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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 06.07.1988
Aktenzeichen: 127/86
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag
Vorschriften:
EWG-Vertrag Art. 177 |
Ein Mitgliedstaat kann die für die vorübergehende Einfuhr von Gegenständen in Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern vorgesehene Befreiung, soweit keinerlei Anhaltspunkte für Steuerhinterziehung, Mißbrauch oder Steuerumgehung vorliegen, nicht verweigern, wenn ein Kraftfahrzeug, das einem in einem anderen Mitgliedstaat, in dem Mehrwertsteuer entrichtet wurde, niedergelassenen Arbeitgeber gehört, von einem Grenzgänger mit Wohnsitz im erstgenannten Mitgliedstaat im Rahmen der Erfuellung seines Arbeitsvertrags und in untergeordnetem Masse in seiner Freizeit genutzt wird.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (VIERTE KAMMER) VOM 6. JULI 1988. - MINISTERE PUBLIC UND FINANZMINISTER DES KOENIGREICHS BELGIEN GEGEN YVES LEDOUX. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG, VORGELEGT VON DER COUR D'APPEL LUETTICH. - MEHRWERTSTEUER - VORUEBERGEHENDE EINFUHR EINES FAHRZEUGS ZU BERUFLICHEM UND PRIVATEM GEBRAUCH. - RECHTSSACHE 127/86.
Entscheidungsgründe:
1 Die Cour d' appel Lüttich hat mit Urteil vom 12. März 1986, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Mai 1986, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Gemeinschaftsvorschriften über die Mehrwertsteuer zur Vorabentscheidung vorgelegt, um beurteilen zu können, ob die belgische Mehrwertsteuerregelung mit diesen Vorschriften vereinbar ist.
2 Diese Frage stellt sich in einem von der Staatsanwaltschaft und dem Finanzministerium des Königreichs Belgien eingeleiteten Strafverfahren gegen Herrn Yves Ledoux, einen Grenzgänger mit Wohnsitz im Belgien, der bei einer in Frankreich niedergelassenen Gesellschaft angestellt ist. Diese hatte ihm ein ihr gehörendes, in Frankreich - wo Mehrwertsteuer entrichtet worden war - zugelassenes Kraftfahrzeug zur Verfügung gestellt; aufgrund seines Arbeitsvertrags nutzte er dieses Fahrzeug zur Erfuellung dieses Vertrags und in seiner Freizeit.
3 Die belgische Finanzverwaltung duldet seit langem, daß Grenzgänger mit Wohnsitz in Belgien Kraftfahrzeuge nutzen, die ihnen von ihren in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Arbeitgebern für Fahrten zwischen ihrem Arbeitsplatz und ihrem belgischen Wohnort zur Verfügung gestellt wurden. Diese Praxis wurde durch ein Rundschreiben der belgischen Verwaltung vom 1. Mai 1984 bestätigt. Das Schreiben gestattet jedoch die Nutzung des Fahrzeugs nur für die Fahrt zum Arbeitsplatz, nicht auch für private Zwecke.
4 Herr Ledoux wurde am 22. Februar 1983 gestellt, als er die Grenze auf einem anderen als dem zu seiner Arbeitsstätte führenden Weg überschritt, und daraufhin wegen der Einfuhr eines Kraftfahrzeugs in Steuerhinterziehungsabsicht angeklagt, einer Straftat, die mit Beschlagnahme des Fahrzeugs oder Geldstrafe in Höhe seines Gegenwerts bedroht ist.
5 Das Tribunal correctionnel Neufchâteau sprach Herrn Ledoux mit der Begründung frei, daß sein Fall nirgends speziell geregelt sei. Gegen dieses Urteil legte der Finanzminister Berufung bei der Cour d' appel Lüttich ein; diese hat, um in der Rechtssache entscheiden zu können, das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage vorgelegt :
"Ist es dem belgischen Staat nach den Gemeinschaftsvorschriften auf steuerlichem Gebiet, und zwar auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer, im Rahmen des Gesetzes vom 3. Juli 1969 zur Einführung der Mehrwertsteuer, der hierzu ergangenen Durchführungsverordnungen und der Auslegung, die ihnen das Finanzministerium des Königreichs Belgien laut der gegen Yves Ledoux, wohnhaft in Marcinelle, rü Leroy 32, erhobenen Anklage gibt, gestattet, Mehrwertsteuer auf ein Fahrzeug zu erheben, das einer Gesellschaft französischen Rechts mit Sitz in Frankreich gehört und in Fankreich der Mehrwertsteuer unterliegt, wo diese Steuer auch entrichtet worden ist, wenn dieses Fahrzeug von einem in Belgien wohnhaften Angestellten dieses Unternehmens im Rahmen der Erfuellung seines Arbeitsvertrags und in seiner Freizeit genutzt wird, wobei das Fahrzeug Eigentum des französischen Arbeitgebers bleibt und nur vorübergehend und einstweilen nach Belgien eingeführt wird?"
6 Wegen weiterer Einzelheiten des dem Ausgangsverfahren zugrunde liegenden Sachverhalts, der einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen und innerstaatlichen Bestimmungen, des Verfahrensablaufs und der vor dem Gerichtshof abgegebenen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.
7 Im Zeitpunkt der Geschehnisse, die dem Ausgangsverfahren zugrunde liegen, war die Richtlinie 83/182 des Rates vom 28. März 1983 über Steuerbefreiungen innerhalb der Gemeinschaft bei vorübergehender Einfuhr bestimmter Verkehrsmittel ( ABl. L 105, S. 59 ) noch nicht erlassen. Die anwendbare gemeinschaftsrechtliche Regelung war daher die Sechste Richtlinie ( 77/388 ) des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem : einheitliche steuerliche Bemessungsgrundlage ( ABl. L 145, S. 1; nachstehend : Sechste Richtlinie ).
8 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob diese Richtlinie einen Mitgliedstaat daran hindert, Mehrwertsteuer zu erheben, wenn ein Kraftfahrzeug, das einem in einem anderen Mitgliedstaat - in dem Mehrwertsteuer entrichtet wurde - niedergelassenen Arbeitgeber gehört, von einem Grenzgänger mit Wohnsitz im erstgenannten Mitgliedstaat im Rahmen der Erfuellung seines Arbeitsvertrags und in seiner Freizeit genutzt wird.
9 Nach Artikel 14 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie gewähren die Mitgliedstaaten unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsbestimmungen unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der vorgesehenen Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Mißbräuchen festsetzen, Steuerbefreiung unter anderem für die Einfuhr von Gegenständen, die für ein Verfahren der vorübergehenden Einfuhr angemeldet worden sind. Artikel 14 Absatz 2 fasst für die Zukunft die Aufstellung gemeinschaftlicher Steuerregeln zur genaueren Beschreibung des Geltungsbereichs der Steuerbefreiungen nach Absatz 1 und der praktischen Einzelheiten ihrer Durchführung ins Auge; bis zum Inkrafttreten dieser Regeln können die Mitgliedstaaten ihre geltenden Vorschriften im Rahmen der Bestimmungen der Richtlinie beibehalten oder sie anpassen, insbesondere um die Doppelbesteuerung im Mehrwertsteuerbereich innerhalb der Gemeinschaft zu verringern.
10 Aufgrund dieser Bestimmungen müssen die Voraussetzungen, die in Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für die Befreiung von zur vorübergehenden Einfuhr abgefertigten Fahrzeugen von der Mehrwertsteuer aufgestellt wurden, einerseits die Ziele der Harmonisierung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer berücksichtigen - d. h., wie sich aus den Begründungserwägungen der Sechsten Richtlinie ergibt, die Beseitigung der Besteuerung der Einfuhr und der steuerlichen Entlastung der Ausfuhr sowie die Weiterverfolgung der effektiven Freizuegigkeit der Personen, der effektiven Liberalisierung des Güterverkehrs und der Verflechtung der Volkswirtschaften - und andererseits dem Zweck Rechnung tragen, Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und Mißbräuche im Fall der vorübergehenden Einfuhr zu verhüten.
11 Wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 3. Oktober 1985 in der Rechtssache 249/84 ( Profant, Slg. 1985, 3237 ) entschieden hat, liegt die Handhabung der Ausnahmen gemäß Artikel 14 der Sechsten Richtlinie nicht völlig im Ermessen der Behörden der Mitgliedstaaten, da diese die mit der Harmonisierung im Mehrwertsteuerbereich verfolgten grundlegenden Ziele, wie unter anderem die Förderung der Freizuegigkeit und des freien Warenverkehrs sowie das Verbot der Doppelbesteuerung, beachten müssen. Hieraus folgt, daß Artikel 14 der Sechsten Richtlinie unter Berücksichtigung der Gesamtheit der grundlegenden Normen des Gemeinschaftsrechts auszulegen ist.
12 Ein Mitgliedstaat würde daher die allgemeine Verpflichtung zur Zusammenarbeit, die den Mitgliedstaaten gemäß Artikel 5 des Vertrages obliegt, verletzen, wenn er durch eine innerstaatliche Maßnahme zur Aufrechterhaltung oder Schaffung eines Hindernisses für die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer beitrüge, die in seinem Hoheitsgebiet wohnen, ihre berufliche Tätigkeit jedoch in einem anderen Mitgliedstaat ausüben.
13 Um festzustellen, ob dies bei einem Sachverhalt der in der Vorlagefrage geschilderten Art der Fall sein kann, ist zunächst der Fall der beruflichen Nutzung eines Kraftfahrzeugs durch einen im Mitgliedstaat der Einfuhr wohnhaften Grenzgänger zu prüfen.
14 Wenn die Mitgliedstaaten die nach Artikel 14 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie zulässigen Voraussetzungen für die in Buchstabe c dieses Absatzes vorgesehene Befreiung vorübergehend eingeführter Gegenstände von der Mehrwertsteuer festsetzen, haben sie den Zweck der Befreiung vorübergehender Einfuhren zu beachten.
15 Die blosse Tatsache, daß ein Fahrzeug in das Land eingeführt wird, in dem der Benutzer seinen Wohnsitz hat, ändert nichts an der vorübergehenden Natur dieser Einfuhr, wenn zum einen das Fahrzeug dem Grenzgänger von dessen Arbeitgeber für die Dauer des Arbeitsverhältnisses zur Verfügung gestellt wird, dem - im Nachbarstaat, wo Mehrwertsteuer entrichtet wurde, niedergelassenen - Arbeitgeber gehört, regelmässig wieder in diesen Staat ausgeführt wird und spätestens bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses dorthin zurückkehren soll, und wenn zum anderen keinerlei Anhaltspunkte für Steuerhinterziehung, Mißbrauch oder Steuerumgehung vorliegen.
16 Der Gerichtshof hat zwar in seinen Urteilen vom 9. Oktober 1980 in der Rechtssache 823/79 ( Carciati, Slg. 1980, 2773 ) und vom 11. Dezember 1984 in der Rechtssache 134/83 ( Abbink, Slg. 1984, 4097 ) entschieden, daß der Mitgliedstaat der Einfuhr die Befreiung eines vorübergehend eingeführten Kraftfahrzeugs von der Mehrwertsteuer an die Bedingung knüpfen kann, daß der Importeur nicht im Hoheitsgebiet dieses Staates wohnt; dieser Grundsatz ist gerechtfertigt, da das Fahrzeug von der im Mitgliedstaat der Einfuhr wohnhaften Person, die gewöhnlich auch Eigentümerin des Fahrzeugs ist, in der Regel für ihren persönlichen Gebrauch und auf Dauer eingeführt wird. Diese Rechtfertigung entfällt jedoch, wenn ein in einem Mitgliedstaat wohnhafter Grenzgänger, der nicht Eigentümer des Fahrzeugs ist, dieses im Rahmen der Ausübung seines Berufs tatsächlich vorübergehend einführt.
17 Zu prüfen bleibt der Fall, daß es der Arbeitsvertrag dem Grenzgänger gestattet, das Kraftfahrzeug über die berufliche Nutzung im oben bezeichneten Sinne hinaus auch für nichtberufliche Zwecke zu nutzen.
18 Hierzu ist festzustellen, daß eine nichtberufliche Nutzung, der neben der beruflichen Nutzung untergeordnete Bedeutung zukommt und die im Arbeitsvertrag vorgesehen, somit also nach wirtschaftlicher Betrachtung Teil des dem Arbeitnehmer gewährten Entgelts ist, rechtlich in gleicher Weise zu behandeln ist wie die berufliche Nutzung. Die gegenteilige Auffassung würde einen Grenzgänger faktisch daran hindern, bestimmte Vergünstigungen, die ihm sein Arbeitgeber eingeräumt hat, in Anspruch zu nehmen, nur weil er seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats der Einfuhr hat. Dieser Arbeitnehmer wäre hierdurch gegenüber seinen im Land ihres Arbeitgebers wohnhaften Kollegen benachteiligt, was die Ausübung seines Rechts auf Freizuegigkeit innerhalb der Gemeinschaft beeinträchtigen würde.
19 Es ist in jedem Einzelfall Sache des innerstaatlichen Gerichts, aufgrund der jeweils maßgebenden Tatsachen darüber zu befinden, ob die nicht streng berufliche Nutzung im Verhältnis zur beruflichen Nutzung untergeordneten Charakter hat.
20 Auf die Frage der Cour d' appel Lüttich ist daher zu antworten, daß die Sechste Richtlinie ( 77/388 ) des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem : einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage - einen Mitgliedstaat daran hindert, Mehrwertsteuer zu erheben, wenn ein Kraftfahrzeug, das einem in einem anderen Mitgliedstaat, in dem Mehrwertsteuer entrichtet wurde, niedergelassenen Arbeitgeber gehört, von einem Grenzgänger mit Wohnsitz im erstgenannten Mitgliedstaat im Rahmen der Erfuellung seines Arbeitsvertrags und in untergeordnetem Masse in seiner Freizeit genutzt wird.
Kostenentscheidung:
Kosten
21 Die Auslagen der belgischen und der dänischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens. Die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Tenor:
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF ( Vierte Kammer )
auf die ihm von der Cour d' appel Lüttich mit Urteil vom 12. März 1986 vorgelegte Frage für Recht erkannt :
Die Sechste Richtlinie ( 77/388 ) des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem : einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage - hindert einen Mitgliedstaat daran, Mehrwertsteuer zu erheben, wenn ein Kraftfahrzeug, das einem in einem anderen Mitgliedstaat, in dem Mehrwertsteuer entrichtet wurde, niedergelassenen Arbeitgeber gehört, von einem Grenzgänger mit Wohnsitz im erstgenannten Mitgliedstaat im Rahmen der Erfuellung seines Arbeitsvertrags und in untergeordnetem Masse in seiner Freizeit genutzt wird.
Ende der Entscheidung
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