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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 27.09.1988
Aktenzeichen: 189/87
Rechtsgebiete: Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Brüsseler Übereinkommen), Brüsseler Übereinkommen


Vorschriften:

Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Brüsseler Übereinkommen) Art. 5 Nr. 3
Brüsseler Übereinkommen Art. 6 Nr. 1
Brüsseler Übereinkommen Art. 2
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Zur Anwendung von Artikel 6 Nr. 1 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil - und Handelssachen muß zwischen den verschiedenen Klagen eines Klägers gegen verschiedene Beklagte ein Zusammenhang bestehen. Dieser Zusammenhang, dessen Art autonom zu bestimmen ist, muß ein Zusammenhang sein, der eine gemeinsame Entscheidung über diese Klagen geboten erscheinen lässt, um zu vermeiden, daß in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten.

2. Der Begriff "unerlaubte Handlung" im Sinne von Artikel 5 Nr. 3 des Übereinkommens ist als autonomer Begriff anzusehen, der sich auf alle Klagen bezieht, mit denen eine Schadenshaftung des Beklagten geltend gemacht wird und die nicht an einen "Vertrag" im Sinne von Artikel 5 Nr. 1 anknüpfen.

Ein Gericht, das nach Artikel 5 Nr. 3 für die Entscheidung über eine Klage unter einem auf deliktischer Grundlage beruhenden Gesichtspunkt zuständig ist, ist nicht auch zuständig, über diese Klage unter anderen, nicht-deliktischen Gesichtspunkten zu entscheiden.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (FUENFTE KAMMER) VOM 27. SEPTEMBER 1988. - ATHANASIOS KALFELIS GEGEN BANKHAUS SCHROEDER, MUENCHMEYER, HENGST UND CO. UND ANDERE. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG, VORGELEGT VOM BUNDESGERICHTSHOF. - ARTIKEL 5 NR. 3 UND 6 NR. 1 DES BRUESSELER UBEREINKOMMENS - MEHRERE BEKLAGTE - BEGRIFF DER UNERLAUBTEN HANDLUNG. - RECHTSSACHE 189/87.

Entscheidungsgründe:

1 Der Bundesgerichtshof hat mit Beschluß vom 27. April 1987, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Juni 1987, gemäß dem Protokoll vom 3. Juni 1971 betreffend die Auslegung des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil - und Handelssachen ( im folgenden : das Übereinkommen ) durch den Gerichtshof zwei Fragen nach der Auslegung von Artikel 5 Nr. 3 und Artikel 6 Nr. 1 des Übereinkommens zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen dem Kläger Athanasios XX und dem Bankhaus Schröder, Münchmeyer, Hengst und Co. mit Sitz in Frankfurt am Main ( Beklagte zu 1 ), dem Bankhaus Schröder, Münchmeyer, Hengst International SA, einer Tochtergesellschaft der ersteren mit Sitz in Luxemburg ( Beklagte zu 2 ), und schließlich dem Prokuristen der ersteren Ernst Markgraf ( Beklagter zu 3 ).

3 Der Kläger schloß in der Zeit von März 1980 bis Juli 1981 durch Vermittlung des Beklagten zu 3 über die Beklagte zu 1 mit der Beklagten zu 2 Kassa - und Termingeschäfte in Silber ab und zahlte der Beklagten zu 2 dafür 344 868,52 DM. Die Termingeschäfte endeten mit Totalverlust. Der Kläger begehrt mit seiner Klage von den Beklagten als Gesamtschuldnern die Zahlung von 463 019,08 DM nebst Zinsen. Er stützt seine Klage auf vertragliche Ansprüche wegen Verletzung von Aufklärungspflichten sowie auf unerlaubte Handlung gemäß § 823 Absatz 2 BGB in Verbindung mit § 263 StGB und § 826 BGB, weil die Beklagten ihn durch ihr Verhalten in sittenwidriger Weise geschädigt hätten. Überdies stützt er seine Klage auf ungerechtfertigte Bereicherung, weil die Termingeschäfte in Silber als Börsentermingeschäfte nach zwingendem deutschen Recht unverbindlich gewesen seien und er deshalb seine als Einschüsse geleisteten Zahlungen zurückverlangen könne.

4 Nachdem die Beklagte zu 2 in allen Instanzen das Fehlen der Zuständigkeit der deutschen Gerichte gerügt hatte, hat der Bundesgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen vorzulegen :

"1 ) a ) Ist Artikel 6 Nr. 1 des Brüsseler Übereinkommens dahin auszulegen, daß zwischen den Klagen gegen die verschiedenen Beklagten ein Zusammenhang bestehen muß?

b ) Falls die Frage zu a bejaht wird :

Ist der für die Anwendung von Artikel 6 Nr. 1 zu fordernde Zusammenhang zwischen den Klagen gegen die verschiedenen Beklagten bereits gegeben, wenn die Klagen im wesentlichen tatsächlich und rechtlich gleichartig sind ( einfache Streitgenossenschaft ), oder ist der Zusammenhang nur anzunehmen, wenn die gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, daß in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten ( z. B. in den Fällen notwendiger Streitgenossenschaft )?

2 ) a ) Ist der Begriff 'unerlaubte Handlung' in Artikel 5 Nr. 3 des Brüsseler Übereinkommens vertragsautonom zu interpretieren, oder ist er nach dem jeweils anzuwendenden Recht ( lex causä ), das vom internationalen Privatrecht des angerufenen Gerichts festgelegt wird, zu qualifizieren?

b ) Eröffnet Artikel 5 Nr. 3 des Brüsseler Übereinkommens für eine auf deliktische, vertragliche und Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung gestützte Klage eine Annexzuständigkeit kraft Sachzusammenhangs auch für die nichtdeliktischen Klageansprüche?"

5 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, der Gemeinschaftsvorschriften und der beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

Zur ersten Frage

6 Die erste Frage des Bundesgerichtshofes geht im wesentlichen dahin, ob für die Anwendung von Artikel 6 Nr. 1 des Übereinkommens zwischen den Klagen ein und desselben Klägers gegen verschiedene Beklagte ein Zusammenhang bestehen muß und welcher Art dieser Zusammenhang gegebenenfalls sein muß.

7 Nach Artikel 2 des Übereinkommens sind Personen, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats haben, vorbehaltlich der Vorschriften des Übereinkommens "ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Staates zu verklagen ". Der 2. Abschnitt des Titels II des Übereinkommens sieht jedoch "besondere Zuständigkeiten" vor, wonach eine Person, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats hat, in einem anderen Vertragsstaat verklagt werden kann. Zu diesen besonderen Zuständigkeiten gehört die des Artikels 6 Nr. 1, wonach eine Person, "wenn mehrere Personen zusammen verklagt werden, (( auch )) vor dem Gericht, in dessen Bezirk einer der Beklagten seinen Wohnsitz hat", verklagt werden kann.

8 Es ist darauf hinzuweisen, daß das Übereinkommen von dem Grundsatz der Zuständigkeit der Gerichte des Wohnsitzstaats des Beklagten ausgeht und daß die in Artikel 6 Nr. 1 vorgesehene Zuständigkeit eine Ausnahme von diesem Grundsatz darstellt. Daraus folgt, daß eine solche Ausnahme in einer Weise auszugestalten ist, die das Bestehen des Grundsatzes selbst nicht in Frage stellen kann.

9 Dies könnte dann der Fall sein, wenn es einem Kläger freistuende, eine Klage gegen mehrere Beklagte allein zu dem Zweck zu erheben, einen dieser Beklagten der Zuständigkeit der Gerichte seines Wohnsitzstaats zu entziehen. Wie in dem Bericht des Sachverständigenausschusses, der das Übereinkommen ausgearbeitet hat ( ABl. C 59 vom 5. 3. 1979, S. 1 ), hervorgehoben wird, muß eine solche Möglichkeit ausgeschlossen werden. Es ist deshalb erforderlich, daß zwischen den Klagen gegen die einzelnen Beklagten ein Zusammenhang besteht.

10 Um sicherzustellen, daß sich aus dem Übereinkommen für die Vertragsstaaten und die betroffenen Personen soweit wie möglich gleiche und einheitliche Rechte und Pflichten ergeben, ist die Art dieses Zusammenhangs vertragsautonom zu bestimmen.

11 Dazu ist darauf hinzuweisen, daß in dem genannten Bericht des Sachverständigenausschusses zur Begründung von Artikel 6 Nr. 1 ausdrücklich das Bestreben erwähnt wird, zu vermeiden, "daß in einzelnen Vertragsstaaten unter sich unvereinbare Entscheidungen ergehen ". Es handelt sich im übrigen um ein Anliegen, dem das Übereinkommen in Artikel 22 selbst Ausdruck verliehen hat; dort ist der Fall geregelt, daß Klagen, die im Zusammenhang stehen, bei Gerichten verschiedener Vertragsstaaten erhoben werden.

12 Die Vorschrift des Artikels 6 Nr. 1 greift somit ein, wenn die Klagen gegen die verschiedenen Beklagten bei ihrer Erhebung im Zusammenhang stehen, das heisst, wenn eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, daß in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten. Es ist Sache des nationalen Gerichts, in jedem Einzelfall zu prüfen, ob diese Voraussetzung erfuellt ist.

13 Auf die erste Frage ist somit zu antworten, daß zur Anwendung von Artikel 6 Nr. 1 des Übereinkommens zwischen den verschiedenen Klagen eines Klägers gegen verschiedene Beklagte ein Zusammenhang bestehen muß, der eine gemeinsame Entscheidung geboten erscheinen lässt, um zu vermeiden, daß in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten.

Zur zweiten Frage

14 Die zweite Frage des Bundesgerichtshofes geht im wesentlichen dahin, ob der Begriff der "unerlaubten Handlung" in Artikel 5 Nr. 3 des Übereinkommens, der dort durch die Formulierung "Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder Ansprüche aus einer solchen Handlung" ergänzt ist, vertragsautonom oder nach dem anwendbaren nationalen Recht auszulegen ist und ob im Fall einer Klage, die zugleich auf deliktische Haftung, Verletzung einer vertraglichen Verpflichtung und ungerechtfertigte Bereicherung gestützt wird, das nach Artikel 5 Nr. 3 zuständige Gericht über die Klage auch unter nichtdeliktischen Gesichtspunkten entscheiden darf.

15 Zum ersten Teil der Frage ist zu bemerken, daß der Begriff "unerlaubte Handlung" als Kriterium zur Abgrenzung des Anwendungsbereichs einer der besonderen Zuständigkeitsregeln, auf die der Kläger zurückgreifen kann, dient. Wie der Gerichtshof zum Begriff "Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag" in Artikel 5 Nr. 1 entschieden hat ( vgl. Urteile vom 22. März 1983 in der Rechtssache 34/82, Peters, Slg. 1983, 987, und vom 8. März 1988 in der Rechtssache 9/87, SPRL Arcado und SA Hauiland, Slg. 1988, 1539 ) ist dieser Begriff in Anbetracht der Zielsetzungen und des Gesamtzusammenhangs des Übereinkommens nicht als blosse Verweisung auf das innerstaatliche Recht eines der beteiligten Staaten zu verstehen, denn es muß sichergestellt werden, daß sich aus dem Übereinkommen für die Vertragsstaaten und die betroffenen Personen soweit wie möglich gleiche und einheitliche Rechte und Pflichten ergeben.

16 Infolgedessen ist auch der Begriff "unerlaubte Handlung" als autonomer Begriff anzusehen, bei dessen Auslegung im Rahmen der Anwendung des Übereinkommens in erster Linie die Systematik und die Zielsetzungen dieses Übereinkommens berücksichtigt werden müssen, damit dessen volle Wirksamkeit sichergestellt wird.

17 Um eine einheitliche Lösung in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten, ist davon auszugehen, daß sich der Begriff "unerlaubte Handlung" auf alle Klagen bezieht, mit denen eine Schadenshaftung des Beklagten geltend gemacht wird und die nicht an einen "Vertrag" im Sinne von Artikel 5 Nr. 1 anknüpfen.

18 Der erste Teil der Frage ist somit dahin zu beantworten, daß der Begriff "unerlaubte Handlung" im Sinne von Artikel 5 Nr. 3 des Übereinkommens als autonomer Begriff anzusehen ist, der sich auf alle Klagen bezieht, mit denen eine Schadenshaftung des Beklagten geltend gemacht wird und die nicht an einen "Vertrag" im Sinne von Artikel 5 Nr. 1 anknüpfen.

19 Zum zweiten Teil der Frage ist festzustellen, daß die in den Artikeln 5 und 6 des Übereinkommens aufgezählten "besonderen Zuständigkeiten", wie bereits ausgeführt, Ausnahmen vom Grundsatz der Zuständigkeit der Gerichte des Wohnsitzstaats des Beklagten darstellen, die einschränkend auszulegen sind. Deshalb ist davon auszugehen, daß ein Gericht, das nach Artikel 5 Nr. 3 für die Entscheidung über eine Klage unter einem auf deliktischer Grundlage beruhenden Gesichtspunkt zuständig ist, nicht auch zuständig ist, über diese Klage unter anderen, nichtdeliktischen Gesichtspunkten zu entscheiden.

20 Zwar bringt es Nachteile mit sich, wenn über die einzelnen Aspekte eines Rechtsstreits von verschiedenen Gerichten entschieden wird, doch ist zum einen darauf hinzuweisen, daß der Kläger stets die Möglichkeit hat, seine Klage unter sämtlichen Gesichtspunkten vor das Gericht des Wohnsitzes des Beklagten zu bringen, und zum anderen darauf, daß Artikel 22 des Übereinkommens es dem zuerst angerufenen Gericht unter bestimmten Umständen ermöglicht, über den gesamten Rechtsstreit zu befinden, wenn zwischen den vor verschiedenen Gerichten erhobenen Klagen ein Zusammenhang besteht.

21 Auf den zweiten Teil der Frage ist daher zu antworten, daß ein Gericht, das nach Artikel 5 Nr. 3 für die Entscheidung über eine Klage unter einem auf deliktischer Grundlage beruhenden Gesichtspunkt zuständig ist, nicht auch zuständig ist, über diese Klage unter anderen, nichtdeliktischen Gesichtspunkten zu entscheiden.

Kostenentscheidung:

Kosten

22 Die Auslagen der Regierungen der Italienischen Republik, des Vereinigten Königreichs, der Bundesrepublik Deutschland und des Großherzogtums Luxemburg sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit. Die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF ( Fünfte Kammer )

auf die ihm vom Bundesgerichtshof mit Beschluß vom 27. April 1987 vorgelegten Fragen für Recht erkannt :

1 ) Zur Anwendung von Artikel 6 Nr. 1 des Übereinkommens muß zwischen den verschiedenen Klagen eines Klägers gegen verschiedene Beklagte ein Zusammenhang bestehen, der eine gemeinsame Entscheidung geboten erscheinen lässt, um zu vermeiden, daß in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten.

2 ) a ) Der Begriff "unerlaubte Handlung" im Sinne von Artikel 5 Nr. 3 des Übereinkommens ist als autonomer Begriff anzusehen, der sich auf alle Klagen bezieht, mit denen eine Schadenshaftung des Beklagten geltend gemacht wird und die nicht an einen "Vertrag" im Sinne von Artikel 5 Nr. 1 anknüpfen.

b ) Ein Gericht, das nach Artikel 5 Nr. 3 für die Entscheidung über eine Klage unter einem auf deliktischer Grundlage beruhenden Gesichtspunkt zuständig ist, ist nicht auch zuständig, über diese Klage unter anderen, nichtdeliktischen Gesichtspunkten zu entscheiden.

Ende der Entscheidung

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