Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 07.03.1989
Aktenzeichen: 215/87
Rechtsgebiete: EWGV


Vorschriften:

EWGV Art. 177
EWGV Art. 36
EWGV Art. 30
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Eine nationale Regelung, die es einer Privatperson untersagt, im Einfuhrmitgliedstaat zugelassene und ohne ärztliches Rezept erhältliche Arzneimittel, die in einem anderen Mitgliedstaat in einer Apotheke gekauft worden sind, für ihren persönlichen Bedarf einzuführen, beschränkt den innergemeinschaftlichen Handelsverkehr, ohne daß sie zum Schutz der öffentlichen Gesundheit gerechtfertigt wäre. Der Kauf des Arzneimittels in einer Apotheke in einem anderen Mitgliedstaat bietet nämlich eine Garantie, die derjenigen gleichwertig ist, die auf dem Verkauf des Arzneimittels durch eine Apotheke in dem Mitgliedstaat beruht, in den das Arzneimittel eingeführt wird; dies gilt um so mehr, als die Voraussetzungen für den Zugang zum Beruf des Apothekers und die Bedingungen für die Ausübung dieses Berufs in Gemeinschaftsrichtlinien geregelt sind.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (DRITTE KAMMER) VOM 7. MAERZ 1989. - HEINZ SCHUMACHER GEGEN HAUPTZOLLAMT FRANKFURT AM MAIN-OST. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG, VORGELEGT VOM HESSISCHEN FINANZGERICHT. - EINFUHR VON ARZNEIMITTELN - VEREINBARKEIT MIT DEN ARTIKELN 30 UND 36 EWG-VERTRAG. - RECHTSSACHE 215/87.

Entscheidungsgründe:

1 Das Hessische Finanzgericht hat mit Beschluß vom 25. Mai 1987, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Juli 1987, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Artikel 30 und 36 EWG-Vertrag vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Heinz Schumacher ( Kläger ) und dem Hauptzollamt Frankfurt am Main. Wie aus den Akten hervorgeht, bestellte der Kläger, der in Frankfurt am Main wohnt, bei der Pharmacie du Dôme in Straßburg zu seinem persönlichen Gebrauch "Chophytol", ein Arzneimittel auf der Basis von Artischockenextrakt, das insbesondere bei der Behandlung von Verdauungsstörungen und als harntreibendes Mittel verwendet wird. Dieses Arzneimittel, das in Frankreich hergestellt wird, ist in der Bundesrepublik Deutschland zugelassen und dort in den Apotheken rezeptfrei erhältlich. Sein Preis soll jedoch in der Bundesrepublik höher sein als in Frankreich. Als die Zollverwaltung die Abfertigung der betreffenden Sendung ablehnte, erhob der Kläger gegen diesen Bescheid Klage beim Hessischen Finanzgericht, das den Gerichtshof mit der vorliegenden Vorabentscheidungsfrage befasst hat.

3 Der Ablehnungsbescheid beruht auf § 73 Absatz 1 des Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelrechts vom 24. August 1976 ( BGBl. I, S. 2445 ); danach dürfen zulassungs - oder registrierungspflichtige Arzneimittel, die aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften stammen, nur eingeführt werden, wenn sie zugelassen oder registriert oder von dieser Formalität freigestellt sind und wenn der Empfänger der Einfuhrsendung pharmazeutischer Unternehmer, Großhändler oder Tierarzt ist oder eine Apotheke betreibt, was Privatpersonen als solche ausschließt. Es gibt mehrere Ausnahmen von diesem Verbot, die jedoch im Ausgangsverfahren keine Rolle spielen.

4 Das nationale Gericht hat Zweifel, ob eine derartige Bestimmung vor allem wegen ihres sehr generellen Charakters mit den Artikeln 30 ff. EWG-Vertrag in Einklang steht. Es hat daher dem Gerichtshof folgende Frage vorgelegt :

"Ist § 73 Absatz 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelrechts vom 24. August 1976 ( BGBl. I, S. 2445 ) mit Artikel 30 EWG-Vertrag vereinbar, soweit er generell die Einfuhr von Arzneimitteln aus Mitgliedstaaten durch Privatpersonen untersagt?"

5 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

6 Vorab ist darauf hinzuweisen, daß der Gerichtshof im Verfahren nach Artikel 177 EWG-Vertrag nicht über die Vereinbarkeit innerstaatlicher Rechtsvorschriften mit dem Vertrag befinden kann. Er ist jedoch befugt, dem vorlegenden Gericht alle Kriterien für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts an die Hand zu geben, die dieses in die Lage versetzen, in dem bei ihm anhängigen Verfahren über die Frage der Vereinbarkeit zu entscheiden.

7 So gesehen ist die Frage des Hessischen Finanzgerichts an den Gerichtshof dahin zu verstehen, ob die Artikel 30 und 36 EWG-Vertrag einer Regelung entgegenstehen, die es einer Privatperson untersagt, ein im Einfuhrmitgliedstaat zugelassenes und dort ohne ärztliches Rezept erhältliches Arzneimittel zum persönlichen Gebrauch einzuführen, das in einer Apotheke in einem anderen Mitgliedstaat gekauft worden ist.

8 Die Bundesregierung und die dänische Regierung machen geltend, eine Regelung wie die in dem Gesetz vom 24. August 1976 enthaltene, deren Grundsätze im übrigen durch eine Reihe von Ausnahmen wie diejenige für Reisende durchbrochen seien, sei gemäß Artikel 36 EWG-Vertrag aus zwingenden Gründen des Schutzes der öffentlichen Gesundheit gerechtfertigt.

9 Zweck der Arzneimittelvertriebssysteme, nach denen in den Mitgliedstaaten die Abgabe von Arzneimitteln grundsätzlich zugelassenen Einzelhändlern vorbehalten sei, sei es, dem Verbraucher eine Reihe von Garantien wie zum Beispiel gute Information, Beratung und - vor allem unter Berücksichtigung der Regelung über die Aufbewahrung - die Gewährleistung der Qualität zu bieten. Die Notwendigkeit dieser Garantien sei gemeinschaftsrechtlich, insbesondere durch die Richtlinie des Rates vom 26. Januar 1965 zur Angleichung der Rechts - und Verwaltungsvorschriften über Arzneispezialitäten ( 65/65, ABl. 1965, S. 369 ), anerkannt. Diese Richtlinie mache im übrigen das Inverkehrbringen von Arzneimitteln von der Genehmigung der Staaten abhängig, denen sie die Befugnis einräume, den Nutzen und die Unschädlichkeit der Arzneimittel zu beurteilen.

10 Dieses System wäre insgesamt in Frage gestellt, wenn es Privatpersonen freistuende, Arzneimittel einzuführen. Diese Möglichkeit könnte unkontrollierbare Umgehungen sowie eine mißbräuchliche Verwendung von Arzneimitteln zur Folge haben; auch könnte die in der Richtlinie vom 26. Januar 1965 vorgesehene Regel der nationalen Genehmigung für das Inverkehrbringen umgangen werden.

11 Die Kommission und die französische Regierung sind dagegen der Ansicht, daß eine Regelung wie die hier streitige mit den Artikeln 30 und 36 EWG-Vertrag unvereinbar sei, da sie in keinem Verhältnis zu den Erfordernissen des Schutzes der öffentlichen Gesundheit stehe.

12 Es sei zwar Sache der Staaten, den Handel mit Arzneimitteln zu regeln und die notwendigen Maßnahmen zu treffen, damit diese nur über Apotheken vertrieben würden. Ein generelles Einfuhrverbot sei jedoch gegenüber Privatpersonen nicht gerechtfertigt, wenn diese die betreffenden Arzneimittel in einer Apotheke in einem anderen Mitgliedstaat gekauft hätten. Dies allein bewirke, daß sämtliche Garantien vorlägen, die ein geschlossenes Vertriebssystem für Arzneimittel bieten solle. Es genüge, die Einfuhrgenehmigung auf das für den rein persönlichen Verbrauch des Betroffenen Erforderliche zu beschränken, was auf der Grundlage geeigneter Normen kontrolliert werden könne.

13 Die Kommission trägt vor, im vorliegenden Fall gehe es um ein in der Bundesrepublik Deutschland zugelassenes und rezeptfrei abgegebenes Arzneimittel. Diese beiden Elemente seien jedoch nicht ausschlaggebend, da es die persönliche Entscheidung des Betroffenen sei, wenn er ein im Wohnsitzstaat nicht zugelassenes Arzneimittel in einem anderen Mitgliedstaat kaufe. Sollte der Gerichtshof diese Auffassung nicht teilen, so hindere nichts daran, von dem privaten Einführer den Nachweis zu verlangen, daß das eingeführte Arzneimittel zugelassen und nicht verschreibungspflichtig oder aber ihm verschrieben worden sei.

14 Zunächst ist festzustellen - was im übrigen ausser Streit steht -, daß eine Regelung wie diejenige, die Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist, nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmässige Einfuhrbeschränkung darstellt.

15 Sodann ist zu bemerken, daß - wie der Gerichtshof bereits ausgeführt hat - die erwähnte Richtlinie vom 26. Januar 1965, geändert durch die Richtlinien des Rates 75/319 vom 20. März 1975 ( ABl. L 147, S. 13 ), 83/570 vom 20. Oktober 1983 ( ABl. L 332, S. 1 ) und 87/21 vom 22. Dezember 1986 ( ABl. L 15, S. 36 ), nur eine schrittweise Harmonisierung der nationalen Regelungen betreffend die Herstellung von und den Handel mit Arzneispezialitäten herbeiführen soll. Diese Harmonisierung ist beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts noch nicht vollauf erreicht : Beispielsweise kann ein Arzneimittel in einem Mitgliedstaat zugelassen sein, nicht aber in einem oder mehreren anderen; das gleiche gilt für die Frage seiner Rezeptpflichtigkeit. Erst wenn Richtlinien der Gemeinschaft die vollständige Harmonisierung aller zum Schutz der Gesundheit von Menschen und Tieren notwendigen Maßnahmen vorsehen, wird der Rückgriff auf Artikel 36 nicht mehr gerechtfertigt sein. Es ist daher zu prüfen, ob Maßnahmen der hier vorliegenden Art gemäß Artikel 36 EWG-Vertrag gerechtfertigt sein können.

16 Nach Artikel 36 EWG-Vertrag stehen "die Bestimmungen der Artikel 30 bis 34... Einfuhrverboten oder -beschränkungen nicht entgegen, die... zum Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen... gerechtfertigt sind", vorausgesetzt, daß sie "weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen ".

17 Es ist ständige Rechtsprechung des Gerichtshofes, daß unter den in Artikel 36 geschützten Gütern und Interessen die Gesundheit und das Leben von Menschen den ersten Rang einnehmen und daß es Sache der Mitgliedstaaten ist, in den durch den Vertrag gesetzten Grenzen zu bestimmen, in welchem Umfang sie deren Schutz gewährleisten wollen, insbesondere wie streng die durchzuführenden Kontrollen ausfallen sollen.

18 Es ist jedoch auch darauf hinzuweisen, daß nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes eine nationale Regelung oder Praxis, die sich hemmend auf die Einfuhren pharmazeutischer Erzeugnisse auswirkt oder auswirken kann, gemäß Artikel 36 nur insoweit mit dem Vertrag vereinbar ist, als sie für einen wirksamen Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen notwendig ist.

19 Kauft eine Privatperson in einer Apotheke in einem anderen Mitgliedstaat ein Arzneimittel, das in dem Mitgliedstaat, in den sie es zum persönlichen Gebrauch einführt, zugelassen und rezeptfrei erhältlich ist, so stellt eine Bestimmung wie der für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgebende § 73 des deutschen Gesetzes vom 24. August 1976 offensichtlich eine Maßnahme dar, die den innergemeinschaftlichen Handelsverkehr beschränkt, ohne daß sie zum Schutz der öffentlichen Gesundheit gerechtfertigt wäre.

20 Der Kauf des Arzneimittels in einer Apotheke in einem anderen Mitgliedstaat bietet nämlich eine Garantie, die derjenigen gleichwertig ist, auf die sich die Bundesregierung und die dänische Regierung berufen und die auf dem Verkauf des Arzneimittels durch eine Apotheke in dem Mitgliedstaat beruht, in den das Arzneimittel von einer Privatperson eingeführt wird. Dies gilt um so mehr, als die Voraussetzungen für den Zugang zum Beruf des Apothekers und die Bedingungen für die Ausübung dieses Berufs in den Richtlinien 85/432 und 85/433 des Rates vom 16. September 1985 ( ABl. L 253, S. 34 und 37 ) geregelt sind.

21 Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß der Bundesgesetzgeber in § 73 Absatz 2 Nrn. 6 und 7 des fraglichen Gesetzes eine Ausnahme vom Verbot der Einfuhr von Arzneimitteln vorgesehen hat, wenn diese im Reiseverkehr in die Bundesrepublik Deutschland in einer Menge eingebracht werden, die üblicherweise dem Gebrauch oder Verbrauch einer Reise angemessen ist, und wenn sie in Verkehrsmitteln mitgeführt werden und ausschließlich zum Gebrauch oder Verbrauch der durch diese Verkehrsmittel beförderten Personen bestimmt sind. Diese Bestimmungen zeigen, daß selbst der Bundesgesetzgeber Kontrollen wie die im vorliegenden Fall streitigen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit nicht für erforderlich hält; derartige Kontrollen gibt es nämlich nicht, wenn die Einfuhr nicht durch die Post, sondern auf anderen Wegen erfolgt, die keine höheren Garantien zum Schutz der öffentlichen Gesundheit als der Postweg bieten.

22 Auf die Vorlagefrage ist deshalb zu antworten, daß eine nationale Regelung, die es einer Privatperson untersagt, im Einfuhrmitgliedstaat zugelassene und ohne ärztliches Rezept erhältliche Arzneimittel, die in einem anderen Mitgliedstaat in einer Apotheke gekauft worden sind, für ihren persönlichen Bedarf einzuführen, mit den Artikeln 30 und 36 EWG-Vertrag unvereinbar ist.

Kostenentscheidung:

Kosten

23 Die Auslagen der Regierung des Bundesrepublik Deutschland, des Königreichs Dänemark und der Französischen Republik sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem nationalen Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF ( Dritte Kammer )

auf die ihm vom Hessischen Finanzgericht mit Beschluß vom 25. Mai 1987 vorgelegte Frage für Recht erkannt :

Eine nationale Regelung, die es einer Privatperson untersagt, im Einfuhrmitgliedstaat zugelassene und ohne ärztliches Rezept erhältliche Arzneimittel, die in einem anderen Mitgliedstaat in einer Apotheke gekauft worden sind, für ihren persönlichen Bedarf einzuführen, ist mit den Artikeln 30 und 36 EWG-Vertrag unvereinbar.

Ende der Entscheidung

Zurück