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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 13.07.1989
Aktenzeichen: 171/88
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag, Richtlinie 75/117 vom 10.02.1975
Vorschriften:
EWG-Vertrag Art. 177 | |
EWG-Vertrag Art. 119 | |
Richtlinie 75/117 vom 10.02.1975 |
Artikel 119 EWG-Vertrag steht einer nationalen Regelung entgegen, die es den Arbeitgebern gestattet, von der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall diejenigen Arbeitnehmer auszunehmen, deren regelmässige Arbeitszeit wöchentlich zehn Stunden oder monatlich 45 Stunden nicht übersteigt, wenn diese Maßnahme wesentlich mehr Frauen als Männer trifft, es sei denn, der Mitgliedstaat legt dar, daß die betreffende Regelung durch einem wesentlichen Ziel seiner Sozialpolitik dienende objektive Faktoren, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben, gerechtfertigt ist.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (SECHSTE KAMMER) VOM 13. JULI 1989. - INGRID RINNER-KUEHN GEGEN FWW SPEZIAL-GEBAEUDEREINIGUNG GMBH & CO KG. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: ARBEITSGERICHT OLDENBURG - DEUTSCHLAND. - GLEICHES ENTGELT FUER MAENNER UND FRAUEN - LOHNFORTZAHLUNG IM KRANKHEITSFALL - AUSSCHLUSS DER TEILZEITBESCHAEFTIGTEN - ARTIKEL 119 EWG-VERTRAG. - RECHTSSACHE 171/88.
Entscheidungsgründe:
1 Das Arbeitsgericht Oldenburg hat mit Beschluß vom 5. Mai 1988, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Juni 1988, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 119 EWG-Vertrag und der Richtlinie 75/117 des Rates vom 10. Februar 1975 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen ( ABl. L 45, S. 19 ) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Frau Rinner-Kühn ( Klägerin ) und ihrer Arbeitgeberin, der FWW Spezial-Gebäudereinigung GmbH & Co. KG, betreffend deren Weigerung, der Klägerin während ihrer krankheitsbedingten Abwesenheit vom Arbeitsplatz den Lohn fortzuzahlen.
3 Nach dem deutschen Lohnfortzahlungsgesetz vom 27. Juli 1969 hat der Arbeitgeber einem Arbeiter, der nach Beginn der Beschäftigung durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert wird, ohne daß ihn ein Verschulden trifft, das Arbeitsentgelt für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen fortzuzahlen. Von dieser Regelung sind jedoch diejenigen Arbeiter ausgenommen, in deren Arbeitsverhältnis die regelmässige Arbeitszeit wöchentlich zehn Stunden oder monatlich 45 Stunden nicht übersteigt.
4 Aufgrund dieser Bestimmung und unter Hinweis darauf, daß die regelmässige Arbeitszeit der Klägerin wöchentlich zehn Stunden betrage, lehnte die Arbeitgeberin die Fortzahlung des Arbeitsentgelts für eine achtstuendige krankheitsbedingte Abwesenheit vom Arbeitsplatz ab.
5 Die Klägerin erhob wegen dieser Entscheidung Klage beim Arbeitsgericht Oldenburg; sie begehrt die Fortzahlung ihres Lohns für die Zeit ihrer krankheitsbedingten Abwesenheit vom Arbeitsplatz. Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dieses Klagebegehren werfe Auslegungsprobleme in bezug auf Artikel 119 EWG-Vertrag und die Richtlinie 75/117 auf. Es hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt :
"Ist es mit Artikel 119 EWG-Vertrag und mit der Richtlinie des Rates vom 10. Februar 1975 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen ( 75/117/EWG ) vereinbar, wenn eine gesetzliche Regelung von dem Grundsatz der Entgeltfortzahlung durch den Arbeitgeber im Krankheitsfall Arbeiter in Arbeitsverhältnissen, in denen die regelmässige Arbeitszeit wöchentlich zehn Stunden oder monatlich 45 Stunden nicht übersteigt, ausnimmt, obwohl der Anteil der Frauen, die von dieser Ausnahme nachteilig betroffen werden, wesentlich höher ist, als der Anteil der Männer?"
6 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.
7 Wie das vorlegende Gericht zutreffend ausführt, fällt der im Krankheitsfall fortgezahlte Arbeitnehmerlohn unter den Entgeltbegriff im Sinne von Artikel 119 EWG-Vertrag.
8 Aus der Vorlagefrage und den Gründen des Vorlagebeschlusses geht hervor, daß das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen will, ob Artikel 119 EWG-Vertrag und die Richtlinie 75/117 des Rates einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es den Arbeitgebern gestattet, von der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall diejenigen Arbeitnehmer auszunehmen, deren regelmässige Arbeitszeit wöchentlich zehn Stunden oder monatlich 45 Stunden nicht übersteigt, sofern zu dieser Arbeitnehmerkategorie überwiegend Frauen gehören.
9 Nach Artikel 119 Absatz 1 waren die Mitgliedstaaten gehalten, während der ersten Stufe den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit anzuwenden. Daraus folgt, daß Artikel 119 den Mitgliedstaaten eine Ergebnispflicht auferlegte, die zwingend innerhalb einer bestimmten Frist zu erfuellen war ( Urteil vom 8. April 1976 in der Rechtssache 43/75, Defrenne, Slg. 1976, 455 ).
10 Wie aus den Akten hervorgeht, haben nach der fraglichen deutschen Gesetzesbestimmung nur diejenigen Arbeitnehmer im Krankheitsfall Anspruch auf Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber, in deren Arbeitsverhältnis die regelmässige Arbeitszeit wöchentlich zehn oder monatlich 45 Arbeitsstunden überschreitet. Da diese Zahlung unter den Entgeltbegriff im Sinne von Artikel 119 Absatz 2 fällt, gestattet die fragliche deutsche Gesetzesbestimmung den Arbeitgebern, in bezug auf die Höhe des Gesamtlohns zwischen zwei Kategorien von Arbeitnehmern zu unterscheiden : zwischen denjenigen, die die Mindestzahl der wöchentlichen oder monatlichen Arbeitsstunden leistet, und denjenigen, die zwar die gleiche Arbeit verrichten, jedoch nicht diese Mindeststundenzahl leisten.
11 Aus dem Vorlagebeschluß ergibt sich weiterhin, daß prozentual erheblich weniger Frauen als Männer die wöchentliche oder monatliche Mindestzahl der Arbeitsstunden leisten, die Voraussetzung für den Anspruch auf Lohnfortzahlung bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit ist.
12 Unter diesen Umständen ist festzustellen, daß eine Bestimmung wie die hier vorliegende im Ergebnis die weiblichen gegenüber den männlichen Arbeitnehmern diskriminiert und grundsätzlich im Widerspruch zur Zielsetzung des Artikels 119 EWG-Vertrag steht. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die unterschiedliche Behandlung der beiden Arbeitnehmerkategorien durch objektive Faktoren gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben ( Urteil vom 13. Mai 1986 in der Rechtssache 170/84, Bilka, Slg. 1986, 1607 ).
13 Die Bundesregierung hat im Laufe des Verfahrens auf eine Frage des Gerichtshofes erklärt, Arbeitnehmer, die wöchentlich weniger als zehn oder monatlich weniger als 45 Arbeitsstunden leisteten, seien nicht in einem anderen Arbeitnehmern vergleichbaren Masse in den Betrieb eingegliedert und ihm verbunden.
14 Diese Erwägungen stellen jedoch lediglich verallgemeinernde Aussagen zu bestimmten Kategorien von Arbeitnehmern dar. Ihnen lassen sich keine objektiven Kriterien entnehmen, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben. Kann der Mitgliedstaat hingegen darlegen, daß die gewählten Mittel einem notwendigen Ziel seiner Sozialpolitik dienen und für die Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich sind, so kann in dem blossen Umstand, daß die Gesetzesbestimmung eine wesentlich grössere Anzahl von weiblichen als von männlichen Arbeitnehmern trifft, keine Verletzung des Artikels 119 gesehen werden.
15 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, das für die Beurteilung des Sachverhalts und die Auslegung des innerstaatlichen Rechts allein zuständig ist, festzustellen, ob und inwieweit eine gesetzliche Regelung, die zwar unabhängig vom Geschlecht der Arbeitnehmer angewandt wird, im Ergebnis die Frauen jedoch stärker trifft als die Männer, aus objektiven Gründen, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben, gerechtfertigt ist.
16 Auf die Frage des vorlegenden Gerichts ist daher zu antworten, daß Artikel 119 EWG-Vertrag dahin auszulegen ist, daß er einer nationalen Regelung entgegensteht, die es den Arbeitgebern gestattet, von der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall diejenigen Arbeitnehmer auszunehmen, deren regelmässige Arbeitszeit wöchentlich zehn Stunden oder monatlich 45 Stunden nicht übersteigt, wenn diese Maßnahme wesentlich mehr Frauen als Männer trifft, es sei denn, der Mitgliedstaat legt dar, daß die betreffende Regelung durch objektive Faktoren, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben, gerechtfertigt ist.
Kostenentscheidung:
Kosten
17 Die Auslagen der dänischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit. Die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Tenor:
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF ( Sechste Kammer )
auf die ihm vom Arbeitsgericht Oldenburg mit Beschluß vom 5. Mai 1988 vorgelegte Frage für Recht erkannt :
Artikel 119 EWG-Vertrag ist dahin auszulegen, daß er einer nationalen Regelung entgegensteht, die es den Arbeitgebern gestattet, von der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall diejenigen Arbeitnehmer auszunehmen, deren regelmässige Arbeitszeit wöchentlich zehn Stunden oder monatlich 45 Stunden nicht übersteigt, wenn diese Maßnahme wesentlich mehr Frauen als Männer trifft, es sei denn, der Mitgliedstaat legt dar, daß die betreffende Regelung durch objektive Faktoren, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben, gerechtfertigt ist.
Ende der Entscheidung
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