Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 02.02.1989
Aktenzeichen: 186/87
Rechtsgebiete: EWGV


Vorschriften:

EWGV Art. 177
EWGV Art. 7
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Das insbesondere in Artikel 7 EWG-Vertrag enthaltene Diskriminierungsverbot ist dahin auszulegen, daß ein Mitgliedstaat die Gewährung einer staatlichen Entschädigung zur Wiedergutmachung des Schadens, der in diesem Staat dem Opfer einer mit einer Körperverletzung verbundenen Gewalttat zugefügt wurde, bei Personen, denen das Gemeinschaftsrecht die Freiheit garantiert, in diesen Mitgliedstaat insbesondere als Dienstleistungsempfänger einzureisen, nicht davon abhängig machen darf, daß sie Inhaber einer Fremdenkarte oder Angehörige eines Staates sind, der ein Gegenseitigkeitsabkommen mit diesem Mitgliedstaat geschlossen hat.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 2. FEBRUAR 1989. - IAN WILLIAM COWAN GEGEN TRESOR PUBLIC. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG, VORGELEGT VOM TRIBUNAL DE GRANDE INSTANCE DE PARIS. - TOURISTEN ALS EMPFAENGER VON DIENSTLEISTUNGEN - ANSPRUCH AUF ENTSCHAEDIGUNG BEI UEBERFAELLEN. - RECHTSSACHE 186/87.

Entscheidungsgründe:

1 Die Commission d' indemnisation des victimes d' infraction ( Kommission für die Entschädigung der Opfer von Straftaten ) des Tribunal de grande instance Paris hat mit Beschluß vom 5. Juni 1987, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Juni 1987, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des insbesondere in Artikel 7 EWG-Vertrag enthaltenen Diskriminierungsverbots zur Vorabentscheidung vorgelegt, um beurteilen zu können, ob eine Bestimmung des französischen Code de procédure pénale ( Strafprozessordnung ) mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen dem französischen Trésor public ( Staatskasse ) und einem britischen Staatsangehörigen, Herrn Ian William Cowan, in dem es um Schadensersatz wegen eines Überfalls geht, der auf Herrn Cowan während eines kurzen Aufenthalts in Paris am Ausgang einer Metrostation verübt wurde.

3 Da die Täter nicht identifiziert werden konnten, beantragte Herr Cowan bei der Commission d' indemnisation des victimes d' infraction des Tribunal de grande instance Paris eine Entschädigung gemäß Artikel 706-3 des Code de procédure pénale. Nach dieser Bestimmung besteht unter anderem dann Anspruch auf eine staatliche Entschädigung, wenn das Opfer einer Gewalttat, die eine Körperverletzung mit Folgen eines bestimmten Schweregrades verursacht hat, auf keine andere Weise eine wirksame und ausreichende Wiedergutmachung seines Schadens erlangen kann.

4 Vor der Commission d' indemnisation machte der Vertreter des Trésor geltend, Herr Cowan erfuelle nicht die Voraussetzungen, von denen nach Artikel 706-15 des Code de procédure pénale die Gewährung der erwähnten Entschädigung abhänge. Nach dieser Bestimmung kommt die betreffende Entschädigung nur in Betracht

"für Personen, die die französische Staatsangehörigkeit besitzen oder Ausländer sind und

- entweder Staatsangehörige eines Staates sind, der mit Frankreich ein Gegenseitigkeitsabkommen für die Anwendung der genannten Bestimmungen geschlossen hat, und die Vorausetzungen nach diesem Abkommen erfuellen

- oder Inhaber des als Fremdenkarte bezeichneten Ausweises sind ".

5 Herr Cowan berief sich daraufhin auf das insbesondere in Artikel 7 EWG-Vertrag verankerte Diskriminierungsverbot. Er machte geltend, die vorerwähnten Voraussetzungen seien diskriminierend; derartige Voraussetzungen hinderten die Touristen daran, sich frei in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, um dort Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Der Vertreter des Trésor und die Staatsanwaltschaft entgegneten, durch die streitigen Bestimmungen würden alle im Inland wohnhaften Ausländer den eigenen Staatsangehörigen gleichgestellt; daß zwischen ihrer Rechtsstellung und derjenigen eines Touristen differenziert werde, stehe mit dem Gemeinschaftsrecht in Einklang, das selbst den Aufenthalt der Angehörigen eines Mitgliedstaats in einem anderen Mitgliedstaat von unterschiedlichen Voraussetzungen je nach Aufenthaltsdauer abhängig mache.

6 Die Commission d' indemnisation war unter diesen Umständen der Ansicht, die Beurteilung der Vereinbarkeit der streitigen Vorschrift mit dem EWG-Vertrag setze eine Auslegung der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen unter Berücksichtigung der Erfordernisse und Zwecke des Gemeinschaftsrechts voraus. Sie hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt :

"Ist Artikel 706-15 des Code de procédure pénale, der die Fälle regelt, in denen ein ausländischer Staatsangehöriger, der in Frankreich Opfer einer Straftat wird, vom französischen Staat eine Entschädigung erhalten kann, mit dem insbesondere in Artikel 7 EWG-Vertrag enthaltenen Diskriminierungsverbot vereinbar?"

7 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

8 Die Vorabentscheidungsfrage geht im Kern dahin, ob das insbesondere in Artikel 7 EWG-Vertrag enthaltene Diskriminierungsverbot es einem Mitgliedstaat verwehrt, die Gewährung einer staatlichen Entschädigung zur Wiedergutmachung des Schadens, der in diesem Staat dem Opfer einer mit einer Körperverletzung verbundenen Gewalttat zugefügt wurde, bei Personen, die sich in einer gemeinschaftsrechtlich geregelten Situation befinden, davon abhängig zu machen, daß sie Inhaber einer Fremdenkarte oder Angehörige eines Staates sind, der ein Gegenseitigkeitsabkommen mit diesem Mitgliedstaat geschlossen hat.

9 Nach Artikel 7 Absatz 1 EWG-Vertrag ist "unbeschadet besonderer Bestimmungen dieses Vertrages... in seinem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten ". Hieraus ergeben sich sowohl der Inhalt als auch der Geltungsbereich des Diskriminierungsverbots.

Zum Inhalt des Diskriminierungsverbots

10 Aus dem in Artikel 7 EWG-Vertrag niedergelegten Verbot "jeder Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit" folgt, daß Personen, die sich in einer gemeinschaftsrechtlich geregelten Situation befinden, genauso behandelt werden müssen wie Angehörige des betreffenden Mitgliedstaats. Soweit dieses Verbot gilt, ist es daher einem Mitgliedstaat verwehrt, die Gewährung eines Rechts an solche Personen davon abhängig zu machen, daß sie im Inland wohnen, wenn die eigenen Staatsangehörigen diese Voraussetzung nicht zu erfuellen brauchen.

11 Ausserdem ist darauf hinzuweisen, daß der Anspruch auf Gleichbehandlung unmittelbar aus dem Gemeinschaftsrecht fließt und deshalb nicht davon abhängig gemacht werden darf, daß hierfür von den Behörden des betreffenden Mitgliedstaats eine Erlaubnis erteilt wird ( siehe dazu das Urteil vom 3. Juli 1980 in der Rechtssache 157/79, Pieck, Slg. 1980, 2171 ).

12 Schließlich ist daran zu erinnern, daß - wie der Gerichtshof erstmals in seinem Urteil vom 22. Juni 1972 in der Rechtssache 1/72 ( Frilli, Slg. 1972, 457 ) ausgeführt hat - der im Gemeinschaftsrecht verankerte Anspruch auf Gleichbehandlung nicht davon abhängen kann, daß zwischen dem betreffenden Mitgliedstaat und dem Land, dessen Staatsangehörigkeit der Anspruchsberechtigte besitzt, ein Gegenseitigkeitsabkommen besteht.

13 Soweit das Diskriminierungsverbot gilt, ist es daher einem Mitgliedstaat verwehrt, die Gewährung eines Rechts an eine Person, die sich in einer gemeinschaftsrechtlich geregelten Situation befindet, davon abhängig zu machen, daß sie Inhaber einer Fremdenkarte oder Angehörige eines Staates ist, der ein Gegenseitigkeitsabkommen mit diesem Mitgliedstaat geschlossen hat.

Zum Geltungsbereich des Diskriminierungsverbots

14 Nach Artikel 7 EWG-Vertrag entfaltet das Diskriminierungsverbot seine Wirkungen im Anwendungsbereich des EWG-Vertrags "unbeschadet besonderer Bestimmungen dieses Vertrages ". Mit dieser Wendung verweist Artikel 7 insbesondere auf andere Bestimmungen des Vertrages, in denen das allgemeine Verbot des Artikels 7 für besondere Anwendungsfälle konkretisiert ist. So verhält es sich unter anderem mit den Bestimmungen über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer, das Niederlassungsrecht und den freien Dienstleistungsverkehr.

15 Zu letzterem hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 31. Januar 1984 in den Rechtssachen 286/82 und 26/83 ( Luisi und Carbone, Slg. 1984, 377 ) entschieden, daß der freie Dienstleistungsverkehr die Freiheit der Leistungsempfänger einschließt, sich zur Inanspruchnahme einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, ohne durch Beschränkungen daran gehindert zu werden, und daß unter anderem Touristen als Empfänger von Dienstleistungen anzusehen sind.

16 Die französische Regierung hat vor dem Gerichtshof geltend gemacht, beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts könne sich ein Dienstleistungsempfänger nicht auf das Diskriminierungsverbot berufen, wenn die betreffende nationale Regelung keinerlei Behinderung seiner Freizuegigkeit verursache. Eine Vorschrift wie die im Ausgangsverfahren streitige bewirke insoweit keine Beschränkung. Darüber hinaus betreffe sie ein Recht, das Ausdruck des Grundsatzes der nationalen Solidarität sei. Ein solches Recht setze eine engere Bindung an den Staat voraus als das Recht eines Dienstleistungsempfängers und könne deshalb solchen Personen vorbehalten werden, die entweder eigene Staatsangehörige oder im Inland wohnhafte Ausländer seien.

17 Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden. Garantiert nämlich das Gemeinschaftsrecht einer natürlichen Person die Freiheit, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, so ist zwingende Folge dieser Freizuegigkeit, daß Leib und Leben dieser Person in dem betreffenden Mitgliedstaat in gleicher Weise geschützt sind, wie dies bei den eigenen Staatsangehörigen und den in diesem Staat wohnhaften Personen der Fall ist. Daraus folgt, daß das Diskriminierungsverbot gegenüber Dienstleistungsempfängern im Sinne des EWG-Vertrags gilt, soweit es um den Schutz vor möglichen Gewalttaten und, falls eine Gewalttat verübt wird, um den im nationalen Recht vorgesehenen Anspruch auf Geldersatz geht. Der Umstand, daß die fragliche Entschädigung aus der Staatskasse finanziert wird, kann an dem System des Schutzes der vom EWG-Vertrag garantierten Rechte nichts ändern.

18 Die französische Regierung hat weiter geltend gemacht, eine Entschädigung wie die im Ausgangsverfahren streitige werde deshalb nicht vom Diskriminierungsverbot erfasst, weil sie dem Strafverfahrensrecht zuzurechnen sei, das nicht in den Anwendungsbereich des EWG-Vertrags falle.

19 Dazu ist zu sagen, daß für das Strafrecht und das Strafverfahrensrecht, in das die streitige nationale Rechtsvorschrift aufgenommen wurde, zwar grundsätzlich die Mitgliedstaaten zuständig sind, daß das Gemeinschaftsrecht jedoch nach ständiger Rechtsprechung ( u. a. Urteil vom 11. November 1981 in der Rechtssache 203/80, Casati, Slg. 1981, 2595 ) dieser Zuständigkeit Schranken setzt : Derartige Rechtsvorschriften dürfen weder zu einer Diskriminierung von Personen führen, denen das Gemeinschaftsrecht einen Anspruch auf Gleichbehandlung verleiht, noch die vom Gemeinschaftsrecht garantierten Grundfreiheiten beschränken.

20 Auf die Vorabentscheidungsfrage ist somit zu antworten, daß das insbesondere in Artikel 7 EWG-Vertrag enthaltene Diskriminierungsverbot dahin auszulegen ist, daß ein Mitgliedstaat die Gewährung einer staatlichen Entschädigung zur Wiedergutmachung des Schadens, der in diesem Staat dem Opfer einer mit einer Körperverletzung verbundenen Gewalttat zugefügt wurde, bei Personen, denen das Gemeinschaftsrecht die Freiheit garantiert, in diesen Mitgliedstaat insbesondere als Dienstleistungsempfänger einzureisen, nicht davon abhängig machen darf, daß sie Inhaber einer Fremdenkarte oder Angehörige eines Staates sind, der ein Gegenseitigkeitsabkommen mit diesem Mitgliedstaat geschlossen hat.

Kostenentscheidung:

Kosten

21 Die Auslagen der französischen Regierung und der Kommission, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm von der Commission d' indemnisation des victimes d' infraction des Tribunal de grande instance Paris mit Beschluß vom 5. Juni 1987 vorgelegte Frage für Recht erkannt :

Das insbesondere in Artikel 7 EWG-Vertrag enthaltene Diskriminierungsverbot ist dahin auszulegen, daß ein Mitgliedstaat die Gewährung einer staatlichen Entschädigung zur Wiedergutmachung des Schadens, der in diesem Staat dem Opfer einer mit einer Körperverletzung verbundenen Gewalttat zugefügt wurde, bei Personen, denen das Gemeinschaftsrecht die Freiheit garantiert, in diesen Mitgliedstaat insbesondere als Dienstleistungsempfänger einzureisen, nicht davon abhängig machen darf, daß sie Inhaber einer Fremdenkarte oder Angehörige eines Staates sind, der ein Gegenseitigkeitsabkommen mit diesem Mitgliedstaat geschlossen hat.

Ende der Entscheidung

Zurück