSBESCHLUSSES AN DIE KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN ALS DRITTSCHULDNERIN. - RECHTSSACHE 1/88 S. A.

Entscheidungsgründe:

1 Die SA Générale de Banque, Gesellschaft belgischen Rechts mit Verwaltungssitz in Brüssel, hat mit Antragsschrift, die am 2. Juni 1988 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, beantragt,

- festzustellen, daß Artikel 1 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften ( Protokoll ) die Durchführung der von der Antragstellerin im Wege der Zwangsvollstreckung vorgenommenen Pfändung nicht betrifft und daß dieses Pfändungsverfahren somit weiter durchgeführt werden kann;

- hilfsweise, die Ermächtigung zur normalen Durchführung des Pfändungsverfahrens im Wege der Zwangsvollstreckung und zur Zahlung der von den Gemeinschaften dem belgischen Staat geschuldeten Beträge zu erteilen.

Prozeßbevollmächtigter der Antragstellerin ist Rechtsanwalt J. M. Raxhon, Verviers; Zustellungsbevollmächtigter ist Rechtsanwalt C. Turk, 4, rü Nicolas Welter, Luxemburg.

2 Gemäß Artikel 1 des Protokolls dürfen die "Vermögensgegenstände und Guthaben der Gemeinschaften... ohne Ermächtigung des Gerichtshofes nicht Gegenstand von Zwangsmaßnahmen der Verwaltungsbehörden oder Gerichte sein ". Zweck dieser Bestimmung ist es, zu verhindern, daß das Funktionieren und die Unabhängigkeit der Gemeinschaften behindert werden.

3 Die Antragstellerin erwirkte beim Tribunal de première instance Brüssel ein Versäumnisurteil, in dem der belgische Staat verurteilt wurde, einen Betrag von 123 781 944 BFR zuzueglich Zinsen und Kosten zu zahlen. Dieses Urteil und eine Zahlungsaufforderung wurden dem belgischen Staat zugestellt; danach nahm sie am 13. Januar 1988 bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften eine Pfändung vor. Gemäß dem zugrundeliegenden Pfändungsbeschluß bezieht sich dieser auf alle Beträge, Gelder, Wertpapiere oder Gegenstände, die die Europäischen Gemeinschaften dem belgischen Staat, aus welchem Rechtsgrund auch immer, schulden oder schulden werden.

4 Mit Schreiben vom 5. April 1988 teilte die Kommission mit, daß sie die Pfändung ohne Ermächtigung des Gerichtshofes nicht zulassen könne, und daß sie demgemäß die von der Antragstellerin vorgenommene Pfändung nicht berücksichtigen werde; aufgrund dieses Schreibens hat die Antragstellerin den vorliegenden Antrag gestellt.

5 In ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen macht die Kommission insbesondere geltend, daß der Pfändungsbeschluß alle Beträge betreffe, die die Gemeinschaften dem belgischen Staat schuldeten, und somit geeignet sei, deren ordnungsgemässes Funktionieren zu behindern. Die Gemeinschaften schuldeten dem belgischen Staat nämlich erhebliche Beträge, insbesondere aufgrund der Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik, der Aufgaben des Europäischen Sozialfonds, der Beteiligungen des Europäischen Regionalfonds und des gemeinschaftlichen Rahmenprogramms im Bereich der Forschung und der technischen Entwicklung.

6 Bei der Anhörung der Parteien durch die mit den Ermittlungen beauftragte Kammer des Gerichtshofes am 18. Oktober 1988 hat die Antragstellerin erklärt, sie beschränke von jetzt an den Gegenstand der streitigen Pfändung ausdrücklich und unwiderruflich allein auf die Beträge, die die Europäischen Gemeinschaften dem belgischen Staat als Mieten schulde. Sie hat der Kommission diese Beschränkung nach der Anhörung förmlich mitgeteilt und ihren Prozessantrag dahin gehend geändert, entweder festzustellen, daß keine Ermächtigung erforderlich sei, oder die Ermächtigung allein für die als Mieten geschuldeten Beträge zu erteilen. Die Kommission hat dem Gerichtshof jedoch mitgeteilt, sie erhalte ihre Einwände aufrecht.

7 Wegen weiterer Einzelheiten der Vorgeschichte des Rechtsstreits und des Parteivorbringens wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

8 Zunächst ist auf den Hauptantrag der Antragstellerin einzugehen, wonach die Ermächtigung des Gerichtshofes in einem Fall wie dem vorliegenden deshalb nicht erforderlich sei, weil die Pfändung ihrer Art nach die Tätigkeit der Gemeinschaften in keiner Weise behindern könne. Da die Pfändung nur Beträge betreffe, die die Gemeinschaften dem belgischen Staat in jedem Falle zahlen müssten und die also schon zum Vermögen dieses Staates gehörten, könne sie die Tätigkeit der Gemeinschaften nicht beeinträchtigen.

9 Dem kann nicht gefolgt werden. Selbst wenn die Pfändung nach dem anwendbaren nationalen Recht als die Pfändung eines Gegenstands anzusehen wäre, der zum Vermögen des Schuldners gehörte, so ist sie doch geeignet, eine Zwangsmaßnahme im Sinne des Artikels 1 des Protokolls darzustellen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes kann nämlich jede Pfändungsmaßnahme bei den Gemeinschaften unter bestimmten Umständen das Funktionieren und die Unabhängigkeit der Gemeinschaften behindern.

10 Der Hauptantrag der Antragstellerin ist demgemäß abzuweisen.

11 Somit ist auf den Hilfsantrag einzugehen, der in der von der Antragstellerin nach der mündlichen Verhandlung geänderten Form auf die Erteilung der Ermächtigung des Gerichtshofes zur Durchführung der Pfändung der Beträge gerichtet ist, die die Gemeinschaften dem belgischen Staat als Mietzins schulden.

12 Die Kommission vertritt hierzu die Auffassung, diese Ermächtigung dürfe auch nicht auf die als Mietzins geschuldeten Beträge beschränkt erteilt werden, da sie das Funktionieren der Gemeinschaften stören könne.

13 Dem kann nicht gefolgt werden. Zwar kann das Funktionieren der Gemeinschaften durch Zwangsmaßnahmen behindert werden, die die Finanzierung der gemeinsamen Politiken oder die Durchführung von Aktionsprogrammen der Gemeinschaften betreffen. Eine solche Behinderung ist jedoch dann nicht zu erwarten, wenn die Pfändung die Beträge betrifft, die die Gemeinschaften dem belgischen Staat als dem Eigentümer der Gebäude als privatrechtlich vereinbarten Mietzins zu zahlen haben.

14 Hilfsweise macht die Kommission geltend, die Beschränkung der Pfändung auf die von den Gemeinschaften dem belgischen Staat als Mieten geschuldeten Beträge bleibe Dritten unbekannt. Solange der Pfändungsbeschluß bei der Kanzlei des Tribunal de première instance Brüssel aufbewahrt werde, bleibe das Risiko bestehen, daß die Kommission gegenüber anderen Schuldnern des belgischen Staates die Verwendung all jener Beträge rechtfertigen müsse, die Gegenstand des der Pfändung vom 13. Januar 1988 zugrundeliegenden Beschlusses seien.

15 Diese Einwände sind kein ausreichender Grund, um der Antragstellerin die beantragte Ermächtigung zu verweigern. Wie der Gerichtshof in seinem Beschluß vom 17. Juni 1987 in der Rechtssache 1/87 SA ( Universe Tankship/Kommission, Slg. 1987, 2807 ) festgestellt hat, beschränkt sich die Zuständigkeit des Gerichtshofes im Fall von Pfändungen auf die Prüfung der Frage, ob diese Maßnahme im Hinblick auf die Wirkungen, die sie nach dem anwendbaren nationalen Recht entfaltet, geeignet ist, das ordnungsgemässe Funktionieren und die Unabhängigkeit der Europäischen Gemeinschaften zu behindern. Wenn die Kommission oder Drittgläubiger indessen zu der Annahme kommen sollten, ihre finanziellen Interessen könnten durch eine Pfändung oder durch deren teilweise Aufhebung verletzt werden, so können sie die Rechtsbehelfe einlegen, die ihnen das anwendbare nationale Recht zur Verfügung stellt.

16 Somit ist der Antragstellerin die Ermächtigung zu erteilen, bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften den Betrag pfänden zu lassen, den ihr der belgische Staat gemäß dem der Kommission zugestellten Urteil des Tribunal de première instance Brüssel schuldet, soweit diese Pfändung sich auf die Beträge beschränkt, die die Europäischen Gemeinschaften dem belgischen Staat als Mietzins schulden.

17 Im übrigen ist der Antrag abzuweisen.

Kostenentscheidung:

Kosten

18 Gemäß Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Im vorliegenden Fall ist jede der Parteien teilweise mit ihrem Vorbringen unterlegen. Unter diesen Umständen ist jede der Parteien zur Tragung der eigenen Kosten zu verurteilen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

beschlossen :

1 ) Die Antragstellerin ist ermächtigt, bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften den Betrag pfänden zu lassen, den ihr der belgische Staat gemäß dem der Kommission zugestellten Urteil des Tribunal de premiére instance Brüssel schuldet, soweit diese Pfändung sich auf die Beträge beschränkt, die die Europäischen Gemeinschaften dem belgischen Staat als Mietzins schulden.

2 ) Im übrigen wird der Antrag abgewiesen.

3 ) Jede Partei trägt ihre eigenen Kosten.

Luxemburg, den 11. April 1989.

Ende der Entscheidung

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