Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 22.06.1989
Aktenzeichen: 103/88
Rechtsgebiete: Richlinie 71/305/EWG, EWG-Vertrag


Vorschriften:

Richlinie 71/305/EWG Art. 29 Abs. 5
EWG-Vertrag Art. 189
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Artikel 29 Absatz 5 der Richtlinie 71/305, von dem die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung dieser Richtlinie nicht wesentlich abweichen dürfen, verbietet es diesen, Bestimmungen zu erlassen, wonach bestimmte nach einem mathematischen Kriterium ermittelte Angebote von der Vergabe öffentlicher Bauaufträge ohne weiteres ausgeschlossen werden, statt die öffentlichen Auftraggeber zu verpflichten, das in der Richtlinie vorgesehene Verfahren der kontradiktorischen Überprüfung anzuwenden.

Die Mitgliedstaaten können die Überprüfung von Angeboten vorschreiben, wenn diese ungewöhnlich niedrig erscheinen, und nicht nur, wenn sie offensichtlich ungewöhnlich niedrig sind.

Die Verwaltung - auch auf kommunaler Ebene - ist ebenso wie ein nationales Gericht verpflichtet, Artikel 29 Absatz 5 der Richtlinie anzuwenden und diejenigen Bestimmungen des nationalen Rechts unangewendet zu lassen, die damit nicht im Einklang stehen.

2. In all den Fällen, in denen Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau erscheinen, können sich die einzelnen vor einem nationalen Gericht gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen berufen, wenn der Staat die Richtlinie nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in nationales Recht umgesetzt hat.

Wenn die erforderlichen Voraussetzungen dafür erfuellt sind, daß die einzelnen sich vor den nationalen Gerichten auf die Bestimmung einer Richtlinie berufen können, sind alle Träger der Verwaltung einschließlich der Gemeinden und der sonstigen Gebietskörperschaften verpflichtet, diese Bestimmungen anzuwenden.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 22. JUNI 1989. - FRATELLI COSTANZO SPA GEGEN COMUNE DI MILANO UND IMPRESA ING. LODIGIANI SPA. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: TRIBUNALE AMMINISTRATIVO REGIONALE DELLA LOMBARDIA - ITALIEN. - OFFENTLICHE BAUAUFTRAEGE - UNGEWOEHNLICH NIEDRIGE ANGEBOTE - UNMITTELBARE WIRKUNG DER RICHTLINIEN GEGENUEBER DER VERWALTUNG. - RECHTSSACHE 103/88.

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunale amministrativo regionale per la Lombardia hat mit Beschluß vom 16. Dezember 1987, beim Gerichtshof eingegangen am 30. März 1988, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag mehrere Fragen nach der Auslegung des Artikels 29 Absatz 5 der Richtlinie 71/305 des Rates vom 26. Juli 1971 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge ( ABl. L 185, S. 5 ) und des Artikels 189 Absatz 3 EWG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit, in dem die Fratelli Costanzo SpA ( im folgenden : Firma Costanzo ), die Klägerin des Ausgangsverfahrens, die Aufhebung einer Entscheidung begehrt, mit der die Giunta Municipale ( Exekutivorgan ) der Stadt Mailand zunächst das von der Firma Costanzo bei einem Verfahren zur Vergabe von öffentlichen Bauaufträgen eingereichte Angebot ausschloß und dann den in Frage stehenden Auftrag an die Impresa Ing. Lodigiano SpA ( im folgenden : Firma Lodigiani ) vergab.

3 Artikel 29 Absatz 5 der Richtlinie 71/305 des Rates bestimmt :

"Sind im Falle eines bestimmten Auftrags Angebote im Verhältnis zur Leistung offensichtlich ungewöhnlich niedrig, so überprüft der öffentliche Auftraggeber vor der Vergabe des Auftrags die Einzelposten des Angebots. Er berücksichtigt das Ergebnis dieser Überprüfung.

Zu diesem Zweck fordert er den Bieter auf, die erforderlichen Belege beizubringen, und teilt ihm gegebenenfalls mit, welche Belege als unannehmbar erachtet werden.

Sehen die Unterlagen für einen Auftrag die Vergabe zum niedrigsten Preis vor, so muß der öffentliche Auftraggeber die Ablehnung der für zu niedrig erachteten Angebote vor dem Beratenden Ausschuß, der durch den Beschluß des Rates vom 26. Juli 1971 eingesetzt wurde, begründen."

4 Artikel 29 Absatz 5 der Richtlinie 71/305 wurde in Italien durch Artikel 24 Absatz 3 des Gesetzes Nr. 584 vom 8. August 1977 zur Anpassung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge an die Richtlinien der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ( GURI Nr. 232 vom 26. 8. 1977, S. 6272 ) durchgeführt. Diese Bestimmung lautet wie folgt :

"Sind im Falle eines bestimmten Auftrags Angebote im Verhältnis zur Leistung ungewöhnlich niedrig, so überprüft der Auftraggeber, nachdem er den Bieter zur Vorlage der erforderlichen Belege aufgefordert und ihm gegebenenfalls mitgeteilt hat, welche Belege als unannehmbar erachtet werden, die Einzelposten der Angebote und kann diese ausschließen, wenn er sie nicht als gültig ansieht. In diesem Fall ist der Auftraggeber, wenn der Auftrag mit dem Kriterium der Vergabe zum niedrigsten Preis ausgeschrieben ist, verpflichtet, die Ablehnung der Angebote mit der Begründung dieser Ablehnung dem Ministerium für öffentliche Arbeiten mitzuteilen. Dieses sorgt für die Weiterleitung an den Beratenden Ausschuß für öffentliche Aufträge der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft innerhalb der in Artikel 6 Absatz 1 dieses Gesetzes vorgesehenen Frist."

5 1987 erließ die italienische Regierung dann nacheinander drei Decreti-legge, durch die Artikel 24 Absatz 3 des Gesetzes Nr. 584 vorläufig geändert wurde ( Decreto-legge Nr. 206 vom 25. Mai 1987, GURI Nr. 120 vom 26. 5. 1987, S. 5; Decreto-legge Nr. 302 vom 27. Juli 1987, GURI Nr. 174 vom 28. 7. 1987, S. 3; Decreto-legge Nr. 393 vom 25. September 1987, GURI Nr. 225 vom 26. 9. 1987, S. 3 ).

6 Diese drei Decreti-legge enthalten jeweils einen gleichlautenden Artikel 4 folgenden Inhalts :

"Zur Beschleunigung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge werden für einen Zeitraum von zwei Jahren vom Inkrafttreten dieses Dekrets an Angebote mit einem Prozentsatz des Preisnachlasses, der höher ist als der Durchschnitt der Prozentsätze der zugelassenen Angebote zuzueglich eines prozentualen Wertes, der in der Ausschreibung angegeben sein muß, als ungewöhnlich im Sinne des Artikels 24 Absatz 3 des Gesetzes Nr. 584 vom 3. August 1977 angesehen und vom Vergabeverfahren ausgeschlossen."

7 Die genannten Decreti-legge wurden unwirksam, weil sie nicht innerhalb der in der italienischen Verfassung vorgeschriebenen Frist in Gesetze umgewandelt wurden. In einem späteren Gesetz wurde jedoch festgestellt, daß die Wirkungen der auf ihrer Grundlage erlassenen Rechtsakte bestehenbleiben sollen ( Artikel 1 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 478 vom 25. November 1987, GURI Nr. 277 vom 26. 11. 1987, S. 3 ).

8 Mit Blick auf die Spiele um die Fußballweltmeisterschaft, die 1990 in Italien stattfinden werden, veranstaltete die Stadt Mailand eine beschränkte Ausschreibung zur Vergabe eines Auftrags für den Ausbau eines Fußballstadions. Als Kriterium für die Auftragsvergabe wurde der niedrigste Preis bestimmt.

9 Nach der Ausschreibung werden Angebote, die den als Preis der Arbeiten festgesetzten Grundbetrag um mehr als 10 Prozentpunkte weniger übersteigen als der Durchschnitt aller zum Vergabeverfahren zugelassenen Angebote, gemäß Artikel 4 des Decreto-legge Nr. 206 vom 25. Mai 1987 als ungewöhnlich angesehen und daher vom Vergabeverfahren ausgeschlossen.

10 Die zum Vergabeverfahren zugelassenen Angebote lagen im Durchschnitt um 19,48 % über dem als Preis der Arbeiten festgesetzten Grundbetrag. Nach der Ausschreibung mussten alle Angebote, die den Grundbetrag nicht mindestens um 9,48 % überstiegen, automatisch vom Vergabeverfahren ausgeschlossen werden.

11 Das von der Firma Costanzo eingereichte Angebot lag unter dem Grundbetrag. Am 6. Oktober 1987 beschloß daher die Giunta Municipale der Stadt Mailand, gestützt auf Artikel 4 des inzwischen an die Stelle des in der Ausschreibung genannten Decreto-legge getretenen Decreto-legge Nr. 393 vom 25. September 1987, das Angebot der Firma Costanzo vom Vergabeverfahren auszuschließen und den Auftrag an die Firma Lodigiani zu vergeben, die das niedrigste der Angebote abgegeben hatte, die der in der Ausschreibung genannten Bedingung entsprachen.

12 Die Firma Costanzo focht diese Entscheidung beim Tribunale amministrativo regionale per la Lombardia an und trug insbesondere vor, die Entscheidung sei rechtswidrig, weil sie auf ein Decreto-legge gestützt sei, das seinerseits mit Artikel 29 Absatz 5 der Richtlinie 71/305 des Rates unvereinbar sei.

13 Dieses Gericht sah sich daraufhin veranlasst, dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen :

"A - Wenn gemäß Artikel 189 EWG-Vertrag die in einer Richtlinie enthaltenen Normen das 'zu erreichende Ziel' betreffen können ( im folgenden : 'das Ziel betreffende Normen' ) oder sich auf 'die Form und die Mittel' zur Erreichung eines bestimmten Ziels beziehen können ( im folgenden : 'die Form und die Mittel betreffende Normen' ), ist dann die Norm des Artikels 29 Absatz 5 der Richtlinie 71/305 des Rates vom 26. Juli 1971 ( in dem Teil, in dem sie vorsieht, daß die Verwaltung - bei einem offensichtlich ungewöhnlich niedrigen Angebot - 'die Einzelposten des Angebots' zu überprüfen hat, wobei sie den Bieter zur Vorlage der erforderlichen Belege aufzufordern und ihm mitzuteilen hat, welche Belege als unannehmbar erachtet werden ) eine 'das Ziel betreffende Norm' , die jedenfalls so beschaffen ist, daß die Italienische Republik verpflichtet war, diese Norm zu 'rezipieren' , ohne an ihr irgendeine wesentliche Änderung vorzunehmen ( wie es tatsächlich durch Artikel 24 Absatz 3 des Gesetzes Nr. 584 vom 8. August 1977 geschehen ist ), oder aber handelt es sich um eine 'die Form und die Mittel betreffende Norm' , so daß die Italienische Republik von ihr abweichen und bestimmen könnte, daß bei ungewöhnlich niedrigen Angeboten der Bieter automatisch, ohne eine 'Überprüfung der Einzelposten des Angebots' und ohne eine Aufforderung an den Bieter ( mit dem 'ungewöhnlichen Angebot' ), 'Belege' beizubringen, von der Ausschreibung ausgeschlossen werden muß?

B - Falls die Frage A verneint wird ( in dem Sinne, daß die Norm des Artikels 29 Absatz 5 der Richtlinie 71/305 eine 'die Form und die Mittel betreffende Norm' ist ):

B - 1. Behält die Italienische Republik ( nachdem sie die genannte Norm ( mit dem Gesetz Nr. 577 vom 8. August 1977 ) 'rezipiert' hat, ohne in bezug auf das bei einem ungewöhnlich niedrigen Angebot zu befolgende Verfahren irgendeine wesentliche Änderung vorzunehmen ) die Befugnis, die innerstaatliche Rezeptionsnorm zu ändern? Konnten insbesondere die - gleichlautenden - Artikel 4 des Decreto-legge Nr. 206 vom 25. Mai 1987, des Decreto-legge Nr. 302 vom 27. Juli 1987 und des Decreto-legge Nr. 393 vom 25. September 1987 Artikel 24 des Gesetzes Nr. 584 vom 8. August 1987 ändern?

B - 2. Konnten die - gleichlautenden - Artikel 4 des Decreto-legge Nr. 206 vom 25. Mai 1987, des Decreto-legge Nr. 302 vom 27. Juli 1987 und des Decreto-legge Nr. 393 vom 25. September 1987 Artikel 29 Absatz 5 der Richtlinie 71/305/EWG - wie er durch das Gesetz Nr. 584 vom 5. April 1977 rezipiert worden war - ohne eine angemessene Begründung ändern, wenn man bedenkt, daß die Begründung - die für gemeinschaftliche Rechtsetzungsakte erforderlich ist ( Argument aus Artikel 190 EWG-Vertrag ) - auch für die innerstaatlichen Rechtsetzungsakte erforderlich erscheint, die zur Durchführung von gemeinschaftsrechtlichen Normen erlassen werden ( und die daher 'sub-primäre' Rechtsetzungsakte sind, für die in Anbetracht des Schweigens des Gesetzgebers die Regel der Begründung der 'primären' Rechtsetzungsakte gelten muß )?

C - Besteht nicht jedenfalls ein Widerspruch zwischen der Norm des Artikels 29 Absatz 5 der Richtlinie 71/305 und den Normen

a)des Artikels 24 Absatz 3 des Gesetzes Nr. 584 vom 8. August 1977 ( das sich auf 'ungewöhnlich niedrige' Angebote bezieht, während die Richtlinie Angebote erfasst, die 'offensichtlich' ungewöhnlich niedrig sind, und nur bei 'offensichtlicher' Ungewöhnlichkeit die Überprüfung der Einzelposten des Angebots usw. vorsieht );

b ) der Artikel 4 des Decreto-legge Nr. 206 vom 25. Mai 1987, des Decreto-legge Nr. 302 vom 27. Juli 1987 und des Decreto-legge Nr. 393 vom 25. September 1987 ( die die vorherige Überprüfung der Einzelposten des Angebots mit einer Aufforderung an den Bieter, Erklärungen abzugeben, entgegen der Regelung des Artikels 29 Absatz 5 der Richtlinie ausschließen; ausserdem beziehen sich diese Decreti-legge nicht auf 'offensichtlich' ungewöhnliche Angebote und scheinen insoweit ebenso wie das Gesetz Nr. 584 vom 8. August 1977 rechtswidrig zu sein )?

D - ( Falls der Gerichtshof der Ansicht ist, daß die genannten Normen der italienischen Rechtsetzungsakte im Widerspruch zu den Normen des Artikels 29 Absatz 5 der Richtlinie 71/305 stehen :) Hatte die Stadtverwaltung das Recht und die Pflicht, die zu dieser gemeinschaftsrechtlichen Norm im Widerspruch stehenden innerstaatlichen Normen nicht anzuwenden ( und dabei gegebenenfalls die Zentralverwaltung zu befragen ), oder besteht dieses Recht und diese Pflicht zur Nichtanwendung nur für die innerstaatlichen Gerichte?"

14 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, der anwendbaren Rechtsvorschriften, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

Zum zweiten Teil der dritten Frage und zur ersten Frage

15 Der zweite Teil der dritten Frage des vorlegenden Gerichts geht im wesentlichen dahin, ob Artikel 29 Absatz 5 der Richtlinie 71/305 des Rates es den Mitgliedstaaten verbietet, Bestimmungen zu erlassen, wonach bestimmte nach einem mathematischen Kriterium ermittelte Angebote von der Vergabe öffentlicher Bauaufträge ohne weiteres ausgeschlossen werden, statt den öffentlichen Auftraggeber zu verpflichten, das in der Richtlinie vorgesehene Verfahren der kontradiktorischen Überprüfung anzuwenden. Die erste Frage geht dahin, ob die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie 71/305 des Rates von der Regelung in Artikel 29 Absatz 5 dieser Richtlinie wesentlich abweichen dürfen.

16 Was den zweiten Teil der dritten Frage angeht, ist darauf hinzuweisen, daß Artikel 29 Absatz 5 der Richtlinie 71/305 dem öffentlichen Auftraggeber vorschreibt, die Einzelposten der offensichtlich ungewöhnlich niedrigen Angebote zu überprüfen, und ihn in diesem Zusammenhang dazu verpflichtet, den Bieter zur Vorlage der erforderlichen Belege aufzufordern. Nach derselben Bestimmung ist der öffentliche Auftraggeber verpflichtet, dem Bieter gegebenenfalls mitzuteilen, welche Belege als unannehmbar erachtet werden. Schließlich muß der öffentliche Auftraggeber, wenn als Kriterium für die Auftragsvergabe der niedrigste Preis bestimmt ist, die Ablehnung der für zu niedrig erachteten Angebote vor dem durch den Beschluß des Rates vom 26. Juli 1971 ( ABl. L 185, S. 15 ) eingesetzten Beratenden Ausschuß begründen.

17 Die Stadt Mailand und die italienische Regierung machen geltend, es stehe im Einklang mit dem Ziel des Artikels 29 Absatz 5 der Richtlinie, wenn das in dieser Bestimmung vorgesehene Verfahren der kontradiktorischen Überprüfung durch ein mathematisches Ausschlußkriterium ersetzt werde. Sie weisen daraufhin, daß dieses Ziel, wie der Gerichtshof im Urteil vom 10. Februar 1982 in der Rechtssache 76/81 ( Transporoute, Slg. 1982, 417, 428 ) ausgeführt habe, darin bestehe, den Bieter vor der Willkür des öffentlichen Auftraggebers zu schützen. Ein mathematisches Ausschlußkriterium biete dafür eine absolute Garantie. Es habe ausserdem gegenüber dem in der Richtlinie vorgesehenen Verfahren den Vorteil, daß es schneller angewendet werde könne.

18 Diesem Vorbringen ist nicht zu folgen. Ein mathematisches Ausschlußkriterium nimmt nämlich den Bietern, die besonders niedrige Angebote eingereicht haben, die Möglichkeit, nachzuweisen, daß diese Angebote seriös sind. Die Anwendung eines solchen Kriteriums steht im Widerspruch zu dem Ziel der Richtlinie 71/305, die Entwicklung eines echten Wettbewerbs auf dem Gebiet der öffentlichen Bauaufträge zu fördern.

19 Auf den zweiten Teil der dritten Frage ist daher zu antworten, daß Artikel 29 Absatz 5 der Richtlinie 71/305 des Rates es den Mitgliedstaaten verbietet, Bestimmungen zu erlassen, wonach bestimmte nach einem mathematischen Kriterium ermittelte Angebote von der Vergabe öffentlicher Bauaufträge ohne weiteres ausgeschlossen werden, statt den öffentlichen Auftraggeber zu verpflichten, das in der Richtlinie vorgesehene Verfahren der kontradiktorischen Überprüfung anzuwenden.

20 Zur ersten Frage ist darauf hinzuweisen, daß der Rat in Artikel 29 Absatz 5 der Richtlinie 71/305 ein genaues und detailliertes Verfahren zur Überprüfung der Angebote, die ungewöhnlich niedrig erscheinen, vorgeschrieben hat, um es den Bietern, die besonders niedrige Angebote gemacht haben, zu ermöglichen, nachzuweisen, daß diese Angebote seriös sind, und um auf diese Weise den Zugang zu öffentlichen Bauaufträgen sicherzustellen. Die Erreichung dieses Ziels wäre in Frage gestellt, wenn die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung des Artikels 29 Absatz 5 der Richtlinie von dieser Bestimmung wesentlich abweichen dürften.

21 Auf die erste Frage ist daher zu antworten, daß die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie 71/305 des Rates von der Regelung in Artikel 29 Absatz 5 dieser Richtlinie nicht wesentlich abweichen dürfen.

Zur zweiten Frage

22 Die zweite Frage des vorlegenden Gerichts geht dahin, ob die Mitgliedstaaten, nachdem sie Artikel 29 Absatz 5 der Richtlinie 71/305 des Rates ohne wesentliche Abweichung von dieser Bestimmung umgesetzt haben, in der Folge die innerstaatliche Regelung, durch die diese Umsetzung bewirkt wird, ändern dürfen, und, wenn ja, ob diese Änderung begründet werden muß.

23 Das vorlegende Gericht hat diese Frage nur für den Fall gestellt, daß sich aus der Antwort auf die erste Frage ergibt, daß die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung des Artikels 29 Absatz 5 der Richtlinie von dieser Bestimmung wesentlich abweichen dürfen.

24 In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage gegenstandslos.

Zum ersten Teil der dritten Frage

25 Der erste Teil der dritten Frage des vorlegenden Gerichts geht dahin, ob die Mitgliedstaaten nach Artikel 29 Absatz 5 der Richtlinie 71/305 des Rates die Überprüfung von Angeboten vorschreiben können, wenn diese ungewöhnlich niedrig erscheinen, und nicht nur, wenn sie offensichtlich ungewöhnlich niedrig sind.

26 Es ist darauf hinzuweisen, daß das Verfahren der Überprüfung immer dann anzuwenden ist, wenn der öffentliche Auftraggeber beabsichtigt, Angebote auszuschließen, weil sie im Verhältnis zur Leistung ungewöhnlich niedrig sind. Auf diese Weise können die Bieter unabhängig davon, welcher Schwellenwert für die Auslösung dieses Verfahrens besteht, sicher sein, daß sie nicht von dem ausgeschriebenen Auftrag ausgeschlossen werden, ohne Gelegenheit gehabt zu haben, die Seriosität ihrer Angebote darzutun.

27 Auf den ersten Teil der dritten Frage ist folglich zu antworten, daß die Mitgliedstaaten nach Artikel 29 Absatz 5 der Richtlinie 71/305 des Rates die Überprüfung von Angeboten vorschreiben können, wenn diese ungewöhnlich niedrig erscheinen, und nicht nur, wenn sie offensichtlich ungewöhnlich niedrig sind.

Zur vierten Frage

28 Die vierte Frage des vorlegenden Gerichts geht dahin, ob die Verwaltung - auch auf kommunaler Ebene - ebenso wie ein nationales Gericht verpflichtet ist, Artikel 29 Absatz 5 der Richtlinie 71/305 des Rates anzuwenden und diejenigen Bestimmungen des nationalen Rechts unangewendet zu lassen, die damit nicht im Einklang stehen.

29 Es ist darauf hinzuweisen, daß der Gerichtshof in seinen Urteilen vom 19. Januar 1982 in der Rechtssache 8/81 ( Becker, Slg. 1982, 53, 71 ) und vom 26. Februar 1986 in der Rechtssache 152/84 ( Marshall, Slg. 1986, 737, 748 ) festgestellt hat, daß sich die einzelnen in all den Fällen, in denen Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, vor einem nationalen Gericht gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen berufen können, wenn der Staat die Richtlinie nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in nationales Recht umgesetzt hat.

30 Wenn sich die einzelnen unter den genannten Voraussetzungen vor den nationalen Gerichten auf die Bestimmungen einer Richtlinie berufen können, so deshalb, weil die Verpflichtungen, die sich aus diesen Bestimmungen ergeben, für alle Behörden der Mitgliedstaaten gelten.

31 Es wäre im übrigen widersprüchlich, zwar zu entscheiden, daß die einzelnen sich vor den nationalen Gerichten auf die Bestimmungen einer Richtlinie, die die oben herausgestellten Voraussetzungen erfuellen, berufen können, um das Verhalten der Verwaltung beanstanden zu lassen, trotzdem aber die Auffassung zu vertreten, daß die Verwaltung nicht verpflichtet ist, die Bestimmungen der Richtlinie dadurch einzuhalten, daß sie die Vorschriften des nationalen Rechts, die damit nicht im Einklang stehen, unangewendet lässt. Wenn die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes einzuhaltenden Voraussetzungen dafür erfuellt sind, daß die einzelnen sich vor den nationalen Gerichten auf die Bestimmungen einer Richtlinie berufen können, sind folglich alle Träger der Verwaltung einschließlich der Gemeinden und der sonstigen Gebietskörperschaften verpflichtet, diese Bestimmungen anzuwenden.

32 Was insbesondere Artikel 29 Absatz 5 der Richtlinie 71/305 angeht, ergibt sich aus der Prüfung der ersten Frage, daß diese Bestimmung unbedingt und hinreichend genau ist, so daß die einzelnen sich gegenüber dem Staat auf sie berufen können. Die einzelnen sind daher berechtigt, sich vor den nationalen Gerichten auf diese Bestimmungen zu stützen, und alle Träger der Verwaltung einschließlich der Gemeinden und der sonstigen Gebietskörperschaften sind - wie sich aus dem Vorstehenden ergibt - verpflichtet, sie anzuwenden.

33 Auf die vierte Frage ist daher zu antworten, daß die Verwaltung - auch auf kommunaler Ebene - ebenso wie ein nationales Gericht verpflichtet ist, Artikel 29 Absatz 5 der Richtlinie 71/305 des Rates anzuwenden und diejenigen Bestimmungen des nationalen Rechts unangewendet zu lassen, die damit nicht im Einklang stehen.

Kostenentscheidung:

Kosten

34 Die Auslagen der spanischen Regierung, der italienischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem innerstaatlichen Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Tribunale amministrativo regionale per la Lombardia mit Beschluß vom 16. Dezember 1987 vorgelegten Fragen für Recht erkannt :

1 ) Artikel 29 Absatz 5 der Richtlinie 71/305 des Rates verbietet es den Mitgliedstaaten, Bestimmungen zu erlassen, wonach bestimmte nach einem mathematischen Kriterium ermittelte Angebote von der Vergabe öffentlicher Bauaufträge ohne weiteres ausgeschlossen werden, statt den öffentlichen Auftraggeber zu verpflichten, das in der Richtlinie vorgesehene Verfahren der kontradiktorischen Überprüfung anzuwenden.

2 ) Die Mitgliedstaaten dürfen bei der Umsetzung der Richtlinie 71/305 des Rates von der Regelung in Artikel 29 Absatz 5 dieser Richtlinie nicht wesentlich abweichen.

3 ) Nach Artikel 29 Absatz 5 der Richtlinie 71/305 des Rates können die Mitgliedstaaten die Überprüfung von Angeboten vorschreiben, wenn diese ungewöhnlich niedrig erscheinen, und nicht nur, wenn sie offensichtlich ungewöhnlich niedrig sind.

4 ) Die Verwaltung - auch auf kommunaler Ebene - ist ebenso wie ein nationales Gericht verpflichtet, Artikel 29 Absatz 5 der Richtlinie 71/305 des Rates anzuwenden und diejenigen Bestimmungen des nationalen Rechts unangewendet zu lassen, die damit nicht im Einklang stehen.

Ende der Entscheidung

Zurück