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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 22.09.1988
Aktenzeichen: 228/87
Rechtsgebiete: RL 80/778, EGWV


Vorschriften:

RL 80/778 Art. 10 Abs. 1
EGWV Art. 177
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Die in Artikel 10 Absatz 1 der Richtlinie 80/778 über die Qualität von Wasser für den menschlichen Gebrauch vorgesehene Zulassung einer Überschreitung der in Anhang I der Richtlinie festgelegten zulässigen Hoechstkonzentrationen darf nur in einer Notstandssituation erteilt werden, in der die nationalen Behörden plötzlich Schwierigkeiten bei der Trinkwasserversorgung bewältigen müssen. Eine solche Zulassung muß auf den Zeitraum beschränkt werden, der normalerweise zur Wiederherstellung der Qualität des betreffenden Wassers erforderlich ist, sie darf die Volksgesundheit nicht in unzumutbarer Weise gefährden und ist nur möglich, wenn die Trinkwasserversorgung nicht anders sichergestellt werden kann.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (DRITTE KAMMER) VOM 22. SEPTEMBER 1988. - STRAFVERFAHREN GEGEN X. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG, VORGELEGT VON DER PRETURA UNIFICATA TURIN. - QUALITAETSNORMEN FUER WASSER, DAS FUER DEN MENSCHLICHEN GEBRAUCH BESTIMMT IST. - RECHTSSACHE 228/87.

Entscheidungsgründe:

1 Die Pretura unificata Turin hat mit Beschluß vom 22. Juli 1987, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Juli 1987, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 10 Absatz 1 der Richtlinie 80/778 des Rates vom 15. Juli 1980 über die Qualität von Wasser für den menschlichen Gebrauch ( ABl. L 229, S. 11 ) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage ist in einem Strafverfahren gegen Unbekannt aufgeworfen worden, das der Pretore von Turin einleitete, nachdem er vom Ergebnis der Analyse bestimmter Proben Kenntnis erhalten hatte, die eine örtliche Gesundheitsbehörde für den menschlichen Gebrauch bestimmtem Wasser entnommen hatte. Diese Proben zeigten, daß in einigen Brunnen Atrazin in einer Konzentration vorhanden war, die den Grenzwert ( je Einzelbestandteil ) von 0,1 Mikrogramm/Liter überstieg, der durch das Decreto del Presidente del Consiglio dei Ministri ( DPCM ) vom 8. Februar 1985 zur Durchführung der oben genannten Richtlinie für Pestizide festgesetzt worden war.

3 Aus den Akten geht hervor, daß der Gesundheitsminister und die zuständigen Stellen der Region Piemont den zulässigen Hoechstgehalt an Atrazin durch verschiedene von den Bestimmungen des genannten DPCM abweichende Verordnungen für einen Gesamtzeitraum vom 25. Juni 1986 bis zum 31. Dezember 1987 auf 1 Mikrogramm/Liter Wasser für den menschlichen Gebrauch anhoben. Durch neue Verordnungen für einen Gesamtzeitraum vom 3. April 1987 bis zum 31. März 1988 übernahmen der Gesundheitsminister und die Region Piemont die zuvor für Atrazin erlassenen Bestimmungen und setzten die zulässige Hoechstgrenze für den Molinatgehalt auf 6 und 3,5 Mikrogramm/Liter Wasser für den menschlichen Gebrauch fest.

4 In dem in Frage stehenden Strafverfahren geht es um das Delikt der Unterlassung von Amtshandlungen gemäß Artikel 328 des italienischen Strafgesetzbuches, das die Behörden dadurch begangen haben sollen, daß sie den menschlichen Gebrauch von Wasser, das den Erfordernissen des genannten DPCM nicht entsprach, nicht untersagt haben. Nach Auffassung des Pretore von Turin wäre die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Behörden jedoch ausgeschlossen, wenn die in den genannten Verordnungen enthaltenen Abweichungen von dem DPCM den nach der Richtlinie 80/778 zulässigen Abweichungen entsprächen. Zur Beantwortung dieser Frage hat der Pretore es für erforderlich gehalten, dem Gerichtshof folgende Frage vorzulegen : "Ist die Richtlinie 80/778/EWG, insbesondere ihr Artikel 10 Absatz 1, dahin auszulegen, daß sie die Mitgliedstaaten ermächtigt, nach den Modalitäten und unter den Umständen, wie sie in den genannten Verordnungen des Gesundheitsministeriums und der Region Piemont angeführt sind, Abweichungen einzuführen?"

5 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, der einschlägigen nationalen und gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

6 In Anbetracht des Wortlauts der vom Pretore von Turin vorgelegten Frage ist daran zu erinnern, daß der Gerichtshof nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen der Anwendung von Artikel 177 EWG-Vertrag nicht dafür zuständig ist, über die Vereinbarkeit einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift mit dem Gemeinschaftsrecht zu entscheiden ( unter anderem Urteil vom 11. Juni 1987 in der Rechtssache 14/86, Pretore di Salò, Slg. 1987, 2545 ).

7 Er kann aber aus der Fassung der Fragen des vorlegenden Gerichts unter Berücksichtigung des von diesem mitgeteilten Sachverhalts das herausschälen, was die Auslegung des Gemeinschaftsrechts betrifft, um diesem Gericht die Lösung der ihm vorliegenden Rechtsfrage zu ermöglichen.

8 Aus der Formulierung des Vorlagebeschlusses ergibt sich, daß das nationale Gericht den Gerichtshof im wesentlichen nach der Auslegung des Artikels 10 Absatz 1 der Richtlinie und insbesondere nach den Voraussetzungen fragt, unter denen nach dieser Bestimmung eine Überschreitung der in Anhang I festgelegten zulässigen Hoechstkonzentrationen zugelassen werden kann.

9 Zunächst ist festzustellen, daß die Richtlinie 80/778 den Mitgliedstaaten in bezug auf die Qualität von Wasser für den menschlichen Gebrauch genau umschriebene Verpflichtungen auferlegt. Dieses Wasser muß nämlich binnen fünf Jahren nach Bekanntgabe der Richtlinie ( Artikel 19 ) zumindest den für die in Anhang I angeführten Parameter angegebenen Werten entsprechen ( Artikel 7 Absatz 6 ). Um die Einhaltung dieser Verpflichtung sicherzustellen, müssen die Mitgliedstaaten regelmässige Kontrollen gemäß Anhang II durchführen und dabei die in Anhang III erwähnten Analyseverfahren anwenden ( Artikel 12 ).

10 Abweichungen von der Richtlinie sind nur unter den in den Artikeln 9, 10 und 20 vorgesehenen Voraussetzungen zulässig. Diese Bestimmungen sind eng auszulegen.

11 Die in den Artikeln 9 und 20 vorgesehenen Abweichungen haben keinen Bezug zum Sachverhalt des Ausgangsverfahrens. Zum einen sind die Verordnungen nicht auf die Beschaffenheit und Struktur des Geländes des geographischen Bereichs gestützt, von dem die betreffende Quelle abhängt; ihr Erlaß ist nicht auf aussergewöhnliche Wetterverhältnisse zurückzuführen, und die Abweichungen betreffen entgegen Artikel 9 Absatz 3 toxische Stoffe ( Anhang I, unter D ). Zum anderen hat die Italienische Republik nicht das Verfahren des Artikels 20 angewandt, das es ermöglicht, unter der Kontrolle der Kommission und des Rates Schwierigkeiten zu bewältigen, die durch die Umsetzung der Richtlinie innerhalb der in Artikel 18 vorgeschriebenen Frist entstehen.

12 Artikel 10 Absatz 1 der Richtlinie hat folgenden Wortlaut :

"In Notfällen können die zuständigen nationalen Behörden für einen begrenzten Zeitraum zulassen, daß die in Anhang I festgelegten zulässigen Hoechstkonzentrationen überschritten werden, soweit die Volksgesundheit dadurch nicht in unzumutbarer Weise gefährdet wird und die Trinkwasserversorgung nicht anders sichergestellt werden kann; sie legen dabei fest, um welchen Wert die betreffenden Grenzwerte überschritten werden dürfen."

13 Es ist festzustellen, daß diese Bestimmung flexibler ist als die des Artikels 5 Absatz 2 des Richtlinienvorschlags der Kommission ( ABl. 1975, C 214, S. 2 ), wonach bei bestimmten toxischen Faktoren und insbesondere bei Schädlingsbekämpfungsmitteln und verwandten Erzeugnissen keine Abweichung zulässig war. Die Richtlinie hat zwar Abweichungen bei für die menschliche Gesundheit gefährlichen Faktoren zugelassen, sie jedoch von strengen Voraussetzungen abhängig gemacht.

14 Erstens ergibt sich aus den verschiedenen sprachlichen Fassungen des Artikels 10 Absatz 1, daß unter dem Begriff "Notfälle" eine Notstandssituation zu verstehen ist, in der die zuständigen Behörden plötzlich Schwierigkeiten bei der Trinkwasserversorgung bewältigen müssen.

15 Zweitens wird die Überschreitung der zulässigen Hoechstkonzentrationen nur für einen begrenzten Zeitraum zugelassen, der der Zeit entspricht, die normalerweise zur Wiederherstellung der Qualität des betreffenden Wassers erforderlich ist.

16 Drittens ist es unbedingt notwendig, daß diese Überschreitung die Volksgesundheit nicht in unzumutbarer Weise gefährdet. Es ist Sache der Mitgliedstaaten, aufgrund der bekannten wissenschaftlichen Daten zu beurteilen, ob eine solche Gefahr besteht.

17 Schließlich ist erforderlich, daß die Trinkwasserversorgung nicht anders sichergestellt werden kann. Dies ist unter Berücksichtigung der den öffentlichen Stellen zur Verfügung stehenden Mittel zu beurteilen.

18 Ausserdem ist festzustellen, daß die Mitgliedstaaten nach Artikel 16 der Richtlinie für Wasser für den menschlichen Gebrauch strengere Vorschriften als die in der Richtlinie vorgesehenen festlegen können, mit Ausnahme von Maßnahmen, die eine Behinderung des freien Verkehrs mit Nahrungsmitteln darstellen, bei denen das verwendete Wasser der Richtlinie entspricht. Artikel 10 Absatz 1 hindert den nationalen Gesetzgeber also nicht daran, die Zulassung einer Überschreitung der Hoechstkonzentrationen von strengeren Voraussetzungen abhängig zu machen oder eine solche Überschreitung sogar zu verbieten.

19 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die innerstaatliche Regelung Bestimmungen enthält, die die in der Richtlinie vorgesehenen Möglichkeiten einer Abweichung von den Vorschriften der Richtlinie einschränken.

20 Die vom Pretore von Turin vorgelegte Frage ist daher wie folgt zu beantworten :

1 ) Die in Artikel 10 Absatz 1 der Richtlinie 80/778 über die Qualität von Wasser für den menschlichen Gebrauch vorgesehene Zulassung einer Überschreitung der in Anhang I der Richtlinie festgelegten zulässigen Hoechstkonzentrationen darf nur in einer Notstandssituation erteilt werden, in der die nationalen Behörden plötzlich Schwierigkeiten bei der Trinkwasserversorgung bewältigen müssen.

2 ) Eine solche Zulassung muß auf den Zeitraum beschränkt werden, der normalerweise zur Wiederherstellung der Qualität des betreffenden Wassers erforderlich ist, sie darf die Volksgesundheit nicht in umzumutbarer Weise gefährden und ist nur möglich, wenn die Trinkwasserversorgung nicht anders sichergestellt werden kann.

Kostenentscheidung:

Kosten

21 Die Auslagen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften und der italienischen Regierung, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens. Die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF ( Dritte Kammer )

auf die ihm vom Pretore von Turin mit Beschluß vom 22. Juli 1987 vorgelegte Frage für Recht erkannt :

1 ) Die in Artikel 10 Absatz 1 der Richtlinie 80/778 über die Qualität von Wasser für den menschlichen Gebrauch vorgesehene Zulassung einer Überschreitung der in Anhang I der Richtlinie festgelegten zulässigen Hoechstkonzentrationen darf nur in einer Notstandssituation erteilt werden, in der die nationalen Behörden plötzlich Schwierigkeiten bei der Trinkwasserversorgung bewältigen müssen.

2 ) Eine solche Zulassung muß auf den Zeitraum beschränkt werden, der normalerweise zur Wiederherstellung der Qualität des betreffenden Wassers erforderlich ist, sie darf die Volksgesundheit nicht in unzumutbarer Weise gefährden und ist nur möglich, wenn die Trinkwasserversorgung nicht anders sichergestellt werden kann.

Ende der Entscheidung

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