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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 28.03.1990
Aktenzeichen: 206/88
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag, Richtlinie 75/442, Richtlinie 78/319


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 177
Richtlinie 75/442 Art. 1
Richtlinie 78/319 Art. 1
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Der Begriff "Abfälle" im Sinne der Artikel 1 der Richtlinien 75/442 und 78/319 erfasst Stoffe und Gegenstände, die zur wirtschaftlichen Wiederverwendung geeignet sind. Dieser Begriff setzt nicht voraus, daß der Besitzer, der sich eines Stoffes oder eines Gegenstands entledigt, dessen wirtschaftliche Wiederverwendung durch andere ausschließen will.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (ERSTE KAMMER) VOM 28. MAERZ 1990. - STRAFVERFAHREN GEGEN GIOVANNI VESSOSO UND GIORGIO ZANETTI. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: PRETURA DI ASTI - ITALIEN. - ANGLEICHUNG DER RECHTSVORSCHRIFTEN - ABFAELLE - BEGRIFT. - VERBUNDENE RECHTSSACHEN 206/88 UND 207/88.

Entscheidungsgründe:

1 Die Pretura Asti hat mit zwei Beschlüssen vom 18. Dezember 1987, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Juli 1988, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 1 der Richtlinie 75/442 des Rates vom 15. Juli 1975 über Abfälle ( ABl. L 194, S. 39 ) und des Artikels 1 der Richtlinie 78/319 des Rates vom 20. März 1978 über giftige und gefährliche Abfälle ( ABl. L 84, S. 43 ) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in zwei Strafverfahren gegen Spediteure, die beschuldigt werden, für einen anderen ohne vorherige Genehmigung Stoffe befördert und damit gegen das Dekret Nr. 915 des Präsidenten der Italienischen Republik vom 10. September 1982 ( GURI Nr. 343 vom 15.12.1982, S. 9071; Dekret ) verstossen zu haben. Nach diesem Dekret, das der Umsetzung der beiden Richtlinien in das nationale Recht dient, macht sich strafbar, wer für einen anderen ohne vorherige Genehmigung der zuständigen italienischen Region Abfälle beseitigt, wozu auch die Beförderung zählt.

3 Die Beschuldigten brachten zu ihrer Verteidigung vor, die beförderten Stoffe seien keine Abfälle im Sinne des Dekrets gewesen, nach dessen Artikel 2 Abfälle "alle Stoffe oder Gegenstände (( sind )), die aus menschlicher Tätigkeit oder natürlichen Kreisläufen anfallen und die aufgegeben worden sind oder werden sollen ". Die beförderten Stoffe seien vielmehr zur wirtschaftlichen Wiederverwendung geeignet gewesen; sie seien somit weder aufgegeben gewesen noch hätten sie aufgegeben werden sollen. Da die ihnen vorgeworfene Handlung damit nicht den Tatbestand des Dekrets erfuelle, könnten sie nicht nach diesem bestraft werden.

4 Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts muß Artikel 2 des Dekrets den Artikeln 1 der beiden Richtlinien konform ausgelegt werden, deren Umsetzung in nationales Recht das Dekret dient; danach sind Abfälle "alle Stoffe oder Gegenstände, deren sich der Besitzer entledigt oder gemäß den geltenden einzelstaatlichen Vorschriften zu entledigen hat ".

5 Die Pretura Asti hat deshalb die beiden Verfahren ausgesetzt und den Gerichtshof um Vorabentscheidung über folgende Frage gebeten :

"Sind Artikel 1 der Richtlinie 75/442 des Rates vom 15. Juli 1975 über Abfälle und Artikel 1 der Richtlinie 78/319 des Rates vom 20. März 1978 über giftige und gefährliche Abfälle dahin zu verstehen, daß unter den Rechtsbegriff der Abfälle auch die Gegenstände fallen, deren sich der Besitzer entledigt hat, die jedoch einer wirtschaftlichen Wiederverwendung zugeführt werden können, und sind sie dahin zu verstehen, daß der Begriff der Abfälle die Feststellung voraussetzt, daß der 'animus dereliquendi' beim Besitzer des Stoffes oder des Gegenstands vorliegt?"

6 Weitere Einzelheiten des Sachverhalts, des einschlägigen Rechts sowie der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen finden sich im Sitzungsbericht, auf den verwiesen wird. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

7 Der erste Teil der vorgelegten Frage geht dahin, ob der Begriff "Abfälle" im Sinne der Artikel 1 der Richtlinien 75/442 und 78/319 des Rates auch Stoffe und Gegenstände erfasst, die zur wirtschaftlichen Wiederverwendung geeignet sind.

8 Nach der vierten Begründungserwägung der Richtlinie 75/442 und der fünften Begründungserwägung der Richtlinie 78/319 ist die Aufbereitung von Abfällen sowie die Verwendung wiedergewonnener Materialien im Interesse der Erhaltung der natürlichen Rohstoffquellen zu fördern. Nach Artikel 1 Buchstabe b zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 75/442 und nach Artikel 1 Buchstabe c zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 78/319 sind unter Beseitigung der Abfälle die erforderlichen Umwandlungsvorgänge zu ihrer Wiederverwendung, Rückgewinnung oder Verwertung zu verstehen. Nach Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 75/442 und Artikel 4 der Richtlinie 78/319 treffen die Mitgliedstaaten die geeigneten Maßnahmen, um die Einschränkung der Abfallbildung, die Verwertung und Umwandlung von Abfällen, die Gewinnung von Rohstoffen und gegebenenfalls von Energie sowie alle anderen Verfahren zur Wiederverwendung von Abfällen zu fördern. Nach alledem können Stoffe, deren sich der Besitzer entledigt, im Sinne der Richtlinien 75/442 und 78/319 auch dann Abfälle darstellen, wenn sie zur wirtschaftlichen Wiederverwendung geeignet sind.

9 Auf den ersten Teil der Frage ist somit zu antworten, daß der Begriff "Abfälle" im Sinne der Artikel 1 der Richtlinien 75/442 und 78/319 des Rates Stoffe und Gegenstände erfasst, die zur wirtschaftlichen Wiederverwendung geeignet sind.

10 Der zweite Teil der vorgelegten Frage geht dahin, ob der Begriff "Abfälle" im Sinne der Artikel 1 der Richtlinien 75/442 und 78/319 des Rates voraussetzt, daß der Besitzer, der sich eines Stoffes oder eines Gegenstands entledigt, jede wirtschaftliche Wiederverwendung dieses Stoffes oder dieses Gegenstands durch andere ausschließen will.

11 Die Artikel 1 der beiden Richtlinien betreffen ganz allgemein alle Stoffe oder Gegenstände, deren sich der Besitzer entledigt, ohne daß nach dessen Absicht unterschieden würde. Nach diesen Bestimmungen sind Abfälle ausserdem auch Stoffe oder Gegenstände, deren sich der Besitzer "gemäß den geltenden einzelstaatlichen Vorschriften zu entledigen hat ". Ein Besitzer kann somit nach nationalem Recht verpflichtet sein, sich einer Sache zu entledigen, auch ohne daß er deren wirtschaftliche Wiederverwendung durch andere ausschließen wollte.

12 Wesentliches Ziel der Richtlinien 75/442 und 78/319 ist nach ihrer dritten bzw. vierten Begründungserwägung der Schutz der Gesundheit des Menschen und die Bewahrung der Umwelt. Dieses Ziel wäre gefährdet, wenn die Anwendung der beiden Richtlinien davon abhinge, ob der Besitzer die wirtschaftliche Wiederverwendung der Stoffe oder Gegenstände, deren er sich entledigt, durch andere ausschließen will.

13 Auf den zweiten Teil der Frage ist somit zu antworten, daß der Begriff "Abfälle" im Sinne der Artikel 1 der Richtlinien 75/442 und 78/319 des Rates nicht voraussetzt, daß der Besitzer, der sich eines Stoffes oder eines Gegenstands entledigt, dessen wirtschaftliche Wiederverwendung durch andere ausschließen will.

Kostenentscheidung:

Kosten

14 Die Auslagen der Italienischen Republik und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des vor dem vorlegenden Gericht anhängigen Strafverfahrens. Die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF ( Erste Kammer )

auf die ihm von der Pretura Asti mit Beschlüssen vom 18. Dezember 1987 vorgelegten Fragen für Recht erkannt :

Der Begriff "Abfälle" im Sinne der Artikel 1 der Richtlinien 75/442 und 78/319 des Rates erfasst Stoffe und Gegenstände, die zur wirtschaftlichen Wiederverwendung geeignet sind. Dieser Begriff setzt nicht voraus, daß der Besitzer, der sich eines Stoffes oder eines Gegenstands entledigt, dessen wirtschaftliche Wiederverwendung durch andere ausschließen will.

Ende der Entscheidung

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