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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 02.02.1989
Aktenzeichen: 274/87
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag, Fleisch-VO


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 30
EWG-Vertrag Art. 36
Fleisch-VO § 4
Fleisch-VO § 5
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Ein Mitgliedstaat kann sich nicht auf Gründe des Gesundheitsschutzes stützen, um die Einfuhr eines Erzeugnisses mit der Begründung zu verbieten, dieses habe einen geringeren Nährwert als ein anderes Erzeugnis, das sich bereits auf dem betreffenden Markt befindet. Es ist nämlich offensichtlich, daß die Verbraucher in der Gemeinschaft bei Lebensmitteln eine so grosse Auswahl haben, daß der blosse Umstand, daß ein eingeführtes Erzeugnis einen geringeren Nährwert besitzt, nicht zu einer wirklichen Gefahr für die menschliche Gesundheit führt.

2. Ein Mitgliedstaat kann das Verbot, Fleischerzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten, die bestimmte fleischfremde Stoffe enthalten, in sein Hoheitsgebiet einzuführen und dort in den Verkehr zu bringen, nicht mit den Erfordernissen des Verbraucherschutzes und der Lauterkeit des Handelsverkehrs rechtfertigen, indem er zum einen geltend macht, daß sich bei den inländischen Verbrauchern aufgrund seit langem bestehender Ernährungsgewohnheiten eine festumrissene Erwartungshaltung im Hinblick auf Fleischerzeugnisse gebildet habe, und indem er zum anderen anführt, daß sich bestimmte Wirtschaftsteilnehmer dadurch Wettbewerbsvorteile verschaffen könnten, daß sie billigere Zutaten von geringerer Qualität verwendeten, ohne daß die unterschiedlichen Herstellungsarten für den Verbraucher erkennbar seien. Die Information des Verbrauchers kann nämlich mit Mitteln sichergestellt werden, die die Einfuhr der betreffenden Erzeugnisse nicht behindern, und zwar insbesondere durch die Verpflichtung zu einer angemessenen Kennzeichnung hinsichtlich der Art des verkauften Erzeugnisses.

3. Sobald die Gemeinschaft eine gemeinsame Marktorganisation für einen bestimmten Sektor errichtet hat, sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, sich aller einseitigen Maßnahmen zu enthalten, selbst wenn diese geeignet sind, der Unterstützung der gemeinsamen Politik der Gemeinschaft zu dienen.

Nationale Maßnahmen dürfen selbst dann, wenn sie eine gemeinsame Politik der Gemeinschaft unterstützen, nicht gegen eines der Grundprinzipien der Gemeinschaft, wie es der freie Warenverkehr ist, verstossen, ohne durch Gründe gerechtfertigt zu sein, die das Gemeinschaftsrecht selbst anerkennt.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 2. FEBRUAR 1989. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND. - FREIER WARENVERKEHR- VERBOT DER EINFUHR VON FLEISCHERZEUGNISSEN, DIE NICHT DEN DEUTSCHEN VORSCHRIFTEN ENTSPRECHEN. - RECHTSSACHE 274/87.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 16. September 1987 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 30 EWG-Vertrag verstossen hat, daß sie die Einfuhr und das Inverkehrbringen von nicht den §§ 4 und 5 der Fleisch-Verordnung ( vom 21. Januar 1982, BGBl. I, S. 89 ) entsprechenden Fleischerzeugnissen aus anderen Mitgliedstaaten in ihrem Hoheitsgebiet untersagt.

2 Die Fleisch-Verordnung verbietet vorbehaltlich von Ausnahmen für ganz bestimmte Erzeugnisse, deren Zusammensetzung geregelt ist und bei denen in bestimmten Fällen genaue Angaben auf der Verpackung oder auf Hinweisschildern zu machen sind, das Inverkehrbringen von Fleischerzeugnissen, die bestimmte fleischfremde Stoffe enthalten. Das Verkehrsverbot für diese Erzeugnisse wird durch § 47 Absatz 1 des Lebensmittel - und Bedarfsgegenständegesetzes vom 15. August 1974 ( BGBl. I, S. 1945; III, 2125-40 ) ergänzt, der die Einfuhr von Lebensmitteln verbietet, die nicht den deutschen Vorschriften entsprechen. Die Einhaltung der genannten Bestimmungen wird durch Straf - oder Ordnungswidrigkeiten-Vorschriften gesichert.

3 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, des Verfahrensablaufs und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

4 Vorab ist darauf hinzuweisen, daß die beanstandete Regelung unstreitig die Wirkung einer Einfuhrbeschränkung für in anderen Mitgliedstaaten rechtmässig hergestellte und in den Verkehr gebrachte Fleischerzeugnisse hat. Der Streit zwischen den Beteiligten geht darum, ob die fraglichen Maßnahmen aus den von der Bundesregierung angeführten Gründe - Gesundheitsschutz sowie zwingende Erfordernisse des Verbraucherschutzes, der Lauterkeit des Handelsverkehrs und der Gemeinsamen Agrarpolitik - gerechtfertigt sind.

5 Ferner ist vorab darauf hinzuweisen, daß die streitige Regelung das Inverkehrbringen der fraglichen Erzeugnisse in der Bundesrepublik verbietet, ohne insoweit eine unterschiedliche Behandlung der einheimischen und der ausländischen Erzeugnisse vorzusehen. Eine solche unterschiedslos geltende Maßnahme fällt nicht unter das Verbot von Maßnahmen gleicher Wirkung, soweit sie erforderlich ist, um bestimmten zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden ( vgl. insbesondere Urteil vom 17. Juni 1981 in der Rechtssache 113/80, Kommission/Irland, Slg. 1981, 1625 ).

Zur Rechtfertigung durch den Gesundheitsschutz im Sinne von Artikel 36 EWG-Vertrag

6 Vor Prüfung der von der Bundesregierung hierzu vorgetragenen Argumente ist darauf hinzuweisen, daß nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes zwar die Gesundheit und das Leben von Menschen zu den durch Artikel 36 geschützten Belangen gehören und daß es folglich Sache der Mitgliedstaaten ist, in den vom Vertrag gezogenen Grenzen zu bestimmen, in welchem Umfang sie den Schutz dieser Belange gewährleisten wollen, daß aber eine einzelstaatliche Regelung, die sich einfuhrhemmend auswirkt, nur insoweit mit dem Vertrag vereinbar ist, als sie für einen wirksamen Schutz dieser Belange notwendig ist und als dieses Ziel nicht durch Maßnahmen erreicht werden kann, die den innergemeinschaftlichen Handelsverkehr weniger beschränken ( Urteile vom 20. Mai 1976 in der Rechtssache 104/75, De Peijper, Slg. 1976, 613, und vom 4. Februar 1988 in der Rechtssache 261/85, Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 1988, 547 ).

7 Die Bundesregierung macht geltend, das beanstandete Einfuhrverbot sei aus Gründen des Gesundheitsschutzes im Sinne von Artikel 36 EWG-Vertrag gerechtfertigt, weil es erforderlich sei, um eine ausreichende Versorgung mit bestimmten für die Ernährung bedeutsamen Stoffen, die im Fleisch enthalten seien, insbesondere mit Proteinen, sicherzustellen.

8 Dieses Argument wird zunächst durch verschiedene Passagen der 1980 und 1984 von der Bundesregierung selbst veröffentlichten Ernährungsberichte widerlegt. Aus diesen Berichten geht nämlich hervor, daß die Versorgung der deutschen Bevölkerung mit Proteinen im allgemeinen durchaus ausreichend ist und daß selbst bei bestimmten Bevölkerungsgruppen, insbesondere bei den Jugendlichen, bei denen die Proteinzufuhr die empfohlene Menge unterschreitet, diese Minderzufuhr wegen der hohen Sicherheitszuschläge, mit denen die betreffenden Empfehlungen angesetzt sind, keine Gefährdung der Gesundheit bedeutet.

9 Aus den genannten Berichten geht ferner hervor, daß bestimmte Fleischbestandteile schädliche Stoffe wie Purin, Cholesterin und gesättigte Fettsäuren enthalten; daher wird in diesen Berichten eine gewisse Besorgnis über die etwaige Zunahme des Verzehrs von Fleisch und Fleischwaren geäussert.

10 Zu dem Argument der Bundesregierung, daß pflanzliche Proteine einen geringeren Nährwert als tierisches Eiweiß hätten, ist schließlich festzustellen, daß sich ein Mitgliedstaat, wie der Gerichtshof bereits in seinem Urteil vom 23. Februar 1988 in der Rechtssache 216/84 ( Kommission/Frankreich, Slg. 1988, 793 ) ausgeführt hat, nicht auf Gründe des Gesundheitsschutzes stützen kann, um die Einfuhr eines Erzeugnisses mit der Begründung zu verbieten, dieses habe einen geringeren Nährwert als ein anderes Erzeugnis, das sich bereits auf dem betreffenden Markt befindet. Es ist nämlich offensichtlich, daß die Verbraucher in der Gemeinschaft bei Lebensmitteln eine so grosse Auswahl haben, daß der blosse Umstand, daß ein eingeführtes Erzeugnis einen geringeren Nährwert besitzt, nicht zu einer wirklichen Gefahr für die menschliche Gesundheit führt.

11 Damit steht fest, daß sich das streitige Einfuhrverbot nicht mit Gründen des Gesundheitsschutzes im Sinne von Artikel 36 EWG-Vertrag rechtfertigen lässt.

Zur Rechtfertigung durch zwingende Erfordernisse des Verbraucherschutzes

12 Die Bundesregierung trägt vor, das streitige Einfuhrverbot sei für einen wirksamen Schutz der deutschen Verbraucher erforderlich, bei denen sich aufgrund jahrzehntealter Ernährungsgewohnheiten eine festumrissene Erwartungshaltung im Hinblick auf Fleischerzeugnisse gebildet habe, die dahin gehe, daß diese nur oder ganz überwiegend aus Fleisch bestuenden und den Qualitätsanforderungen der §§ 4 und 5 der Fleisch-Verordnung entsprächen.

13 Wie der Gerichtshof schon mehrfach festgestellt hat ( insbesondere in den Urteilen vom 12. März 1987 in der Rechtssache 178/84, Kommission/Deutschland, und vom 14. Juli 1988 in der Rechtssache 407/85, Drei Glocken, Slg. 1988, 0000 ), ist es zwar legitim, Verbrauchern, die bestimmten Erzeugnissen besondere Qualitäten zuschreiben, die Möglichkeit zu geben, ihre Wahl nach den Gesichtspunkten zu treffen, die sie als wesentlich ansehen; eine solche Möglichkeit kann aber mit Mitteln sichergestellt werden, die die Einfuhr von in anderen Mitgliedstaaten rechtmässig hergestellten und in den Verkehr gebrachten Erzeugnissen nicht behindern, und zwar insbesondere durch die Verpflichtung zu einer angemessenen Kennzeichnung hinsichtlich der Art des verkauften Erzeugnisses.

14 Zwar kann bei Fleischerzeugnissen die Angabe aller Bestandteile Schwierigkeiten bereiten, wenn sie unverpackt verkauft werden oder auf Speisekarten aufgeführt sind. Jedoch ergibt sich aus der Richtlinie 79/112 des Rates ( ABl. 1979, L 33, S. 1 ) über die Etikettierung und Aufmachung von Lebensmitteln, insbesondere aus deren Artikel 12, daß die Mitgliedstaaten regeln können, in welcher Art und Weise Lebensmittel, die dem Endverbraucher in nicht vorverpackter Form feilgeboten werden, zu kennzeichnen sind, um dem Verbraucher die für seine Wahl wesentlichen Informationen zu verschaffen und zu vermeiden, daß er durch zu detaillierte Angaben verwirrt wird.

15 Im übrigen wurde, worauf die Kommission zu Recht hingewiesen hat, das Problem der Kennzeichnung in derartigen Fällen bereits in der Fleisch-Verordnung berücksichtigt, insbesondere in deren § 5 Absatz 2, der eine besondere Kennzeichnungsregelung für den Fall enthält, daß vom Verkehrsverbot ausgenommene Erzeugnisse, insbesondere in Gaststätten oder Einrichtungen zur Gemeinschaftsverpflegung, lose abgegeben werden.

16 Somit lässt sich das beanstandete Einfuhrverbot auch nicht mit zwingenden Erfordernissen des Verbraucherschutzes rechtfertigen.

Zur Rechtfertigung durch zwingende Erfordernisse der Lauterkeit des Handelsverkehrs

17 Die Bundesregierung macht ferner geltend, das angegriffene Einfuhrverbot stelle eine Maßnahme dar, die für den Schutz der Hersteller und Verteiler von reinen Fleischwaren gegen unlauteren Wettbewerb erforderlich seien. Ein solcher Wettbewerb könne sich daraus ergeben, daß sich bestimmte Wirtschaftsteilnehmer Wettbewerbsvorteile verschaffen könnten, indem sie billigere Zutaten von geringerer Qualität verwendeten, ohne daß die unterschiedlichen Herstellungsarten für den Verbraucher erkennbar seien.

18 Insoweit genügt die Feststellung, daß dieses aus einer mangelnden Information des Verbrauchers hergeleitete Argument bereits oben zurückgewiesen worden ist.

19 Somit lässt sich das beanstandete Einfuhrverbot auch nicht mit zwingenden Erfordernissen der Lauterkeit des Handelsverkehrs rechtfertigen.

Zur Rechtfertigung durch zwingende Erfordernisse der Gemeinsamen Agrarpolitik

20 Schließlich trägt die Bundesregierung vor, das beanstandete Einfuhrverbot sei notwendig, um zwingenden Erfordernissen der Gemeinsamen Agrarpolitik gerecht zu werden, insbesondere dem mit den gemeinsamen Marktorganisationen für Rindfleisch und für Schweinefleisch verfolgten Ziel der Stabilisierung des Marktes.

21 Auch diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden. Wie der Gerichtshof in den bereits angeführten Urteilen vom 23. Februar 1988 in der Rechtssache 216/84 und vom 14. Juli 1988 in der Rechtssache 407/85 ausgeführt hat, sind die Mitgliedstaaten, sobald die Gemeinschaft eine gemeinsame Marktorganisation für einen bestimmen Sektor errichtet hat, verpflichtet, sich aller einseitigen Maßnahmen zu enthalten, selbst wenn diese geeignet sind, der Unterstützung der gemeinsamen Politik der Gemeinschaft zu dienen.

22 Aus diesen Urteilen geht ferner hervor, daß nationale Maßnahmen, selbst wenn sie eine gemeinsame Politik der Gemeinschaft unterstützen, nicht gegen eines der Grundprinzipien der Gemeinschaft, im vorliegenden Fall das des freien Warenverkehrs, verstossen dürfen, ohne durch gemeinschaftsrechtlich anerkannte Gründe gerechtfertigt zu sein. Wie oben ausgeführt, trifft dies auf die hier streitigen Vorschriften aber nicht zu.

23 Aus alledem ergibt sich, daß der beanstandete Vertragsverstoß vorliegt. Daher ist festzustellen, daß die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 30 EWG-Vertrag verstossen hat, daß sie die Einfuhr und das Inverkehrbringen von nicht den §§ 4 und 5 der Fleisch-Verordnung entsprechenden Fleischerzeugnissen aus anderen Mitgliedstaaten in ihrem Hoheitsgebiet untersagt.

Kostenentscheidung:

Kosten

24 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung hat die unterliegende Partei die Kosten zu tragen. Da die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

für Recht erkannt und entschieden :

1)Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 30 EWG-Vertrag verstossen, daß sie die Einfuhr und das Inverkehrbringen von nicht den §§ 4 und 5 der Fleisch-Verordnung entsprechenden Fleisch - erzeugnissen aus anderen Mitgliedstaaten in ihrem Hoheitsgebiet untersagt.

2)Die Bundesrepublik Deutschland trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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