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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 21.06.1988
Aktenzeichen: 257/86
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 169
EWG-Vertrag Art. 95
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Rechtsschutzes erfordern auf den vom Gemeinschaftsrecht erfassten Gebieten eine eindeutige Formulierung der Rechtsnormen der Mitgliedstaaten, die den betroffenen Personen die klare und genaue Kenntnis ihrer Rechte und Pflichten ermöglicht und die innerstaatlichen Gerichte in die Lage versetzt, deren Einhaltung sicherzustellen.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 21. JUNI 1988. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN ITALIENISCHE REPUBLIK. - MEHRWERTSTEUERBEFREIUNG FUER EINFUHREN KOSTENLOSER WARENMUSTER VON GERINGEM WERT - UMSETZUNG DER RICHTLINIE 77/388/EWG IN INNERSTAATLICHES RECHT. - RECHTSSACHE 257/86.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen am 15. Oktober 1986, gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß die Italienische Republik gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie 77/388 des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem : einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage ( ABl. L 145, S. 1 ) und aus Artikel 95 EWG-Vertrag verstossen hat, indem sie die Einfuhr geringwertiger Gratismuster der Mehrwertsteuer unterworfen hat, während gleichartige Muster aus inländischer Herstellung von dieser Steuer befreit sind.

2 Nach Artikel 2 Absatz 3 Buchstabe d des Dekrets Nr. 633 des Präsidenten der Republik vom 26. Oktober 1972 in der Fassung des Dekrets Nr. 687 des Präsidenten der Republik vom 23. Dezember 1974 ( Gazzetta Ufficiale der Italienischen Republik Nr. 338 vom 28. 12. 1974, S. 9071 ) war die Überlassung ausdrücklich als solche bezeichneter, geringwertiger Gratismuster von der Mehrwertsteuer befreit. Gemäß Artikel 68 dieses Dekrets galten die Vorschriften von Artikel 2 Absatz 3 auch für Einfuhren.

3 Diese Regelung wurde mit Dekret Nr. 24 des Präsidenten der Republik vom 29. Januar 1979 ( Gazzetta Ufficiale Nr. 30 vom 31. 1. 1979, S. 983 ) neu gefasst, wobei zwar die in Artikel 2 Absatz 3 vorgesehene Befreiung beibehalten, die Bestimmung von Artikel 68, die diese Befreiung auf die Einfuhren erstreckte, aber gestrichen wurde. Ausserdem bestätigte das italienische Finanzministerium mit Bescheiden vom 30. Juni 1979 und 10. Dezember 1982 auf Anfragen, daß vom Tag des Inkrafttretens des Dekrets vom 29. Januar 1979 an die Einfuhr geringwertiger Gratismuster der Mehrwertsteuer unterliege.

4 Die Kommission sah in der Anwendung verschiedener Steuerregelungen auf die Überlassung geringwertiger Gratismuster im Inland einerseits und auf die Einfuhr solcher Muster andererseits einen Verstoß gegen Artikel 95 EWG-Vertrag und Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie; sie forderte deshalb die italienische Regierung mit Schreiben vom 3. Mai 1984 gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag zur Äusserung auf. Später gab sie eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, die sich mit einem Fernschreiben der italienischen Regierung vom 22. Mai 1985 kreuzte, worin sich diese zu ihrer Verteidigung auf Artikel II des mit Gesetz vom 26. November 1957 in Italien ratifizierten und in Kraft gesetzten Genfer Abkommens vom 7. November 1952 ( Internationales Abkommen zur Erleichterung der Einfuhr von Warenmustern und Werbematerial ) berief, der für geringwertige Muster von Waren aller Art die Befreiung von den Einfuhrabgaben vorsieht. Dazu trug sie vor, nach dieser Bestimmung könne die Einfuhr geringwertiger Gratismuster aus den Vertragsstaaten dieses Abkommens, unter denen sich alle EWG-Mitgliedstaaten befänden, von der Mehrwertsteuer befreit werden. Ausserdem führt sie aus, diese Befreiungsregelung ergebe sich auch aus Artikel 72 Absatz 1 des Dekrets vom 26. Oktober 1972 und den dazu ergangenen Änderungsvorschriften, der die Fortgeltung aller Vergünstigungen vorsehe, die sich aus vor Inkrafttreten der Mehrwertsteuerregelung abgeschlossenen internationalen Verträgen und Abkommen ergäben.

5 Mit Fernschreiben vom 8. Juli 1985 antwortete die italienische Regierung auf die mit Gründen versehene Stellungnahme und führte aus, bis zum Ergehen eines "testo unico" ( zusammenfassendes Gesetz ) über die Mehrwertsteuer, der die italienische Gesetzgebung besser mit dem Gemeinschaftsrecht in Einklang bringen solle, könnten die Probleme der Mehrwertsteuererhebung auf die umstrittenen Einfuhren im Wege der Anwendung eines Bescheids des Finanzministers vom 18. Juni 1984, der die Einfuhr geringwertiger Gratismuster aus den Vertragsstaaten des erwähnten Genfer Abkommens für mehrwertsteuerfrei erklärt, "einer vorläufigen Lösung tatsächlicher Art" zugeführt werden.

6 Die Kommission hielt die von der italienischen Regierung gewählte Lösung für ungeeignet, die beanstandete Zuwiderhandlung zu beenden, und gab deshalb eine zweite, die erste ergänzende mit Gründen versehene Stellungnahme ab. Darin hob sie hervor, das Genfer Abkommen vom 7. November 1952 gestatte es nicht, die Einfuhr geringwertiger Gratismuster aus Nicht-Unterzeichnerstaaten dieses Abkommens von der Mehrwertsteuer zu befreien; jedenfalls gewährleiste die vorgeschlagene Lösung keine Rechtssicherheit. Bemerkungen, die die italienische Regierung mit Fernschreiben vom 13. Januar 1986 machte, hielt die Kommission für nicht schlüssig. Sie erhob deshalb die vorliegende Klage.

7 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, des Verfahrensablaufs und des Parteivorbringens wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

8 Die Klägerin macht zur Begründung ihrer Klage geltend, die Befreiung der Einfuhr geringwertiger Gratismuster aus Vertragsstaaten des Genfer Abkommens oder Staaten, denen die Meistbegünstigungsklausel zugute komme, reiche nicht aus, um die italienischen Rechtsvorschriften mit der Richtlinie in Einklang zu bringen, deren Artikel 14 die Befreiung aller Einfuhren vorschreibe, wenn die im Inland hergestellten Muster von der Mehrwertsteuer befreit seien.

9 Bezueglich der Einfuhren aus den genannten Ländern führt die Klägerin ferner aus, die mit dem Dekret vom 29. Januar 1979 in Italien geschaffene Rechtslage sei durch eine beträchtliche Verworrenheit gekennzeichnet, die übrigens auch aus den Bescheiden des Finanzministers vom 30. Juni 1979 und 10. Dezember 1982 ersichtlich sei. Einerseits hätten zwar die neuen, die Ministerialbescheide abändernden Verwaltungsanordnungen die Lage verbessert, andererseits bringe aber die Aufrechterhaltung einer gesetzlichen Regelung, die die frühere Gleichstellung der Einfuhren mit Inlandsgeschäften beseitige, die Gefahr mit sich, daß für die Betroffenen Ungewißheiten entstuenden und sie deshalb Schwierigkeiten haben könnten, ihre Rechte zu erkennen und vor Gericht geltend zu machen.

10 Der Beklagten zufolge kommen die Einfuhren geringwertiger Gratismuster aus allen EWG-Mitgliedstaaten in den Genuß der im Genfer Abkommen vorgesehenen Steuerbefreiung, weil alle Mitgliedstaaten Vertragsstaaten dieses Abkommens seien. Eine Zuwiderhandlung gegen Artikel 95 EWG-Vertrag könne ihr daher nicht zur Last gelegt werden. Den ihr vorgeworfenen Verstoß gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie räumt sie nur hinsichtlich einer sehr kleinen Zahl von Staaten ein. Hierzu trägt sie in ihrer Klagebeantwortung vor, das Finanzministerium habe mit einem allen Zolldirektionen zugeleiteten Schreiben vom 5. November 1986 nicht nur die Liste der Vertragsstaaten des erwähnten Genfer Abkommens bekanntgegeben, sondern auch klargestellt, daß die gleiche Regelung über die Befreiung von der Mehrwertsteuer auch für die Einfuhren aus denjenigen Staaten gelte, denen die Meistbegünstigungsklausel zugute komme. Zu diesen Staaten gehörten die Unterzeichnerstaaten des Allgemeinen Zoll - und Handelsabkommens ( GATT ), das diese Klausel in seinem Artikel 1 Absatz 1 auf alle seine Vertragsstaaten erstrecke. Deshalb seien nur wenige Einfuhren mehrwertsteuerpflichtig.

11 Es ist zunächst festzustellen, daß die in Italien geltende Regelung, wie die italienische Regierung einräumt, es nicht gestattet, die Einfuhr aller geringwertigen Gratismuster von der Mehrwertsteuer zu befreien. Denn selbst wenn Artikel 72 des Dekrets vom 26. Oktober 1972 so auszulegen sein sollte, daß alle in internationalen Abkommen vorgesehenen oder sich aus deren Anwendung ergebenden Befreiungen erhalten blieben, wären doch entgegen Artikel 14 der Richtlinie bestimmte Einfuhren weiterhin mehrwertsteuerpflichtig. Nach dem Urteil des Gerichtshofes vom 7. Februar 1984 in der Rechtssache 166/82 ( Kommission/Italienische Republik, Slg. 1984, 459 ) reicht der Umstand, daß eine dem Gemeinschaftsrecht zuwiderlaufende Regelung nur sehr selten angewandt worden ist, nicht aus, den Verstoß zu beseitigen.

12 Sodann ist festzuhalten, daß nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes ( siehe unter anderen das Urteil vom 30. Januar 1985 in der Rechtssache 143/83, Kommission/Königreich Dänemark, Slg. 1985, 427 ) die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Rechtsschutzes auf den vom Gemeinschaftsrecht erfassten Gebieten eine eindeutige Formulierung der Rechtsnormen der Mitgliedstaaten erfordern, die den betroffenen Personen die klare und genaue Kenntnis ihrer Rechte und Pflichten ermöglicht und die innerstaatlichen Gerichte in die Lage versetzt, deren Einhaltung sicherzustellen.

13 Die italienische Regelung genügt diesen Anforderungen nicht. Denn selbst wenn sie, wie die italienische Regierung vorträgt, die Einfuhren aus den Vertragsstaaten des Genfer Abkommens oder den Staaten, denen die Meistbegünstigungsklausel zugute kommt, von der Mehrwertsteuer befreit, bleibt doch die Tatsache bestehen, daß ihre Unklarheit zu einer mit dem Gemeinschaftsrecht nicht vereinbaren Verwaltungspraxis geführt hat. Während zwei Bescheide des Finanzministers vom 30. Juni 1979 und 10. Dezember 1982 die Beseitigung der Mehrwertsteuerbefreiung für alle Einfuhren bestätigen und ein späterer Bescheid vom 18. Juni 1984 alle Einfuhren aus den Vertragsstaaten des Genfer Abkommens befreit, stellt ein Schreiben des Generaldirektors der Zölle und indirekten Steuern klar, daß diese Befreiung auch für die Einfuhr aus Staaten gilt, denen die Meistbegünstigungsklausel zugute kommt, erwähnt dabei aber nur Arzneimittelmuster.

14 Die Italienische Republik vertritt in ihrer Gegenerwiderung die Auffassung, bezueglich der Einfuhr geringwertiger Muster aus den Vertragsstaaten des Genfer Abkommens oder den Staaten, denen die Meistbegünstigungsklausel zugute komme, habe die Klägerin den Streitgegenstand geändert, indem sie den Verstoß nicht mehr aus dem Fehlen von innerstaatlichen Rechtsvorschriften, die die Befreiung dieser Muster von der Mehrwertsteuer vorsähen, sondern aus der durch die umstrittene Regelung verursachten Rechtsunsicherheit herleite.

15 Hierzu ist festzustellen, daß die Klägerin schon in der ergänzten mit Gründen versehenen Stellungnahme und in der Klageschrift die Rechtsunsicherheit hervorgehoben hat, die sich aus der alleinigen Heranziehung von Artikel 72 des Dekrets und des Genfer Abkommens ergebe. In der Erwiderung wird das vorher geltend gemachte Angriffsmittel zum einen nur eingehender ausgeführt und zum anderen auf die Einfuhren aus den von der italienischen Regierung erst in der Klagebeantwortung erwähnten Ländern, für die die Meistbegünstigungsklausel gilt, erstreckt.

16 Daher ist festzustellen, daß die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 95 EWG-Vertrag und Artikel 14 der Richtlinie 77/388 des Rates vom 17. Mai 1977 verstossen hat, daß sie eine Regelung erlassen und beibehalten hat, die nicht für alle Einfuhren geringwertiger Gratismuster die Befreiung von der Mehrwertsteuer gewährt und die hinsichtlich der Befreiung bestimmter Einfuhren der Klarheit und Genauigkeit ermangelt, und daß sie für solche Muster aus inländischer Herstellung die Befreiung von der Mehrwertsteuer vorsieht.

Kostenentscheidung:

Kosten

17 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Italienische Republik mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

für Recht erkannt und entschieden :

1 ) Die Italienische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 95 EWG-Vertrag und Artikel 14 der Richtlinie 77/388 des Rates vom 17. Mai 1977 verstossen, daß sie eine Regelung erlassen und beibehalten hat, die nicht für alle Einfuhren geringwertiger Gratismuster die Befreiung von der Mehrwertsteuer gewährt und die hinsichtlich der Befreiung bestimmter Einfuhren der Klarheit und Genauigkeit ermangelt, und daß sie für solche Muster aus inländischer Herstellung die Befreiung von der Mehrwertsteuer vorsieht.

2 ) Die Italienische Republik trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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