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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 23.02.1988
Aktenzeichen: 216/84
Rechtsgebiete:


Vorschriften:

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Ein Mitgliedstaat kann sich nicht, um die Einfuhr und den Verkauf von Ersatzstoffen für ein Lebensmittelerzeugnis zu verbieten, hinter den Erfordernissen des Verbraucherschutzes verschanzen, indem er sich auf die Gefahr einer Irreführung der Verbraucher über Art und Eigenschaften des Ersatzstoffes und die Gefahr beruft, daß dieser das Erzeugnis, mit dem er in Wettbewerb steht, zum Nachteil der freien Wahl der Verbraucher verdrängt. Die Information der Verbraucher kann nämlich durch ein geeignetes System der Bezeichnung und Kennzeichnung gewährleistet werden, und die Erfordernisse des Verbraucherschutzes können es nicht rechtfertigen, daß ein Erzeugnis dem Preiswettbewerb entzogen wird, der sich aus der Beseitigung der Hemmnisse für den innergemeinschaftlichen Handelsverkehr ergibt.

Er kann sich auch nicht zum selben Zweck auf die Erfordernisse des Gesundheitsschutzes stützen, indem er geltend macht, daß der Ersatzstoff einen geringeren Nährwert als das Erzeugnis habe, an dessen Stelle es treten solle, und unschädliche Auswirkungen auf bestimmte Gruppen der Bevölkerung hervorrufen könne. Ein geringerer Nährwert führt nämlich nicht zu einer wirklichen Gefahr für die menschliche Gesundheit, und eine geeignete Kennzeichnung kann es Personen, für die das Ersatzerzeugnis eine Gefahr darstellen könnte, ermöglichen, in voller Kenntnis der Sachlage über dessen Verwendung zu entscheiden.

2. Nationale Maßnahmen dürfen nicht gegen eines der Grundprinzipien der Gemeinschaft wie das des freien Warenverkehrs verstossen, ohne durch vom Gemeinschaftsrecht anerkannte Gründe gerechtfertigt zu sein.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 23. FEBRUAR 1988. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN FRANZOESISCHE REPUBLIK. - VERTRAGSVERLETZUNG EINES MITGLIEDSTAATS - FREIER WARENVERKEHR - ERSATZSTOFFE FUER MILCHPULVER UND KONDENSMILCH. - RECHTSSACHE 216/84.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 21. August 1984 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß die Französische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 30 EWG-Vertrag verstossen hat, daß sie die Einfuhr und den Verkauf von Ersatzstoffen für Milchpulver und Kondensmilch unabhängig von ihrer Bezeichnung verbietet.

2 Das von der Kommission beanstandete nationale Verbot ergibt sich aus Artikel 1 des Gesetzes über den Schutz der Milcherzeugnisse ( Loi relative à la protection des produits laitiers ) vom 29. Juni 1934 ( JORF vom 1. 7. 1934 ).

3 Im Vorverfahren sowie in ihrer Klagebegründung hat die Kommission im wesentlichen vorgetragen, daß die fragliche Vorschrift zu einem absoluten Verbot des Inhalts führe, daß unabhängig von der verwendeten Handelsbezeichnung Erzeugnisse, die zum Ersatz für Milchpulver und Kondensmilch bestimmt seien und sich aus anderen Erzeugnissen als Milch zusammensetzten, in Frankreich nicht in den Verkehr gebracht und nicht dorthin eingeführt werden dürften. Dieses absolute Verbot gelte zwar unterschiedslos für inländische und für eingeführte Erzeugnisse, sei aber weder durch einen der in Artikel 36 EWG-Vertrag aufgeführten Gründe noch durch ein zwingendes Erfordernis gerechtfertigt.

4 Die französische Regierung macht zur Verteidigung der streitigen Maßnahme geltend, sie sei sowohl aus Gründen des Verbraucherschutzes als auch des Schutzes der Gesundheit notwendig und entspreche den Zielen der Gemeinschaftspolitik in bezug auf Milcherzeugnisse. Ausserdem macht die französische Regierung geltend, Artikel 5 der Verordnung Nr. 1898/87 des Rates vom 2. Juli 1987 über den Schutz der Bezeichnung der Milch und Milcherzeugnisse bei ihrer Vermarktung ( ABl. L 182, S. 36 ) entfalte Rückwirkung.

5 Wegen weiterer Einzelheiten des rechtlichen Rahmens, des Sachverhalts, insbesondere der Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung, und des Parteivorbringens wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

6 Zuerst ist darauf hinzuweisen, daß es in Ermangelung einer gemeinsamen oder harmonisierten Regelung der Herstellung und Vermarktung von Ersatzerzeugnissen für Milch Sache der einzelnen Mitgliedstaaten ist, jeweils für ihr Hoheitsgebiet alle die Zusammensetzung, die Herstellung und die Vermarktung dieser Erzeugnisse betreffenden Vorschriften zu erlassen.

7 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes ergibt sich jedoch aus den Artikeln 30 ff. EWG-Vertrag, daß die Anwendung einer innerstaatlichen Regelung auf aus anderen Mitgliedstaaten eingeführte Erzeugnisse mit dem Vertrag nur insoweit vereinbar ist, als sie notwendig ist, um in Artikel 36 aufgeführten Gründen des Gemeinwohls, wie z. B. dem wirksamen Schutz der menschlichen Gesundheit, oder zwingenden Erfordernissen unter anderem des Verbraucherschutzes gerecht zu werden. Aus dieser Rechtsprechung geht auch hervor, daß ein Mitgliedstaat auf diese Gründe des Gemeinwohls oder auf zwingende Erfordernisse zur Rechtfertigung einer die Einfuhr beschränkenden Maßnahme nur dann zurückgreifen darf, wenn das gleiche Ziel nicht mit anderen, unter dem Gesichtspunkt des freien Warenverkehrs weniger einschneidenden Maßnahmen erreicht werden kann.

8 Deshalb sind die verschiedenen Begründungen der französischen Regierung für das Verbot jedes Handels mit dem betreffenden Erzeugnis nacheinander im Lichte dieser Rechtsprechung zu prüfen.

Zum Verbraucherschutz

9 Zum Verbraucherschutz trägt die französische Regierung im wesentlichen drei verschiedene Argumente vor; sie verweist erstens auf das Problem der Information der Verbraucher über den Umstand, daß ihnen Ersatzerzeugnisse zum Verbrauch angeboten werden, zweitens auf die Gefahr einer Irreführung der Verbraucher über die Eigenschaften des betreffenden Erzeugnisses und drittens auf die Möglichkeit, daß die Ersatzstoffe wegen ihres niedrigen Preises nach und nach die Milcherzeugnisse ersetzten und so den Verbrauchern jede Wahl nähmen.

10 Hierzu ist zunächst folgendes zu bemerken : Die Sorge der französischen Regierung um eine korrekte Information der Verbraucher über die von ihnen verbrauchten Erzeugnisse kann zwar gerechtfertigt sein. Im vorliegenden Fall kann eine solche Information aber unter anderem durch eine geeignete Kennzeichnung in bezug auf Art, Inhaltsstoffe und Eigenschaften des angebotenen Erzeugnisses gewährleistet werden. Wie die Kommission zu Recht ausführt, kann eine solche Information auch bewerkstelligt werden, wenn die Erzeugnisse durch Getränkeautomaten verkauft werden, sowie grundsätzlich auch bei Abgabe in Einrichtungen der Gemeinschaftsverpflegung. Zwar kann eine vollständige und detaillierte Information der Verbraucher bei der Verwendung von Milchersatzstoffen in der Gemeinschaftsverpflegung einige Schwierigkeiten bereiten, doch gibt es auch keine vollständige und detaillierte Information über die übrigen Bestandteile der in den genannten Einrichtungen angebotenen Lebensmittel und Mahlzeiten. Es besteht kein besonderer Grund dafür, daß die Verbraucher bei Milchersatzstoffen eingehender informiert werden müssten.

11 Was das Problem einer Information der Verbraucher betrifft, die geeignet ist, diese irrezuführen, geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes ( Urteil vom 16. Dezember 1980 in der Rechtssache 27/80, Fietje, Slg. 1980, 3839 ) hervor, daß nationale Maßnahmen, die erforderlich sind, um eine korrekte Bezeichnung der Erzeugnisse sicherzustellen und dabei jede Verwechslung beim Verbraucher zu verhindern und die Lauterkeit des Handels zu gewährleisten, erlassen werden können, ohne gegenden in den Artikeln 30 ff. EWG-Vertrag verankerten Grundsatz des freien Warenverkehrs zu verstossen. Das Gemeinschaftsrecht verbietet somit eine nationale Maßnahme zur Gewährleistung einer korrekten Information der Verbraucher und damit zur Verhinderung von Verwechslungen nicht. Die streitige Maßnahme geht jedoch über eine solche Gewährleistung hinaus.

12 Zum Risiko einer Verdrängung von Milcherzeugnissen durch Ersatzstoffe aufgrund von deren niedrigeren Preisen genügt die Feststellung, daß ein Mitgliedstaat ein Erzeugnis nicht unter Hinweis auf ein zwingendes Erfordernis wie den Verbraucherschutz den Auswirkungen eines Preiswettbewerbs entziehen darf, weil die Beseitigung der Hemmnisse für den innergemeinschaftlichen Handelsverkehr angeblich wirtschaftliche Schwierigkeiten verursacht. Mit dem Verkehrsverbot für Milchersatzstoffe garantiert die fragliche Vorschrift auch nicht die freie Wahl der Verbraucher. Im Gegenteil erlaubt nur die Möglichkeit, diese Ersatzstoffe einzuführen, den Verbrauchern eine wirkliche Wahl zwischen Weissern und Milcherzeugnissen.

13 Somit ist ein absolutes Einfuhr - und Verkehrsverbot für Milchersatzstoffe zum Schutz der Verbraucher nicht notwendig. Die erste Begründung der französischen Regierung ist daher zurückzuweisen.

Zum Gesundheitsschutz

14 In diesem Zusammenhang stützt sich die französische Regierung auf zwei Argumente, von denen das erste den Nährwert und das zweite die angeblich schädlichen Auswirkungen der Ersatzstoffe auf bestimmte Gruppen der Bevölkerung betrifft.

15 Zu dem ersten Argument ist festzustellen, daß sich ein Mitgliedstaat nicht auf Gründe des Gesundheitsschutzes stützen kann, um die Einfuhr eines Erzeugnisses mit der Begründung zu verbieten, dieses habe einen geringeren Nährwert oder einen höheren Gehalt an Fett als ein anderes Erzeugnis, das sich bereits auf dem betreffenden Markt befindet. Es ist nämlich offensichtlich, daß die Verbraucher in der Gemeinschaft bei Lebensmitteln eine so grosse Auswahl haben, daß der blosse Umstand, daß ein eingeführtes Erzeugnis einen geringeren Nährwert besitzt, nicht zu einer wirklichen Gefahr für die menschliche Gesundheit führt. Ferner gibt es, wie die Kommission von der französischen Regierung unwidersprochen vorgetragen hat, auf dem französischen Markt Erzeugnisse, die ebenfalls von geringerem Nährwert sind oder sich im wesentlichen aus den gleichen Fetten wie die Ersatzerzeugnisse zusammensetzen, ohne daß für sie ein Verkehrsverbot bestuende. Deshalb kann diesem Argument nicht gefolgt werden.

16 Zu den angeblich schädlichen Auswirkungen der Milchersatzstoffe auf bestimmte Gruppen der Bevölkerung führt die Kommission zu Recht aus, daß Milcherzeugnisse für Gruppen von Personen, die an bestimmten Krankheiten leiden, ebenfalls Risiken bergen und daß in Fachkreisen offenbar Uneinigkeit über die wirklichen und möglichen Gefahren tierischer und pflanzlicher Fette für die menschliche Gesundheit besteht. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß eine geeignete Kennzeichnung, mit der die Verbraucher über die Art, die Inhaltsstoffe und die Eigenschaften der angebotenen Ersatzstoffe informiert werden, Personen, für die pflanzliche Fette oder die anderen Bestandteile der Ersatzstoffe eine Gefahr darstellen könnten, in die Lage versetzt, selbst über deren Verwendung zu entscheiden.

17 Unter diesen Umständen lässt sich ein absolutes Verbot der Einfuhr von Milchersatzstoffen nicht mit Gründen des Schutzes der menschlichen Gesundheit rechtfertigen.

Zur Übereinstimmung der streitigen Maßnahme mit den Zielen der Politik der Gemeinschaft auf diesem Gebiet

18 Zu dem Vorbringen der französischen Regierung, daß das Verkehrsverbot für Milchersatzstoffe in Frankreich mit der gemeinsamen Agrarpolitik in Einklang stehe, ist zunächst festzustellen, daß Milcherzeugnisse einer gemeinsamen Marktorganisation unterliegen, die dazu bestimmt ist, den Milchmarkt unter anderem durch den Rückgriff auf Interventionsmaßnahmen zu stabilisieren. Nach ständiger Rechtsprechung sind die Mitgliedstaaten, sobald die Gemeinschaft eine gemeinsame Marktorganisation für einen bestimmten Sektor errichtet hat, verpflichtet, sich aller einseitigen Maßnahmen zu enthalten, die aus diesem Grund der Zuständigkeit der Gemeinschaft unterliegen. Es ist deshalb Sache der Gemeinschaft und nicht eines Mitgliedstaats, eine Lösung dieses Problems im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik zu suchen.

19 In diesem Zusammenhang ist hinzuzufügen, daß nationale Maßnahmen, selbst wenn sie eine gemeinsame Politik der Gemeinschaft unterstützen, nicht gegen eines der Grundprinzipien der Gemeinschaft, im vorliegenden Fall das des freien Warenverkehrs, verstossen dürfen, ohne durch vom Gemeinschaftsrecht anerkannte Gründe gerechtfertigt zu sein.

20 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, daß die streitige Maßnahme unter das Verbot des Artikels 30 EWG-Vertrag fällt, ohne durch ein zwingendes Erfordernis oder einen der in Artikel 36 EWG-Vertrag aufgeführten Gründe gerechtfertigt zu sein.

Zur Rechtfertigung der streitigen Maßnahme durch Artikel 5 der Verordnung Nr. 1898/87

21 Die französische Regierung legt ferner Artikel 5 der Verordnung Nr. 1898/87, wonach die Mitgliedstaaten für eine gewisse Zeit "unter Einhaltung der allgemeinen Bestimmungen des Vertrages ihre innerstaatlichen Regelungen aufrechterhalten (( können )), durch die die Herstellung und Vermarktung der Erzeugnisse, die den Bedingungen gemäß Artikel 2 dieser Verordnung nicht entsprechen, in ihrem Hoheitsgebiet eingeschränkt werden", dahin aus, daß die fragliche französische Regelung auf jeden Fall weiterhin angewandt werden kann.

22 Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden. Es kann dahingestellt bleiben, ob die fragliche Bestimmung überhaupt Rückwirkung entfaltet, denn sie rechtfertigt die Aufrechterhaltung innerstaatlicher Regelungen jedenfalls nur unter der Voraussetzung, daß die allgemeinen Bestimmungen des EWG-Vertrages eingehalten werden. Wie der Gerichtshof oben ausgeführt hat, verstösst die fragliche Regelung jedoch gegen Artikel 30 EWG-Vertrag und erfuellt deshalb nicht die Voraussetzungen des Artikels 5 der Verordnung Nr. 1898/87.

23 Nach allem ist die Vertragsverletzung nachgewiesen. Es ist deshalb festzustellen, daß die Französische Republik dadurch gegen eine ihrer Verpflichtungen aus Artikel 30 EWG-Vertrag verstossen hat, daß sie die Einfuhr von Ersatzstoffen für Milchpulver und Kondensmilch und der Verkauf dieser eingeführten Erzeugnisse unabhängig von ihrer Bezeichnung verbietet.

Kostenentscheidung:

Kosten

24 Gemäß Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Beklagte mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

für Recht erkannt und entschieden :

1 ) Die Französische Republik hat dadurch gegen eine ihrer Verpflichtungen aus Artikel 30 EWG-Vertrag verstossen, daß sie die Einfuhr von Ersatzstoffen für Milchpulver und Kondensmilch und der Verkauf dieser eingeführten Erzeugnisse unabhängig von ihrer Bezeichnung verbietet.

2 ) Die Französische Republik trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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