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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 20.04.1988
Aktenzeichen: 151/87
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 177
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Eine innerstaatliche Rechtsvorschrift, wonach die Altersrente auf einer niedrigeren Grundlage berechnet wird, wenn der Ehegatte des Berechtigten selbst eine Alters - oder Hinterbliebenenrente oder eine Leistung gleicher Art erhält, ist keine Antikumulierungsvorschrift im Sinne von Artikel 12 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (ERSTE KAMMER) VOM 20. APRIL 1988. - CORNELIS G. BAKKER GEGEN RIJKSTIENST VOOR WERKNEMERSPENSIONEN. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG, VORGELEGT VOM ARBEIDSRECHTBANK ANTWERPEN. - SOZIALE SICHERHEIT - ZUSAMMENTREFFEN VON LEISTUNGEN. - RECHTSSACHE 151/87.

Entscheidungsgründe:

1 Die Arbeidsrechtbank Antwerpen hat mit Urteil vom 8. Mai 1987, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Mai 1987, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung von Artikel 12 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu - und abwandern ( ABl. 1971, L 149, S. 2 ), zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen dem niederländischen Staatsangehörigen C. G. Bakker und dem Rijksdienst voor Werknemerspensiönen ( Staatliches Amt für Arbeitnehmerrenten, nachstehend : RWP ), einem belgischen Sozialversicherungsträger.

3 Herrn Bakker, der sowohl in den Niederlanden als auch in Belgien eine lohnabhängige Tätigkeit ausgeuebt hatte, wurde in beiden Mitgliedstaaten eine Altersrente zuerkannt, und zwar ausschließlich aufgrund der Bestimmungen des jeweiligen innerstaatlichen Rechts.

4 In den Niederlanden gewährte ihm die Sociale Verzekeringsbank ( Sozialversicherungskasse ) durch Bescheid vom 15. Oktober 1985 mit Wirkung vom 1. Mai 1984 eine Altersrente nach den Bestimmungen der Algemene Ouderdomswet ( Allgemeines Gesetz über die Altersversicherung; nachstehend : AOW ) in ihrer vor dem 1. April 1985 geltenden Fassung. Diese auf der Grundlage von 100 % des Mindestnettogehalts berechnete Rente umfasste auch die Rente von Frau Bakker, denn nach den damals geltenden Bestimmungen der AOW drückten sich in ihr nicht nur die Rentenansprüche aus, die Herr Bakker für sich selbst erworben hatte, sondern auch die korrespondierenden Ansprüche seiner - berufslosen - Ehefrau. Gemäß den genannten Vorschriften war nämlich an den Ehemann, und nur an ihn, eine Rente zu zahlen, die der Summe der Ansprüche entsprach, die jeder der beiden Ehegatten jeweils für sich selbst erworben hatte.

5 In Belgien gewährte der RWP Herrn Bakker mit Bescheid vom 29. März 1985 eine Altersrente nach Artikel 10 Absatz 1 des belgischen Koninklijk besluit ( Königliche Verordnung ) Nr. 50 vom 24. Oktober 1967 in der Fassung des Gesetzes vom 15. Mai 1984. Gemäß dieser Bestimmung erwerben Arbeitnehmer einen Anspruch auf Altersrente in Höhe eines Bruchteils der bezogenen Bruttolöhne. Dabei werden diese Löhne berücksichtigt :

- in Höhe von 75 % bei Arbeitnehmern, deren Ehefrau jegliche Berufstätigkeit ausser einer vom König genehmigten aufgegeben hat und weder Alters - noch Hinterbliebenenrente noch solchen Renten gleichgestellte Vergünstigungen noch schließlich eine der in Artikel 25 bezeichneten Entschädigungen oder sonstigen Geldleistungen bezieht (" Familiensatz ");

- in Höhe von 60 % bei sonstigen Arbeitnehmern (" Satz für Alleinstehende ").

Da Frau Bakker am 29. März 1985 keinen persönlichen Leistungsanspruch hatte, wurde die belgische Rente ihres Ehemanns auf der Grundlage des "Familiensatzes" von 75 % berechnet.

6 Mit Wirkung vom 1. April 1985 wurde die AOW in Anwendung des in der Richtlinie 79/7 des Rates vom 19. Dezember 1978 ( ABl. 1979, L 6, S. 24 ) niedergelegten Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen geändert. Die Neuregelung bestimmt u. a., daß alle verheirateten Personen, Männer wie Frauen, die in den Niederlanden ansässig sind oder waren, mit der Vollendung des 65. Lebensjahres einen eigenen Anspruch auf eine Altersrente erwerben, der auf der Grundlage von 50 % des Mindestnettolohns berechnet wird. Aufgrund dieser neuen Vorschriften zahlte die Sociale Verzekeringsbank den Eheleuten Bakker ab dem 1. September 1985, als Frau Bakker 65 Jahre alt geworden war, zwei jeweils auf der Grundlage von 50 % des Mindestnettolohns berechnete Altersrenten.

7 Nachdem der RWP darüber unterrichtet worden war, daß Frau Bakker nunmehr eine Altersrente nach der AOW erhielt, kürzte er mit Bescheid vom 26. März 1986 den Betrag der Altersrente von Herrn Bakker mit Wirkung vom 1. September 1985 in der Weise, daß er nicht mehr den "Familiensatz" von 75 %, sondern den "Satz für Alleinstehende" von 60 % anwandte.

8 Gegen diesen Bescheid erhob Herr Bakker Klage vor der Arbeidsrechtbank Antwerpen; diese hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt :

"1 ) Ist Artikel 12 Absatz 2 Satz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 dahin auszulegen, daß die Wendung 'Rechtsvorschriften..., (( die )) für den Fall des Zusammentreffens einer Leistung mit anderen Leistungen der sozialen Sicherheit (( vorsehen )), daß die Leistungen gekürzt... werden' auch eine Vorschrift - wie Artikel 10 Absatz 1 der Königlichen Verordnung Nr. 50 vom 24. Oktober 1967 in der Fassung des Gesetzes vom 15. Mai 1984 - umfasst, die bestimmt, daß die zuzuerkennende Altersrente auf einer niedrigeren Grundlage berechnet wird ( Betrag für Alleinstehende gegenüber dem für Familien, d. h. 60 % gegenüber 75 %), je nachdem, ob der Ehepartner des Betroffenen eine Alters - oder Hinterbliebenenrente oder eine Leistung gleicher Art erhält oder nicht?

2 ) Ist Artikel 12 Absatz 2 Satz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 des Rates dahin auszulegen,

a ) daß Leistungen aufgrund einer Regelung, die Verheirateten eine selbständige Altersrente zuerkennt und dabei berücksichtigt, daß sie verheiratet sind ( wie die niederländische AOW seit dem 1. April 1985 ), und Leistungen gemäß einer Regelung, die einem Verheirateten eine erhöhte ( Familien-)Rente zuerkennt (( wie Artikel 10 Absatz 1 Buchstabe a der Königlichen Verordnung Nr. 50 im belgischen Recht )) im Verhältnis zueinander als 'Leistungen gleicher Art bei... Alter' anzusehen sind und

b ) daß bei der Auslegung des Begriffs 'Leistungen gleicher Art bei... Alter' zu berücksichtigen ist, daß die Rechtsvorschriften verschiedener Mitgliedstaaten ( wie im vorliegenden Fall die niederländischen und die belgischen ) den Verheiratetenstatus eines Rentenantragstellers bei Zuerkennung und Berechnung einer 'Verheiratetenrente' oder einer 'Familienrente' in verschiedener Weise berücksichtigen?"

9 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, des Verfahrensablaufs und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

Zur ersten Frage

10 Mit seiner ersten Frage will das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob eine innerstaatliche Vorschrift wie Artikel 10 Absatz 1 der belgischen Königlichen Verordnung Nr. 50 vom 24. Oktober 1967 in der Fassung des Gesetzes vom 15. März 1984, wonach die Altersrente auf einer niedrigeren Grundlage ( nämlich aufgrund eines Satzes für Alleinstehende von 60 % anstatt eines Familiensatzes von 75 %) berechnet wird, wenn der Ehegatte des Berechtigten eine Alters - oder Hinterbliebenenrente oder eine Leistung gleicher Art erhält, eine Antikumulierungsvorschrift im Sinne von Artikel 12 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 ist.

11 Gemäß Artikel 12 Absatz 2 Satz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 sind die Antikumulierungsvorschriften eines Mitgliedstaats "einem Berechtigten gegenüber auch dann anwendbar, wenn es sich um Leistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats erworben wurden,... handelt ". Nach Satz 2 des gleichen Absatzes "gilt (( dies )) jedoch nicht, wenn der Berechtigte Leistungen gleicher Art bei Invalidität, Alter, Tod ( Renten ) oder Berufskrankheit erhält, die von den Trägern zweier oder mehrerer Mitgliedstaaten gemäß den Artikeln 46, 50 und 51 oder gemäß Artikel 60 Absatz 1 Buchstabe b festgestellt werden ".

12 Aus diesen Bestimmungen geht deutlich hervor, daß die in Artikel 12 genannten Antikumulierungsvorschriften nur Fälle betreffen, in denen ein und dieselbe Person Anspruch auf mehrere Leistungen hat.

13 Diese Auslegung entspricht im übrigen dem Zweck dieses Artikels, der, wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat ( siehe insbesondere die Urteile vom 15. September 1983 in der Rechtssache 279/82, Jerzak/Bundesknappschaft, Slg. 1983, 2603, sowie vom 13. März 1986 in der Rechtssache 296/84, Sinatra/FNROM, Slg. 1986, 1047 ), als Ausgleich für die Vorteile anzusehen ist, die das Gemeinschaftsrecht den Arbeitnehmern dadurch gewährt, daß es diesen das Recht gibt, die gleichzeitige Anwendung der Sozialrechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu verlangen. Artikel 12 soll verhindern, daß den Arbeitnehmern aus dieser gleichzeitigen Anwendung Vorteile erwachsen, die nach innerstaatlichem wie nach Gemeinschaftsrecht als unangemessen anzusehen sind.

14 Andererseits ist festzustellen, daß eine innerstaatliche Rechtsvorschrift wie Artikel 10 der belgischen Königlichen Verordnung Nr. 50, die aus sozialen Gründen eine Erhöhung der einer verheirateten Person zustehenden Altersrente vorsieht, vorausgesetzt, daß der Ehegatte des Berechtigten nicht selbst eine Altersrente oder Leistungen gleicher Art erhält, einen anderen Sachverhalt regelt als denjenigen, auf den sich Artikel 12 der Verordnung Nr. 1408/71 bezieht. Denn eine Vorschrift wie der genannte Artikel 10 erfasst nicht Fälle, in denen ein und dieselbe Person mehrere Leistungen erhält, sondern Fälle, in denen Alters - oder Hinterbliebenenrenten an zwei verschiedene Personen gezahlt werden.

15 Auf die erste Frage der Arbeidsrechtbank Antwerpen ist daher zu antworten, daß eine innerstaatliche Rechtsvorschrift wie Artikel 10 Absatz 1 der belgischen Königlichen Verordnung Nr. 50 vom 24. Oktober 1967 in der Fassung des Gesetzes vom 15. März 1984, wonach die Altersrente auf einer niedrigeren Grundlage ( nämlich aufgrund eines "Satzes für Alleinstehende" von 60 % anstatt eines "Familiensatzes" von 75 %) berechnet wird, wenn der Ehegatte des Berechtigten selbst eine Alters - oder Hinterbliebenenrente oder eine Leistung gleicher Art erhält, keine Antikumulierungsvorschrift im Sinne von Artikel 12 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 ist.

Zur zweiten Frage

16 Angesichts der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage gegenstandslos.

Kostenentscheidung:

Kosten

17 Die Auslagen der Regierung des Königreichs Belgien, der Regierung des Königreichs der Niederlande und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem innerstaatlichen Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF ( Erste Kammer )

auf die ihm von der Arbeidsrechtbank Antwerpen mit Urteil vom 8. Mai 1987 vorgelegten Fragen für Recht erkannt :

Eine innerstaatliche Rechtsvorschrift wie Artikel 10 Absatz 1 der belgischen Königlichen Verordnung Nr. 50 vom 24. Oktober 1967 in der Fassung des Gesetzes vom 15. März 1984, wonach die Altersrente auf einer niedrigeren Grundlage ( nämlich aufgrund eines "Satzes für Alleinstehende" von 60 % anstatt eines "Familiensatzes" von 75 %) berechnet wird, wenn der Ehegatte des Berechtigten selbst eine Alters - oder Hinterbliebenenrente oder eine Leistung gleicher Art erhält, ist keine Antikumulierungsvorschrift im Sinne von Artikel 12 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971.

Ende der Entscheidung

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