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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 04.05.1988
Aktenzeichen: 268/86
Rechtsgebiete: Beamtenstatut


Vorschriften:

Beamtenstatut Art. 78
Beamtenstatut Art. 59
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 59 des Statuts, wonach der Beamte, der wegen Erkrankung oder infolge eines Unfalls seinen Dienst nicht ausüben kann, jeder ärztlichen Kontrolle unterstellt werden kann, die von dem Organ, dem er untersteht, eingerichtet wird, sieht hierfür kein bestimmtes Verfahren vor.

Wenn ein Gemeinschaftsorgan ein Verfahren einleitet, in dem der in Artikel 78 des Statuts vorgesehene Invaliditätsausschuß mitzuwirken hat, und dem Beamten somit weitergehende Garantien gewährt als die in Artikel 59 vorgesehenen, so kann sich der Betroffene gegenüber der Entscheidung, die ihn auffordert, seine Arbeit wiederaufzunehmen, nicht auf Rechtsmängel berufen, mit denen die Tätigkeit des Ausschusses behaftet war.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (ERSTE KAMMER) VOM 4. MAI 1988. - LISE CLASEN GEGEN EUROPAEISCHES PARLAMENT. - BEAMTER - KRANKHEITSURLAUB - INVALIDITAETSAUSSCHUSS. - RECHTSSACHE 268/86.

Entscheidungsgründe:

1 Frau Lise Clasen, Beamtin des Europäischen Parlaments, hat mit Klageschrift, die am 30. Oktober 1986 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, Klage erhoben auf Aufhebung der in dem Verwaltungsakt des Europäischen Parlaments vom 3. März 1986 enthaltenen dienstlichen Anweisung, die Arbeit wiederaufzunehmen, sowie darauf, daß dem Europäischen Parlament dementsprechend aufgegeben wird, den Fall der Klägerin von einem neuen Invaliditätsausschuß prüfen zu lassen, mit Wirkung vom 1. Mai 1986 die Zahlung der Bezuege - insbesondere der monatlichen Überweisungen auf das Konto der Klägerin in Dänemark - sowie der mit dem Jahresurlaub verbundenen Reisekosten wiederaufzunehmen und schließlich wegen der Verzögerung der Zahlung der Bezuege ab 1. Juni 1986 bis zur Erfuellung der Verpflichtungen Verzugszinsen in Höhe des geltenden Bankzinssatzes zu entrichten.

2 Nachdem der Leiter der Direktion "Personal und Soziale Angelegenheiten" beim Europäischen Parlament erfahren hatte, daß Frau Clasen, die aus Krankheitsgründen während 542 Tagen innerhalb des Zeitraums vom 13. Januar 1982 bis zum 1. August 1985 dem Dienst ferngeblieben war, kurz zuvor erneut beantragt hatte, ihr bis zum 3. September 1985 Krankheitsurlaub zu gewähren, teilte er ihr mit Schreiben vom 4. Oktober 1985 mit, er habe beschlossen, ihren Fall gemäß Artikel 78 des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften ( nachstehend : "Statut ") dem Invaliditätsausschuß zu unterbreiten. In dem gleichen Schreiben bat er sie, ihn wissen zu lassen, welchen Arzt sie gemäß dem Statut als Mitglied des Invaliditätsausschusses benenne.

3 Die Klägerin benannte die in Dänemark praktizierende Ärztin Dr. J. Christophersen; das Europäische Parlament bat den Arzt Dr. Fettmann, den es als seinen Vertreter in den Invaliditätsausschuß entsandt hatte, sich wegen der Benennung des dritten Arztes mit Frau Dr. Christophersen in Verbindung zu setzen und für ein ordnungsgemässes Arbeiten des Ausschusses zu sorgen.

4 Der Invaliditätsausschuß hatte den Auftrag, zu ermitteln, ob die Klägerin dauernd voll dienstunfähig war und deshalb ein Amt ihrer Laufbahn nicht wahrnehmen konnte.

5 Mit Schreiben vom 6. Dezember 1985 teilte Dr. Fettmann Frau Dr. Christophersen mit, er habe sich mit Dr. Palgen als drittem Arzt des Invaliditätsausschusses in Verbindung gesetzt und nehme ein Zusammentreffen des Ausschusses am 12. Dezember 1985 in Aussicht.

6 Mit Schreiben vom 9. Dezember 1985 teilte Frau Dr. Christophersen Dr. Fettmann mit, sie verfüge nicht über aktuelle Informationen über den Fall der Klägerin, die sie am 19. Dezember 1985 sehen werde.

7 Am 6. Januar 1986 ließ Frau Dr. Christophersen dem Europäischen Parlament einen ärztlichen Bericht zugehen, der zu dem Ergebnis kam, daß Frau Clasen ein Ruhegehalt wegen Dienstunfähigkeit zu bewilligen sei.

8 Am 30. Januar 1986 bestätigte Dr. Fettmann den Empfang dieses Berichts und teilte Frau Dr. Christophersen mit, der Invaliditätsausschuß werde am 17. Februar 1986 in seiner, Dr. Fettmanns, Praxis zusammentreten. In seinem Brief betonte Dr. Fettmann unter Bezugnahme auf vorausgegangene Ferngespräche, Frau Dr. Christophersen sei darüber unterrichtet worden, daß ihre persönliche Anwesenheit nicht notwendig sein werde. Weiterhin teilte er Frau Dr. Christophersen mit, falls sie mit dem Bericht der beiden anderen Ärzte nicht einverstanden sei, möge sie ihn nicht unterzeichnen, sondern - eventuell mit einem kurzen Vermerk - zurückschicken.

9 Am 4. Februar 1986 schrieb Frau Dr. Christophersen Dr. Fettmann, sie sei nicht in der Lage, sich am 17. Februar 1986 persönlich nach Luxemburg zu begeben.

10 Am 17. Februar 1986 erstellten Dr. Fettmann und Dr. Palgen den Bericht des Invaliditätsausschusses; sie nahmen zur Kenntnis, daß Frau Dr. Christophersen sich "mit Schreiben vom 4. Februar 1986 entschuldigt" und einen "ausführlichen Bericht über ihre Patientin übersandt" habe, und kamen zu dem Ergebnis, Frau Clasen sei weder dauernd noch vorübergehend dienstunfähig.

11 Mit eingeschriebenem Brief vom 3. März 1986 übermittelte das Europäische Parlament Frau Clasen eine Abschrift der Schlußfolgerungen des Invaliditätsausschusses. In diesem Brief forderte der Leiter der Generaldirektion "Personal" Frau Clasen im Hinblick auf das Ergebnis, zu dem der Ausschuß gelangt war, ferner auf, ihre Arbeit unverzueglich wiederaufzunehmen.

12 Die vorgebrachten Klagegründe lassen sich wie folgt gliedern :

- Verletzung von Anhang II Artikel 7 Absatz 1 erster Gedankenstrich des Statuts;

- Verletzung von Anhang II Artikel 7 Absatz 3 des Statuts;

- unfreiwillige, auf unrichtigen Informationen beruhende Abwesenheit von Frau Dr. Christophersen von der Sitzung des Invaliditätsausschusses;

- Fehlerhaftigkeit des Beschlusses des Invaliditätsausschusses wegen mangelnder Beschlußfähigkeit;

- Verletzung von Anhang II Artikel 7 Absatz 2 des Statuts;

- Verletzung von Artikel 78 des Statuts.

13 Das Europäische Parlament bestreitet das Rechtsschutzinteresse der Klägerin und hält überdies die vorgebrachten Klagegründe für unzutreffend.

14 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, des Verfahrens und des Vorbringens der Parteien wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als dies für die Begründung des Urteils erforderlich ist.

15 Zur Unterstützung seines Vorbringens, die Klage sei unzulässig, macht das Europäische Parlament geltend, der Rechtsstreit gehe nicht auf einen etwaigen Antrag der Klägerin auf Versetzung in den Ruhestand zurück, den die Anstellungsbehörde abgelehnt hätte. Das Verfahren sei im Interesse einer ordnungsgemässen Verwaltung zu dem Zweck eingeleitet worden, festzustellen, ob das vorerwähnte Fernbleiben vom Dienst gerechtfertigt gewesen sei und ob Anlaß bestanden habe, die betroffene Beamtin wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand zu versetzen. Das Parlament habe jedoch zu jedem Zeitpunkt auf die Ausübung einer Ermessensbefugnis verzichten dürfen, die ihm das Statut im Hinblick auf die Einleitung eines Verfahrens zur Feststellung einer etwaigen Dienstunfähigkeit einräume, und sei durch nichts gehindert gewesen, unter Berücksichtigung der Stellungnahmen der Dres. Fettmann und Palgen als ärztliche Gutachter festzustellen, daß die Klägerin dem Dienst unbefugt ferngeblieben sei. Das Europäische Parlament kommt zu dem Schluß, selbst wenn die Gültigkeit des vom Invaliditätsausschuß durchgeführten Verfahrens bestritten werden könnte, so würde dies die - auf der Ansicht zweier medizinischer Sachverständiger beruhende - Entscheidung der Anstellungsbhörde, die Klägerin zur Wiederaufnahme ihrer Arbeit aufzufordern, in keiner Weise berühren.

16 Frau Clasen entgegnet, die dienstliche Anweisung vom 3. März 1986 nehme ausdrücklich auf den Bericht des Invaliditätsausschusses Bezug; sollte die Entscheidung des Invaliditätsausschusses wegen einer Reihe von Verfahrensmängeln unanwendbar sein, so müsste dies zur Unanwendbarkeit der dienstlichen Anweisung vom 3. März 1986 führen. Die Klägerin habe also ein Rechtsschutzinteresse.

17 Was die vom Europäischen Parlament erhobene Unzulässigkeitseinrede betrifft, so ist zunächst festzustellen, daß das Parlament mit dem angefochtenen Schreiben keine Entscheidung über die etwaige Frage einer Versetzung in den Ruhestand wegen Dienstunfähigkeit getroffen hat. Nur soweit anzunehmen wäre, daß der Brief stillschweigend feststellt, daß das Fernbleiben der Klägerin vom Dienst nicht aus gesundheitlichen Gründen gerechtfertigt gewesen war, könnte er eine die Klägerin beschwerende Entscheidung darstellen.

18 Geht man davon aus, daß das angefochtene Schreiben in der Tat diese Bedeutung hat, so ist festzustellen, daß Artikel 59 des Statuts, wonach der Beamte, der wegen Erkrankung seinen Dienst nicht ausüben kann, von dem Organ, zu dem er gehört, jeder ärztlichen Kontrolle unterstellt werden kann, hierfür kein bestimmtes Verfahren vorsieht.

19 Wenn das Europäische Parlament auf das Verfahren des Artikels 78 zurückgegriffen und sich dann an die übereinstimmenden Stellungnahmen gehalten hat, die zwei Ärzte in Kenntnis eines vom Vertrauensarzt der Betroffenen erstellten Berichts abgegeben haben, so hat es der Klägerin weitergehende Garantien gewährt als die in Artikel 59 vorgesehenen.

20 Hieraus folgt, daß die geltend gemachten Mängel des aufgrund von Artikel 78 durchgeführten Verfahrens, selbst wenn sie erwiesen wären, keinen Einfluß auf die angefochtene Rechtshandlung haben konnten.

21 Nach alledem ist die Klage zwar im Hinblick auf die angefochtene Rechtshandlung insoweit als zulässig zu betrachten, als diese Handlung die Klägerin anweist, ihre Arbeit wiederaufzunehmen, und es stillschweigend ablehnt, das Fernbleiben der Klägerin vom Dienst als durch gesundheitliche Gründe gerechtfertigt anzusehen; jedoch greifen die geltend gemachten Klagegründe gegenüber dem Inhalt der in diesem Sinne verstandenen Rechtshandlung nicht durch. Da die Klage ausschließlich auf diese Gründe gestützt ist, muß sie somit als unbegründet abgewiesen werden.

Kostenentscheidung:

Kosten

22 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung sind der unterliegenden Partei die Kosten aufzuerlegen; gemäß Artikel 70 der Verfahrensordnung tragen jedoch die Organe in Rechtsstreitigkeiten mit Bediensteten der Gemeinschaften ihre Kosten selbst. Artikel 69 § 3 Absatz 2 der Verfahrensordnung bestimmt indessen, daß der Gerichtshof auch der obsiegenden Partei die Kosten auferlegen kann, die sie der Gegenpartei ohne angemessenen Grund oder böswillig verursacht hat. Vorliegend ist zu berücksichtigen, daß das Europäische Parlament ein Verfahren auf der Grundlage von Artikel 78 des Statuts eingeleitet, es dann aber lediglich für die Zwecke der Anwendung von Artikel 59 fortgeführt hat, wodurch die Klägerin irregeführt und veranlasst wurde, ihre Klage so zu gestalten, wie sie es getan hat. Deshalb ist Artikel 69 § 3 Absatz 2 der Verfahrensordnung anzuwenden; die gesamten Kosten des Verfahrens sind dem Europäischen Parlament aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF ( Erste Kammer )

für Recht erkannt und entschieden :

1 ) Die Klage wird abgewiesen.

2 ) Das Europäische Parlament trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich derjenigen der Klägerin.

Ende der Entscheidung

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