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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 11.01.1990
Aktenzeichen: 220/88
Rechtsgebiete: Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen
Vorschriften:
Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen Art. 5 Nr. 3 |
Mit dem Begriff "Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist" in Artikel 5 Nr. 3 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil - und Handelssachen kann zwar der Ort, an dem der Schaden eingetreten ist, gemeint sein, doch kann der letztgenannte Begriff nur so verstanden werden, daß er den Ort bezeichnet, an dem das haftungsauslösende Ereignis den unmittelbar Betroffenen direkt geschädigt hat.
Die Zuständigkeitsvorschrift des Artikels 5 Nr. 3 kann daher nicht so ausgelegt werden, daß sie es einem Kläger, der einen Schaden geltend macht, der angeblich die Folge des Schadens ist, den andere Personen unmittelbar aufgrund des schädigenden Ereignisses erlitten haben, erlaubt, den Urheber dieses Ereignisses vor den Gerichten des Ortes zu verklagen, an dem er selbst den Schaden an seinem Vermögen festgestellt hat.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (SECHSTE KAMMER) VOM 11. JANUAR 1990. - DUMEZ FRANCE SA UND TRACOBA SARL GEGEN HESSISCHE LANDESBANK UND ANDERE. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: COUR DE CASSATION - FRANKREICH. - BRUESSELER UEBEREINKOMMEN - GERICHTSSTAND DER UNERLAUBTEN HANDLUNG - AUSLEGUNG VON ARTIKEL 5 NR. 3 - MITTELBARES OPFER - SCHADEN, DER SICH FUER EINE MUTTERGESELLSCHAFT AUS DEN FINANZIELLEN VERLUSTEN IHRER TOCHTERGESELLSCHAFT ERGIBT. - RECHTSSACHE 220/88.
Entscheidungsgründe:
1 Die französische Cour de cassation hat mit Urteil vom 21. Juni 1988, beim Gerichtshof eingegangen am 4. August 1988, gemäß dem Protokoll vom 3. Juni 1971 betreffend die Auslegung des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil - und Handelssachen ( Übereinkommen ) durch den Gerichtshof eine Frage nach der Auslegung von Artikel 5 Nr. 3 des Übereinkommens zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit, in dem es um eine Klage wegen quasi-deliktischer Haftung geht, die die französischen Firmen Sceper und Tracoba, deren Rechtsnachfolgerinnen die Firmen Dumez France und Oth Infrastructure sind, ( im folgenden : Klägerinnen ) vor den französischen Gerichten gegen die Hessische Landesbank, die Salvatorplatz-Grundstücksgesellschaft mbH & Co. OHG Saarland sowie die Lübecker Hypothekenbank, die ihren Sitz in der Bundesrepublik Deutschland haben, ( im folgenden : Beklagte ) erhoben haben.
3 Wie sich aus den Akten des Ausgangsverfahrens ergibt, begehren die Klägerinnen Ersatz des Schadens, den sie angeblich wegen der finanziellen Verluste und anschließenden Auflösung ihrer in der Bundesrepublik Deutschland niedergelassenen Tochtergesellschaften erlitten haben; Ursache hierfür sei die Einstellung eines Programms zur Errichtung von Gebäuden in der Bundesrepublik Deutschland für einen deutschen Bauträger gewesen, zu der es gekommen war, nachdem die Beklagten die dem Bauträger eingeräumten Kredite gekündigt hatten.
4 Mit Urteil vom 14. Mai 1985 gab das Tribunal de commerce Paris der von den Beklagten erhobenen Einrede der Unzuständigkeit mit der Begründung statt, daß der ursprüngliche Schaden bei den Tochtergesellschaften der Klägerinnen in der Bundesrepublik Deutschland eingetreten sei und daß die französischen Muttergesellschaften danach nur mittelbar einen finanziellen Schaden erlitten hätten.
5 Mit Urteil vom 13. Dezember 1985 bestätigte die Cour d' appel Paris dieses Urteil mit der Begründung, die buchmässigen Auswirkungen, die sich für die Klägerinnen nach ihrem Vorbringen an ihrem Sitz in Frankreich ergeben hätten, könnten keine Verlagerung des Ortes bewirken, an dem der ursprünglich von ihren Tochtergesellschaften in der Bundesrepublik Deutschland erlittene Schaden eingetreten sei.
6 Zur Stützung ihrer gegen dieses Urteil erhobenen Kassationsbeschwerde haben die Klägerinnen geltend gemacht, die Rechtsprechung des Gerichtshofes ( Urteil vom 30. November 1976 in der Rechtssache 21/76 G. J. Bier BV/Mines de Potasse d' Alsace SA, Slg. 1976, 1735 ), wonach der Begriff "Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist" in Artikel 5 Nr. 3 des Übereinkommens so zu verstehen sei, daß er sowohl den Ort, an dem der Schaden eingetreten sei, als auch den Ort des ursächlichen Geschehens meine, so daß der Beklagte nach Wahl des Klägers an dem einen oder dem anderen dieser Orte verklagt werden könne, sei auch im Falle eines mittelbaren Schadens anwendbar. In diesem Fall sei der Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten sei, für denjenigen, der einen Schaden als Folge des dem ursprünglich Betroffenen entstandenen Schadens erlitten habe, der Ort, an dem seine Interessen beeinträchtigt worden seien; da es sich im vorliegenden Fall um französische Gesellschaften handele, sei der finanzielle Schaden, den sie infolge der finanziellen Verluste und anschließenden Auflösung ihrer Tochtergesellschaften in der Bundesrepublik Deutschland erlitten hätten, demnach in Frankreich am Sitz der Klägerinnen eingetreten.
7 Die französische Cour de cassation hat, da der Rechtsstreit ihrer Ansicht nach eine Frage nach der Auslegung des Gemeinschaftsrechts aufwirft, das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt :
"Ist die Regel über die gerichtliche Zuständigkeit, durch die dem Kläger für die Anwendung von Artikel 5 Nr. 3 des Übereinkommens die Wahl zwischen dem Gericht des Ortes des ursächlichen Geschehens und dem des Ortes, an dem der Schaden eingetreten ist, überlassen wird, auf den Fall auszudehnen, daß der angebliche Schaden nur die Folge des Schadens ist, den die Personen erlitten haben, die unmittelbar durch den an einem anderen Ort eingetretenen Schaden geschädigt geworden sind, was dem mittelbar Geschädigten - wird die Frage bejaht - ermöglichen würde, das Gericht an seinem Wohnsitz anzurufen?"
8 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als es das Urteil des Gerichtshofes erfordert.
9 In Artikel 5 des Übereinkommens heisst es :
"Eine Person, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats hat, kann in einem anderen Vertragsstaat verklagt werden :...
3 ) wenn eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder wenn Ansprüche aus einer solchen Handlung den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist ".
10 Im Urteil vom 30. November 1976 in der Rechtssache 21/76 ( a. a. O.) hat der Gerichtshof für Recht erkannt, daß dann, wenn der Ort, an dem das für die Begründung einer Schadensersatzpflicht wegen unerlaubter Handlung in Betracht kommende Ereignis stattgefunden hat, nicht auch der Ort ist, an dem aus diesem Ereignis ein Schaden entstanden ist, der Begriff "Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist" in Artikel 5 Nr. 3 des Übereinkommens so zu verstehen ist, daß er sowohl den Ort, an dem der Schaden eingetreten ist, als auch den Ort des ursächlichen Geschehens meint, so daß der Beklagte nach Wahl des Klägers vor dem Gericht des Ortes, an dem der Schaden eingetreten ist, oder vor dem Gericht des Ortes des dem Schaden zugrundeliegenden ursächlichen Geschehens verklagt werden kann.
11 Die Klägerinnen weisen darauf hin, daß der Gerichtshof in diesem Urteil Artikel 5 Nr. 3 des Übereinkommens ausgelegt habe, ohne danach zu unterscheiden, ob es sich um einen unmittelbar oder mittelbar Geschädigten handele. Folglich sei im Falle eines mittelbar Geschädigten, der einen eigenen Schaden geltend mache, das Gericht des Ortes zuständig, an dem dieser von diesem Schaden betroffen worden sei.
12 Hierzu ist zunächst festzustellen, daß das genannte Urteil vom 30. November 1976 zu einem Sachverhalt ergangen ist, bei dem der Schaden - die Schädigung landwirtschaftlicher Nutzflächen in den Niederlanden - in einer gewissen Entfernung vom Ort des ursächlichen Geschehens - der Einleitung von Salzabfällen in den Rhein durch ein in Frankreich ansässiges Unternehmen -, aber durch die unmittelbare Wirkung des ursächlichen Stoffes, nämlich der weitergeleiteten Salzabfälle, eingetreten ist.
13 Dagegen lagen im vorliegenden Ausgangsverfahren Ursprung und unmittelbare Folgen des Schadens, der den Klägerinnen angeblich durch die Kündigung der dem Bauträger zur Finanzierung der Bauarbeiten eingeräumten Kredite durch die Beklagten eingetreten ist, in ein und demselben Vertragsstaat, nämlich in dem Staat, in dem sowohl die kreditgebenden Banken als auch der Bauträger und die mit der Durchführung der Bauarbeiten beauftragten Tochterunternehmen der Klägerinnen ansässig waren. Der von den klagenden Muttergesellschaften geltend gemachte Schaden ist lediglich die mittelbare Folge der finanziellen Verluste, die zunächst ihre Tochtergesellschaften infolge der Kündigung der Kredite und der anschließenden Einstellung der Arbeiten erlitten haben.
14 Folglich ist in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens der geltend gemachte Schaden nur die mittelbare Folge des ursprünglich von anderen Rechtssubjekten unmittelbar erlittenen Schadens, dessen Erfolg sich an einem anderen als dem Ort verwirklicht hat, an dem anschließend der mittelbar Betroffene einen Schaden erlitten hat.
15 Daher ist zu prüfen, ob der Begriff "Ort, an dem der Schaden eingetreten ist" im Sinne des Urteils vom 30. November 1976 so verstanden werden kann, daß er sich auf den Ort bezieht, an dem die mittelbar Geschädigten die schädigenden Folgen für ihr eigenes Vermögen feststellen.
16 Insoweit sieht das Übereinkommen im Rahmen des mit Titel II geschaffenen Systems von Zuständigkeiten in Artikel 2 als allgemeine Regel die Zuständigkeit der Gerichte des Staates vor, in dem der Beklagte seinen Wohnsitz hat. Ferner hat das Übereinkommen seine Mißbilligung der Zuständigkeit der Gerichte am Wohnsitz des Klägers dadurch zum Ausdruck gebracht, daß es in Artikel 3 Absatz 2 die Anwendung nationaler Bestimmungen ausschließt, die solche Gerichtsstände gegenüber Beklagten vorsehen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats haben.
17 Nur als Ausnahmen von der allgemeinen Regel der Zuständigkeit der Gerichte des Staates, in dem der Beklagte seinen Wohnsitz hat, sieht der 2. Abschnitt des Titels II eine Reihe besonderer Zuständigkeiten vor, zu denen auch die nach Artikel 5 Nr. 3 des Übereinkommens gehört. Wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat ( Urteil vom 30. November 1976, a. a. O., Randnrn. 10 und 11 ), beruhen diese besonderen Zuständigkeiten, die nach Wahl des Klägers zur Anwendung kommen, darauf, daß zwischen der Streitigkeit und anderen Gerichten als denen des Staates, in dem der Beklagte seinen Wohnsitz hat, eine besonders enge Beziehung besteht, die aus Gründen einer geordneten Rechtspflege und einer sachgerechten Gestaltung des Prozesses eine Zuständigkeit dieser Gerichte rechtfertigt.
18 Diesem Ziel kommt in einem Übereinkommen, das im wesentlichen die Anerkennung und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen ausserhalb des Staates, in dem sie ergangen sind, fördern soll, grundlegende Bedeutung zu; zu seiner Verwirklichung ist es unerläßlich, eine Vermehrung der zuständigen Gerichte zu verhindern, die die Gefahr der Unvereinbarkeit von Entscheidungen verstärkt, die gemäß Artikel 27 Nr. 3 des Übereinkommens ein Grund für die Verweigerung der Anerkennung oder der Vollstreckbarerklärung ist.
19 Dieses Ziel steht ferner jeder Auslegung des Übereinkommens entgegen, die ausser in den ausdrücklich vorgesehenen Fällen dazu führen könnte, die Zuständigkeit der Gerichte am Wohnsitz des Klägers anzuerkennen, und die dem Kläger dadurch erlauben würde, durch die Wahl seines Wohnsitzes das zuständige Gericht zu bestimmen.
20 Demgemäß kann nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes ( Urteil vom 30. November 1976, a. a. O.) zwar mit dem Begriff "Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist", in Artikel 5 Nr. 3 des Übereinkommens der Ort, an dem der Schaden eingetreten ist, gemeint sein, doch kann der letztgenannte Begriff nur so verstanden werden, daß er den Ort bezeichnet, an dem das haftungsauslösende Ereignis den unmittelbar Betroffenen direkt geschädigt hat.
21 Im übrigen weist der Ort, an dem der ursprüngliche Schaden eingetreten ist, im allgemeinen einen engen Bezug zu den anderen tatbestandlichen Voraussetzungen für die Haftung auf, während dies beim Wohnsitz des mittelbar Geschädigten meist nicht der Fall ist.
22 Auf die Vorlagefrage ist daher zu antworten, daß die Zuständigkeitsvorschrift des Artikels 5 Nr. 3 des Übereinkommens nicht so ausgelegt werden kann, daß sie es einem Kläger, der einen Schaden geltend macht, der angeblich die Folge des Schadens ist, den andere Personen unmittelbar aufgrund des schädigenden Ereignisses erlitten haben, erlaubt, den Urheber dieses Ereignisses vor den Gerichten des Ortes zu verklagen, an dem er selbst den Schaden an seinem Vermögen festgestellt hat.
Kostenentscheidung:
Kosten
23 Die Auslagen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, der Regierung der Französischen Republik, des Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen Gemeinschaft, die beim Gerichtshof Erklärungen eingereicht haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit, in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Tenor:
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF ( Sechste Kammer )
auf die ihm von der französischen Cour de cassation mit Urteil vom 21. Juni 1988 vorgelegte Frage für Recht erkannt :
Die Zuständigkeitsvorschrift des Artikels 5 Nr. 3 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil - und Handelssachen kann nicht so ausgelegt werden, daß sie es einem Kläger, der einen Schaden geltend macht, der angeblich die Folge des Schadens ist, den andere Personen unmittelbar aufgrund des schädigenden Ereignisses erlitten haben, erlaubt, den Urheber dieses Ereignisses vor den Gerichten des Ortes zu verklagen, an dem er selbst den Schaden an seinem Vermögen festgestellt hat.
Ende der Entscheidung
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