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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 27.09.1988
Aktenzeichen: 165/87
Rechtsgebiete: EWGV
Vorschriften:
EWGV Art. 173 Abs. 1 | |
EWGV Art. 235 | |
EWGV Art. 113 | |
EWGV Art. 28 |
1. Die Zuständigkeit des Rates für den Beschluß, das Internationale Übereinkommen über das Harmonisierte System zur Bezeichnung und Codierung der Waren abzuschließen, das von den Vertragsparteien für ihre Zolltarif - und Statistiknomenklaturen verwendet werden soll, beruhte auf den Artikeln 28 und 113 EWG-Vertrag.
Der Rat verfügt nämlich im Zolltarifbereich über eine allgemeine Zuständigkeit, die als solche sowohl unter Artikel 28 als auch unter Artikel 113 EWG-Vertrag fällt, da sie nicht davon abhängig ist, ob die Änderung der Sätze des gemeinsamen Zolltarifs autonom ( Artikel 28 ) oder im Rahmen von Zollabkommen oder anderen Maßnahmen der gemeinsamen Handelspolitik ( Artikel 113 ) erfolgt ist. Die Artikel 28 und 113 EWG-Vertrag stellen zusammen die geeignete Rechtsgrundlage für die Festlegung einer Zolltarifnomenklatur dar, die für die Erhebung der Zölle unerläßlich ist.
Die Zuständigkeit des Rates für die Festlegung einer Statistiknomenklatur für den Aussenhandel der Gemeinschaft ergibt sich aus Artikel 113 EWG-Vertrag, da die Aussenhandelsstatistiken, ebenso wie die dazugehörende Nomenklatur, ein unentbehrliches Instrument einer Handelspolitik darstellen.
2. Die Tatsache, daß ein Rechtsakt, den ein Organ erlassen will, einen anderen, auf Artikel 235 gestützten Rechtsakt berühren kann, bedeutet nicht zwangsläufig, daß auf diese Bestimmung als Rechtsgrundlage zurückgegriffen werden muß. Dieser Rückgriff kommt nur in Betracht, wenn das betreffende Organ seine Zuständigkeit auf keine andere Vertragsbestimmung stützen kann.
3. Da der Rat jederzeit berechtigt ist, das Parlament anzuhören, kann der Umstand, daß eine solche Anhörung stattgefunden hat, obwohl sie nicht obligatorisch war, und Auswirkungen auf den Inhalt des erlassenen Rechtsakts haben konnte, anders als im umgekehrten Falle der Nichtbeachtung der Anhörungspflicht nicht als rechtsfehlerhaft angesehen werden.
URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 27. SEPTEMBER 1988. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN RAT DES EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN. - INTERNATIONALES UEBEREINKOMMEN UEBER DAS HARMONISIERTE SYSTEM ZUR BEZEICHNUNG UND CODIERUNG DER WAREN - NICHTIGKEITSKLAGE - RECHTSGRUNDLAGE. - RECHTSSACHE 165/87.
Entscheidungsgründe:
1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 4. Juni 1987 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 173 Absatz 1 EWG-Vertrag Klage erhoben auf Nichtigerklärung des Beschlusses 87/369 des Rates vom 7. April 1987 über den Abschluß des Internationalen Übereinkommens über das Harmonisierte System zur Bezeichnung und Codierung der Waren sowie des dazugehörigen Änderungsprotokolls ( ABl. L 198, S. 1 ).
2 Dieses Übereinkommen, das seit dem 1. Januar 1988 in Kraft ist, wurde am 14. Juni 1983 vom Rat für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Zollwesens angenommen; es soll das Abkommen vom 15. Dezember 1950 über das Zolltarifschema für die Einreihung der Waren in die Zolltarife ( United Nations Treaty Series, Band 347, S. 127 ) ersetzen, das dem gemeinsamen Zolltarif ( GZT ) der Gemeinschaft zugrunde lag.
3 Die Kommission beanstandet die Rechtsgrundlage des angefochtenen Beschlusses, der ausschließlich in den Bereich der Handelspolitik falle und deshalb ihrem Vorschlag entsprechend nur auf Artikel 113 und nicht auf die Artikel 28, 113 und 235 EWG-Vertrag hätte gestützt werden dürfen.
4 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, des Verfahrensablaufs sowie des Parteivorbringens wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.
5 Vorab ist darauf hinzuweisen, daß das in dem streitigen Beschluß genannte Übereinkommen im wesentlichen bezweckt, ein harmonisiertes System zur Bezeichnung und Codierung der Waren einzuführen, das von den Vertragsparteien für ihre Zolltarif - und Statistiknomenklaturen verwendet werden soll.
6 Um über die Begründetheit der Klage der Kommission entscheiden zu können, ist zu prüfen, ob der Rat für den Erlaß des angefochtenen Beschlusses zuständig war, wobei die beiden Aspekte, die Gegenstand des genannten Übereinkommens sind, nämlich eine Zolltarifnomenklatur sowie eine Statistiknomenklatur, zu berücksichtigen sind.
7 Was den erstgenannten Aspekt betrifft, so ergibt sich aus dem Wortlaut des Artikels 28 EWG-Vertrag, der Rechtsgrundlage für "alle autonomen Änderungen oder Aussetzungen der Sätze des gemeinsamen Zolltarifs", und des Artikels 113 EWG-Vertrag, der eine nach einheitlichen Grundsätzen gestaltete gemeinsame Handelspolitik vorsieht, was insbesondere für die Änderung von Zollsätzen und den Abschluß von Zollabkommen gilt, daß keine dieser beiden Vorschriften dem Rat ausdrücklich die Befugnis verleiht, eine Zolltarifnomenklatur festzulegen.
8 Es ist jedoch festzustellen, daß die Festlegung einer Zolltarifnomenklatur für die Erhebung von Zöllen unerläßlich ist. Denn ohne ein System zur Tarifierung von Waren wäre es unmöglich, die Waren bestimmten Tarifpositionen zuzuordnen. Daraus folgt, daß die dem Rat übertragene Zuständigkeit für die Änderung von Zollsätzen mangels einer ausdrücklichen Vertragsbestimmung zwangsläufig auch die Zuständigkeit einschließt, die Nomenklatur für die Anwendung des gemeinsamen Zolltarifs festzulegen und zu ändern.
9 Aus dieser Feststellung ergibt sich, daß der Rat im Zolltarifbereich über eine allgemeine Zuständigkeit verfügt, die als solche sowohl unter Artikel 28 als auch unter Artikel 113 EWG-Vertrag fällt, da sie nicht davon abhängig ist, ob die Änderung der Sätze des GZT autonom ( Artikel 28 ) oder im Rahmen von Zollabkommen oder anderen Maßnahmen der gemeinsamen Handelspolitik ( Artikel 113 ) erfolgt ist.
10 Die Ansicht der Kommission, daß der Anwendungsbereich des Artikels 28 in dem des Artikels 113 EWG-Vertrag aufgehe, ist deshalb zurückzuweisen.
11 Es ist hinzuzufügen, daß, wenn die Zuständigkeit eines Organs auf zwei Vertragsbestimmungen beruht, das Organ verpflichtet ist, die entsprechenden Rechtsakte auf der Grundlage dieser beiden Bestimmungen zu erlassen.
12 Die Wahl dieser doppelten Rechtsgrundlage entspricht im übrigen einer ständigen Praxis der Gemeinschaftsorgane im Zolltarifbereich, die dadurch bestätigt worden ist, daß die Einheitliche Europäische Akte die Verfahrenserfordernisse des Artikels 28 denen des Artikels 113 EWG-Vertrag angeglichen hat.
13 Daher ist festzustellen, daß die Artikel 28 und 113 EWG-Vertrag zusammen die geeignete Rechtsgrundlage für die Festlegung einer Zolltarifnomenklatur und folglich auch für den Abschluß eines entsprechenden internationalen Übereinkommens darstellen.
14 Was sodann die Statistiknomenklatur angeht, so handelt es sich bei den Statistiknomenklaturen im Sinne des Übereinkommens, auf das sich der angefochtene Beschluß bezieht, um "von einer Vertragspartei festgelegte Warennomenklaturen zum Erfassen der für die Aufstellung von Einfuhr - und Ausfuhrhandelsstatistiken erforderlichen Daten" ( Artikel 1 Buchstabe c des Übereinkommens ), das heisst, in bezug auf die Gemeinschaft, um die Statistiken ihres Aussenhandels unter Ausschluß der Statistiken des innergemeinschaftlichen Handels.
15 Die Zuständigkeit für die Festlegung einer solchen Statistiknomenklatur ergibt sich aus Artikel 113 EWG-Vertrag. Die Aussenhandelsstatistiken stellen nämlich, ebenso wie die dazugehörende Nomenklatur, ein unentbehrliches Instrument einer Handelspolitik dar. Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß die Aufzählung der handelspolitischen Maßnahmen in Artikel 113 keinen abschließenden Charakter hat, sondern nur beispielhaft ist.
16 Der Rat ist indessen der Ansicht, daß der Rückgriff auf Artikel 235 dadurch gerechtfertigt sei, daß das genannte Übereinkommen einen Rechtsakt berühre, der seinerseits auf diesen Artikel gestützt sei, nämlich die Verordnung Nr. 1445/72 des Rates vom 24. April 1972 über das Warenverzeichnis für die Statistik des Aussenhandels der Gemeinschaft und des Handels zwischen ihren Mitgliedstaaten ( Nimexe ) ( ABl. L 161, S. 1 ).
17 Die Ansicht des Rates ist zurückzuweisen. Die Tatsache, daß der angefochtene Beschluß einen anderen, auf Artikel 235 gestützten Rechtsakt berühren kann, bedeutet nicht zwangsläufig, daß auf diese Bestimmung als Rechtsgrundlage zurückgegriffen werden muß. Dieser Rückgriff kommt nur in Betracht, wenn das betreffende Organ seine Zuständigkeit auf keine andere Vertragsbestimmung stützen kann ( vgl. Urteil vom 26. März 1987 in der Rechtssache 45/86, Kommission/Rat, Slg. 1987, 1493 ).
18 Hieraus ergibt sich, daß sich der Rat, da er aufgrund der Artikel 28 und 113 EWG-Vertrag für den Erlaß des streitigen Beschlusses zuständig war, nicht auf Artikel 235 stützen konnte.
19 Da jedoch bei Erlaß des angefochtenen Beschlusses, vor Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte, Artikel 28 EWG-Vertrag ebenso wie Artikel 235 Einstimmigkeit innerhalb des Rates vorschrieb, ist die festgestellte Rechtswidrigkeit im vorliegenden Fall ein rein formaler Fehler, der nicht zur Nichtigkeit des Rechtsakts führen kann.
20 Zwar verlangt Artikel 235 im Unterschied zu Artikel 28 die Anhörung des Europäischen Parlaments, und diese Anhörung, die im vorliegenden Fall stattgefunden hat, kann Auswirkungen auf den Inhalt des erlassenen Rechtsakts haben. Während aber die Nichtbeachtung der Anhörungspflicht zur Nichtigkeit des betreffenden Rechtsakts führt ( Urteil vom 29. Oktober 1980 in der Rechtssache 138/79, Roquette Frères/Rat, Slg. 1980, 3333 ), kann die Anhörung des Parlaments, zu der der Rat jederzeit berechtigt ist, nicht als rechtswidrig angesehen werden, auch wenn sie nicht obligatorisch ist.
21 Aus alledem ergibt sich, daß die Klage abzuweisen ist.
Kostenentscheidung:
Kosten
22 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Gemäß § 3 dieses Artikels kann der Gerichtshof die Kosten gegeneinander aufheben, wenn ein aussergewöhnlicher Grund gegeben ist.
23 Obgleich die Klage der Kommission unter den gegebenen Umständen wegen des rein formalen Charakters der festgestellten Rechtswidrigkeit abzuweisen ist, sind die Kosten nach Ansicht des Gerichtshofes gegeneinander aufzuheben, da der Rechtsauffassung der Kommission zu einem wesentlichen Teil gefolgt worden ist.
Tenor:
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
für Recht erkannt und entschieden :
1 ) Die Klage wird abgewiesen.
2 ) Jede Partei trägt ihre eigenen Kosten.
Ende der Entscheidung
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