Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 14.12.1988
Aktenzeichen: 269/87
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag, Verordnung Nr. 1408/71


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 177
Verordnung Nr. 1408/71 Art. 44 Abs. 3
Verordnung Nr. 1408/71 Art. 48 Abs. 1
Verordnung Nr. 1408/71 Art. 78 Abs. 2 b Ziff. i
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 44 Absatz 3 der Verordnung Nr. 1408/71 ist so auszulegen, daß für Waisenrenten ausschließlich die Bestimmungen des Kapitels 8 dieser Verordnung gelten, die gegebenenfalls durch Anwendung von Bestimmungen anderer Kapitel dieser Verordnung, auf die die Bestimmungen des Kapitels 8 ausdrücklich verweisen, ergänzt werden. Daraus folgt insbesondere, daß Artikel 48 Absatz 1, wonach der Träger eines Mitgliedstaats, in dem ein Versicherter Versicherungs - oder Wohnzeiten von weniger als einem Jahr zurückgelegt hat, nicht verpflichtet ist, Leistungen für diese Zeiten zu gewähren, auf Waisenrenten keine Anwendung findet.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (DRITTE KAMMER) VOM 14. DEZEMBER 1988. - NATALINO VENTURA GEGEN LANDESVERSICHERUNGSANSTALT SCHWABEN. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG, VORGELEGT VOM BAYERISCHES LANDESSOZIALGERICHT. - VORABENTSCHEIDUNGSERSUCHEN - VERORDNUNG NR. 1408/71 - WAISENRENTE. - RECHTSSACHE 269/87.

Entscheidungsgründe:

1 Das Bayerische Landessozialgericht hat mit Beschluß vom 7. Juli 1987, beim Gerichtshof eingegangen am 8. September 1987, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Artikel 44 Absatz 3 und 48 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu - und abwandern ( kodifizierte Fassung dieser Verordnung durch die Verordnung Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983, ABl. L 230, S. 6 ) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Sohn eines am 30. August 1974 in der Bundesrepublik Deutschland verstorbenen Wanderarbeitnehmers und der Landesversicherungsanstalt Schwaben ( im weiteren : LVA Schwaben ), die sich geweigert hatte, diesem weiter die volle Waisenrente zu zahlen, nachdem er im Juli 1975 seinen Wohnsitz in Italien genommen hatte.

3 Die LVA Schwaben stützte ihren Bescheid auf Artikel 78 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer i der Verordnung Nr. 1408/71, wonach, wenn - wie im vorliegenden Fall - für den verstorbenen Versicherten die Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten gegolten haben, die zuständigen Stellen des Wohnstaates des Betroffenen zur Zahlung der Leistungen für Waisen verpflichtet sind.

4 Die italienischen Behörden weigerten sich jedoch unter Berufung auf Artikel 48 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71, die fragliche Rente zu zahlen; nach dieser Bestimmung ist der zuständige Träger eines Mitgliedstaats nicht verpflichtet, Leistungen zu gewähren, wenn die Gesamtdauer der nach den Rechtsvorschriften dieses Staates zurückgelegten Versicherungs - oder Wohnzeiten weniger als ein Jahr beträgt und nach diesen Rechtsvorschriften kein Leistungsanspruch ausschließlich aufgrund dieser Zeiten erworben worden ist.

5 Da Ventura der Auffassung war, daß diese Weigerung zu der Verpflichtung der deutschen Stellen führe, ihm ab 1975 die volle Waisenrente zu zahlen, erhob er gegen den 1975 erlassenen Bescheid der LVA Schwaben Anfechtungsklage beim Sozialgericht Augsburg und legte dann Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht ein.

6 Da die LVA Schwaben jedoch geltend machte, die Entscheidung der italienischen Stellen sei unzutreffend, weil die Anwendung des Artikels 48 Absatz 1, der die Rechtsgrundlage für diese Entscheidung darstelle, durch Artikel 44 Absatz 3 der Verordnung Nr. 1408/71 für die Waisenrenten ausdrücklich ausgeschlossen werde, hat das Bayerische Landessozialgericht beschlossen, folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen :

"Ist Artikel 44 Absatz 3 der Verordnung ( EWG ) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 so auszulegen, daß Leistungen an Waisen nach Artikel 79 der Verordung an eine in Italien wohnhafte Waise ohne Anwendung des Artikels 48 Absatz 1 der Verordnung zu erbringen sind, wenn der Versicherte in Italien allein zwar weniger als zwölf Monate Versicherungszeit zurückgelegt hat ( Artikel 48 Absatz 1 der Verordnung ), die Wartezeit und die sonstigen innerstaatlichen italienischen Leistungsvoraussetzungen aber zusammen mit den mitgliedstaatlichen Zeiten erfuellt?"

7 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des rechtlichen Rahmens des Ausgangsrechtsstreits, des Verfahrensablaufs sowie der beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

8 Artikel 48 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71, der den Fall betrifft, daß die Gesamtdauer der nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats zurückgelegten Versicherungs - oder Wohnzeiten weniger als ein Jahr beträgt, gehört zu den Bestimmungen des Kapitels 3, Alter und Tod ( Renten ), dieser Verordnung.

9 Artikel 44 der Verordnung, der das Kapitel 3 der Verordnung einleitet, bestimmt, daß dieses Kapitel nicht die Waisenrenten betrifft, die nach Kapitel 8 zu gewähren sind.

10 Daraus folgt, daß die Bestimmungen des Kapitels 3 der Verordnung, zu denen Artikel 48 Absatz 1 gehört, nicht auf Waisenrenten anwendbar sind, mit Ausnahme derjenigen, auf die die Bestimmungen des Kapitels 8 ausdrücklich verweisen, das von den Leistungen für Waisen und insbesondere den Waisenrenten, ausser denen aus der Versicherung bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, handelt.

11 Da Kapitel 8 nicht auf Artikel 48 Absatz 1 verweist, ist dieser Artikel auf die in der Vorlagefrage genannten Leistungen für Waisen nicht anwendbar.

12 Diese Auslegung wird es dem vorlegenden Gericht ermöglichen, den bei ihm anhängigen Rechtsstreit zu entscheiden, da sich schon aus dem Wortlaut dieser Frage ergibt, daß der ihr zugrundeliegende Zweifel nicht die Auslegung des Artikels 78 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer i und des Artikels 79 Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 betrifft, die den Wohnstaat des Betroffenen zur Zahlung der Waisenrenten verpflichten, wenn für den verstorbenen Versicherten, wie im Ausgangsverfahren, unter anderem die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats galten, sondern die Auslegung des Artikels 48 Absatz 1 der Verordnung, dessen Anwendbarkeit im Ausgangsverfahren die Stellen des Wohnstaats von der in den oben genannten Bestimmungen niedergelegten Verpflichtung befreit hätte.

13 Diese Auslegung ist jedoch durch den Hinweis auf Anhaltspunkte zu ergänzen, die dem nationalen Gericht zweckdienlich sein können und die der Rechtsprechung des Gerichtshofes zu entnehmen sind.

14 Erstens ergibt sich aus der Auslegung der Bestimmungen des Kapitels 8 der Verordnung Nr. 1408/71, die der Gerichtshof im Urteil vom 9. Juli 1980 in der Rechtssache 807/79 ( Gravina, Slg. 1980, 2205 ) und im Urteil vom 24. November 1983 in der Rechtssache 320/82 ( D' Amario, Slg. 1983, 3811 ) vorgenommen hat und die die Beklagte des Ausgangsverfahrens mit einem neuen Bescheid vom 2. März 1984 selbst anzuwenden beabsichtigte, folgendes : Das Bestehen eines Anspruchs auf Waisenrente gemäß den Rechtsvorschriften des nach diesen Bestimmungen zuständigen Staates lässt, wenn für den verstorbenen Vater die Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten galten, nicht den Anspruch auf höhere Leistungen für Waisen, der nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats allein begründet ist, entfallen. Ist der Betrag der Leistungen, die im ersten Mitgliedstaat tatsächlich bezogen wurden oder hätten bezogen werden müssen, niedriger als der allein nach den Rechtsvorschriften des anderen Mitgliedstaats vorgesehene Betrag der Leistungen, so hat die Waise gegen den zuständigen Träger des letztgenannten Staates Anspruch auf einen Zuschlag in Höhe des Unterschieds zwischen den beiden Beträgen.

15 Zweitens wird nach ständiger Rechtsprechung, insbesondere begründet durch das Urteil vom 27. März 1980 in den verbundenen Rechtssachen 66, 127 und 128/79 ( Salumi, Slg. 1980, 1237 ), durch die Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Artikel 177 EWG-Vertrag vornimmt, erläutert und verdeutlicht, in welchem Sinn und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre. Daraus folgt, daß die Gerichte die Vorschrift in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse, die vor Erlaß des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden sind, anwenden können und müssen.

16 Hieraus ergibt sich, daß die Zahlung der Waisenrente durch die Stellen des Mitgliedstaats, in dem der Betroffene wohnt, und die Zahlung der Zusatzleistung durch die Stellen des Mitgliedstaats, in dem die Waise Rentenansprüche erworben hatte, von dem Zeitpunkt an erfolgen müssen, zu dem sich die Waise im Hoheitsgebiet des erstgenannten Staates niedergelassen hat.

17 In Anbetracht des Wortlauts der Vorlagefrage ist dem nationalen Gericht zu antworten, daß Artikel 44 Absatz 3 der Verordnung Nr. 1408/71 so auszulegen ist, daß für Waisenrenten ausschließlich die Bestimmungen des Kapitels 8 dieser Verordnung gelten, die gegebenenfalls durch Anwendung von Bestimmungen anderer Kapitel dieser Verordnung, auf die die Bestimmungen des Kapitels 8 ausdrücklich verweisen, ergänzt werden.

Kostenentscheidung:

Kosten

18 Die Auslagen der Regierung der Italienischen Republik und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem nationalen Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF ( Dritte Kammer )

auf die ihm vom Bayerischen Landessozialgericht durch Beschluß vom 7. Juli 1987 vorgelegte Frage für Recht erkannt :

Artikel 44 Absatz 3 der Verordnung Nr. 1408/71 ist so auszulegen, daß für Waisenrenten ausschließlich die Bestimmungen des Kapitels 8 dieser Verordnung gelten, die gegebenenfalls durch Anwendung von Bestimmungen anderer Kapitel dieser Verordnung, auf die die Bestimmungen des Kapitels 8 ausdrücklich verweisen, ergänzt werden.

Ende der Entscheidung

Zurück