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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 28.04.1988
Aktenzeichen: 170/86
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 177
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Da weder die Bestimmungen noch die Begründungserwägungen der Verordnung Nr. 1078/77 erkennen lassen, daß die nach dieser Verordnung eingegangene Nichtvermarktungsverpflichtung zur Folge haben könnte, daß die betroffenen Erzeuger bei ihrem Auslaufen die Milchlieferungen nicht wiederaufnehmen könnten, stellt der Umstand, daß diese Erzeuger wegen ihrer Verpflichtung völlig und für die gesamte Geltungsdauer einer neuen Regelung zur Einführung einer zusätzlichen Abgabe für Milch von der Zuteilung einer Referenzmenge nach dieser neuen Regelung ausgeschlossen sein können, eine Verletzung des berechtigten Vertrauens dieser Erzeuger darauf dar, daß die Regelung über die Nichtvermarktungsprämien, der sie sich unterwarfen, nur eine begrenzte Tragweite haben würde.

Die Verordnung Nr. 857/84 in ihrer durch die Verordnung Nr. 1371/84 ergänzten Fassung ist daher insoweit ungültig, als sie keine Zuteilung einer Referenzmenge an Erzeuger vorsieht, die in Erfuellung einer nach der Verordnung Nr. 1078/77 eingegangenen Verpflichtung in dem vom betreffenden Mitgliedstaat gewählten Referenzjahr keine Milch geliefert haben.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 28. APRIL 1988. - GEORG VON DEETZEN GEGEN HAUPTZOLLAMT HAMBURG-JONAS. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG, VORGELEGT VOM FINANZGERICHT HAMBURG. - ZUSAETZLICHE ABGABE FUER MILCH. - RECHTSSACHE 170/86.

Entscheidungsgründe:

1 Das Finanzgericht Hamburg hat mit Beschluß vom 26. Juni 1986, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Juli 1986, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Gültigkeit der Gemeinschaftsregelung über die zusätzliche Abgabe für Milch zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Herrn von Deetzen, Inhaber eines landwirtschaftlichen Betriebs, und dem Hauptzollamt Hamburg-Jonas. Herrn von Deetzen war eine Nichtvermarktungsprämie nach der Verordnung Nr. 1078/77 des Rates vom 17. Mai 1977 zur Einführung einer Prämienregelung für die Nichtvermarktung von Milch und Milcherzeugnissen und die Umstellung der Milchkuhbestände ( ABl. L 131, S. 1 ) gewährt worden. Die Gewährung der Prämie war an die Bedingung geknüpft, daß der Begünstigte während eines am 7. September 1985 endenden Zeitraums von fünf Jahren weder Milch noch Milcherzeugnisse produziert.

3 Am 22. Mai 1985 beantragte Herr von Deetzen bei den zuständigen deutschen Stellen, ihm eine Referenzmenge von 190 665 kg Milch gemäß der Regelung über die zusätzliche Abgabe für Milch zuzuteilen, die inzwischen mit der Verordnung Nr. 856/84 des Rates vom 31. März 1984 zur Änderung der Verordnung Nr. 804/68 über die gemeinsame Marktorganisation für Milch und Milcherzeugnisse ( ABl. L 90, S. 10 ) eingeführt und durch die Verordnung Nr. 857/84 des Rates vom 31. März 1984 über Grundregeln für die Anwendung der Abgabe gemäß Artikel 5 c der Verordnung Nr. 804/68 im Sektor Milch und Milcherzeugnisse ( ABl. L 90, S. 13 ) und die Verordnung Nr. 1371/84 der Kommission vom 16. Mai 1984 mit den Durchführungsbestimmungen für die Zusatzabgabe nach Artikel 5 c der Verordnung Nr. 804/68 ( ABl. L 132, S. 11 ) ergänzt worden war. Die von Herrn von Deetzen beantragte Referenzmenge entsprach der Menge, die er im Jahr vor Inanspruchnahme der Prämie ermolken hatte.

4 Dieser Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, daß Herr von Deetzen bei Inkrafttreten der deutschen Durchführungsbestimmungen zur Regelung über die zusätzliche Abgabe für Milch, das heisst am 2. April 1984, weder Milch noch Milcherzeugnisse geliefert habe. Nach erfolglosem Einspruch erhob Herr von Deetzen vor dem Finanzgericht Hamburg Klage mit dem Antrag, festzustellen, daß er im Falle der Wiederaufnahme der Milchproduktion keine Abgabe aufgrund der Regelung über die zusätzliche Abgabe für Milch zu entrichten habe.

5 Nach Ansicht des Finanzgerichts Hamburg hängt die Entscheidung des Rechtsstreits von der Gültigkeit der Regelung über die zusätzliche Abgabe für Milch ab. Es hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt :

" Sind die Verordnungen ( EWG ) Nrn. 856/84 und 857/84 des Rates vom 31. März 1984 (( Verordnung ( EWG ) Nr. 857/84 zuletzt in der Fassung der Verordnung ( EWG ) Nr. 3571/85 )) und 1371/84 der Kommission vom 16. Mai 1984, zuletzt in der Fassung der Verordnung ( EWG ) Nr. 3005/85, insoweit gültig, als Landwirte, die wegen der Inanspruchnahme einer Nichtvermarktungs - oder Umstellungsprämie im jeweiligen maßgebenden Vergleichszeitraum keine Milch erzeugt haben und dementsprechend keine Referenzmenge im Rahmen der Milchquotenregelung zugeteilt bekommen, bei der Wiederaufnahme der Milchproduktion nach Ablauf des bei Prämiengewährung gesetzten Fünfjahreszeitraums eine Abgabe in Höhe von 75 v. H. des Milchrichtpreises entrichten müssen?"

6 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, der in Rede stehenden gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen sowie des Ablaufs des Verfahrens vor dem Gerichtshof und der in diesem Verfahren eingereichten Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

7 Wie sich aus dem Wortlaut der vorgelegten Frage und aus den Gründen des Vorlagebeschlusses ergibt, geht das vorlegende Gericht davon aus, daß die Gemeinschaftsregelung über die zusätzliche Abgabe für Milch bewirkt, daß einem Landwirt, der aufgrund einer nach der Verordnung Nr. 1078/77 eingegangenen Verpflichtung im Referenzjahr keine Milch geliefert hat, aus diesem Grund keine Referenzmenge im Rahmen der Regelung über die zusätzliche Abgabe zugeteilt werden kann mit der Folge, daß er diese Abgabe für seine gesamte Milcherzeugung während der Geltungsdauer der neuen Regelung zu entrichten hat.

8 Die Auslegung der genannten Gemeinschaftsregelung war Gegenstand der ersten Vorabentscheidungsfrage in der Rechtssache 120/86 ( Mulder, Slg. 1988, 0000 ). In Beantwortung dieser Frage hat der Gerichtshof mit Urteil vom heutigen Tag für Recht erkannt :

" Die Verordnung Nr. 857/84 des Rates vom 31. März 1984 in ihrer durch die Verordnung Nr. 1371/84 der Kommission vom 16. Mai 1984 ergänzten Fassung ist dahin auszulegen, daß die Mitgliedstaaten für die Festsetzung der in Artikel 2 dieser Verordnung genannten Referenzmengen die Situation von Erzeugern, die in Erfuellung einer nach der Verordnung Nr. 1078/77 des Rates vom 17. Mai 1977 eingegangenen Verpflichtung im gewählten Referenzjahr keine Milch geliefert haben, nur berücksichtigen dürfen, wenn diese Erzeuger in jedem Einzelfall die besonderen Voraussetzungen der Verordnung Nr. 857/84 erfuellen und wenn die Mitgliedstaaten für diesen Zweck über freie Referenzmengen verfügen."

9 Anhand dieser Auslegung ist die vom vorlegenden Gericht gestellte Gültigkeitsfrage zu prüfen.

10 Herr von Deetzen hält die in Rede stehende Regelung wegen Verletzung allgemeiner Grundsätze des Gemeinschaftsrechts für ungültig. Die Regelung sei unter Verletzung des Rechts auf Eigentum und der Berufsfreiheit erlassen worden und laufe den Grundsätzen der Gleichbehandlung, der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes zuwider. Zum letztgenannten Grundsatz führt Herr von Deetzen aus, die Erzeuger, die - veranlasst durch die Prämienregelung - ihre Erzeugung vorübergehend eingestellt hätten, hätten dies nicht getan, wenn sie gewusst hätten, daß ihre Nichtvermarktungsverträge zur Folge haben würden, sie von der Zuteilung einer Referenzmenge nach der neuen Quotenregelung auszuschließen.

11 Demgegenüber halten der Rat und die Kommission die streitige Regelung übereinstimmend für gültig, da sie den Mitgliedstaaten verschiedene Möglichkeiten eröffne, um Erzeugern, denen im Referenzjahr eine Prämie nach der Verordnung Nr. 1078/77 gewährt worden sei, Quoten zuzuteilen, die nicht der zusätzlichen Abgabe unterlägen. Die Kommission untersucht ausserdem die Tragweite der angeführten allgemeinen Grundsätze und kommt zu dem Schluß, daß diese im vorliegenden Fall gebührend beachtet worden seien. Insbesondere seien die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes nicht verletzt, da die betroffenen Erzeuger nicht darauf hätten vertrauen dürfen, daß sie nach dem Ende ihrer fünfjährigen Verpflichtung über ein uneingeschränktes Recht zur Wiederaufnahme der Milcherzeugung verfügen könnten.

12 Hierzu ist festzustellen, daß, wie die Kommission zutreffend ausgeführt hat, ein Wirtschaftsteilnehmer, der seine Erzeugung für eine bestimmte Zeit freiwillig eingestellt hat, nicht darauf vertrauen darf, daß er die Erzeugung unter denselben Bedingungen wie den vorher geltenden wiederaufnehmen kann und daß er eventuell inzwischen erlassenen marktpolitischen oder strukturpolitischen Bestimmungen nicht unterworfen wird.

13 Ein solcher Wirtschaftsteilnehmer darf aber, wenn er wie im vorliegenden Fall durch eine Handlung der Gemeinschaft dazu veranlasst worden ist, die Vermarktung im Allgemeininteresse und gegen Zahlung einer Prämie für eine begrenzte Zeit einzustellen, darauf vertrauen, daß er nach dem Ende seiner Verpflichtung nicht Beschränkungen unterworfen wird, die ihn gerade deswegen in besonderer Weise beeinträchtigen, weil er die von der Gemeinschaftsregelung gebotenen Möglichkeiten in Anspruch genommen hat.

14 Die Regelung über die zusätzliche Abgabe für Milch führt jedoch zu derartigen Beschränkungen für die Erzeuger, die in Erfuellung der nach der Verordnung Nr. 1078/77 eingegangenen Verpflichtung im Referenzjahr keine Milch geliefert haben. Diese Erzeuger können nämlich gerade wegen dieser Verpflichtung von der Zuteilung einer Referenzmenge nach der neuen Regelung ausgeschlossen sein, wenn sie nicht die besonderen Voraussetzungen der Verordnung Nr. 857/84 erfuellen oder wenn die Mitgliedstaaten nicht über freie Referenzmengen verfügen.

15 Entgegen dem Vorbringen der Kommission war ein solcher völliger und andauernder Ausschluß für die gesamte Geltungsdauer der Regelung über die zusätzliche Abgabe, der bewirkt, daß die betroffenen Erzeuger die Vermarktung von Milch nach Ablauf des Fünfjahreszeitraums nicht wiederaufnehmen können, für diese Erzeuger nicht vorhersehbar, als sie sich für eine begrenzte Zeit verpflichteten, keine Milch zu liefern. Weder die Bestimmungen noch die Begründungserwägungen der Verordnung Nr. 1078/77 lassen nämlich erkennen, daß die nach dieser Verordnung eingegangene Nichtvermarktungsverpflichtung zur Folge haben könnte, daß bei ihrem Auslaufen die Wiederaufnahme der betreffenden Tätigkeit unmöglich ist. Eine solche Wirkung verletzt somit das berechtigte Vertrauen dieser Erzeuger darauf, daß die Wirkungen der Regelung, der sie sich unterwarfen, nur eine begrenzte Tragweite haben würde.

16 Daraus folgt, daß die Regelung über die zusätzliche Abgabe für Milch unter Verletzung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes erlassen worden ist. Da diese Regelung demnach aus diesem Grund für ungültig zu erklären ist, besteht keine Veranlassung, die übrigen im Verfahren erhobenen Einwände gegen ihre Gültigkeit zu prüfen.

17 Auf die vorgelegte Frage ist daher zu antworten, daß die Verordnung Nr. 857/84 des Rates vom 31. März 1984 in ihrer durch die Verordnung Nr. 1371/84 der Kommission vom 16. Mai 1984 ergänzten Fassung insoweit ungültig ist, als sie keine Zuteilung einer Referenzmenge an Erzeuger vorsieht, die in Erfuellung einer nach der Verordnung Nr. 1078/77 des Rates vom 17. Mai 1977 eingegangenen Verpflichtung in dem vom betreffenden Mitgliedstaat gewählten Referenzjahr keine Milch geliefert haben.

Kostenentscheidung:

Kosten

18 Die Auslagen des Rates der Europäischen Gemeinschaften und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen bei dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem vor dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Finanzgericht Hamburg mit Beschluß vom 26. Juni 1986 vorgelegte Frage für Recht erkannt :

Die Verordnung Nr. 857/84 des Rates vom 31. März 1984 in ihrer durch die Verordnung Nr. 1371/84 der Kommission vom 16. Mai 1984 ergänzten Fassung ist insoweit ungültig, als sie keine Zuteilung einer Referenzmenge an Erzeuger vorsieht, die in Erfuellung einer nach der Verordnung Nr. 1078/77 des Rates vom 17. Mai 1977 eingegangenen Verpflichtung in dem vom betreffenden Mitgliedstaat gewählten Referenzjahr keine Milch geliefert haben.

Ende der Entscheidung

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