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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 27.09.1988
Aktenzeichen: 313/86
Rechtsgebiete: Verordnung Nr. 1408/71 vom 14. Juli 1977, EWG-Vertrag


Vorschriften:

Verordnung Nr. 1408/71 vom 14. Juli 1977 Art. 77
Verordnung Nr. 1408/71 vom 14. Juli 1977 Art. 1 Buchst. u
EWG-Vertrag Art. 51
EWG-Vertrag Art. 48
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Der Wortlaut des Artikels 77 der Verordnung Nr. 1408/71 ist so auszulegen, daß ein Empfänger einer Rente, der einem Mitgliedstaat angehört und unterhaltsberechtigte Kinder hat, aber im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt, von den Trägern der sozialen Sicherheit seines Herkunftslandes nur die Zahlung der "Familienbeihilfen" im Sinne des Artikels 1 Buchstabe u Ziffer ii dieser Verordnung, nicht aber anderer Familienleistungen wie der "Beihilfe bei Schuljahresbeginn" und der "Alleinverdienerbeihilfe" des französischen Rechts verlangen kann.

2. Artikel 51 EWG-Vertrag sieht eine Koordinierung, nicht aber eine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten vor, lässt also Unterschiede zwischen den Systemen der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten und folglich auch bezueglich der Ansprüche der dort Beschäftigten bestehen. Die materiellen und verfahrensmässigen Unterschiede zwischen den Systemen der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten und damit zwischen den Ansprüchen der dort Beschäftigten werden somit durch diesen Artikel nicht berührt.

Allerdings darf das Sozialrecht der Gemeinschaft keine Unterschiede einführen, die zu denen hinzutreten, die sich bereits aus der mangelnden Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften ergeben, und der in den Artikeln 7 und 48 EWG-Vertrag enthaltene Gleichbehandlungsgrundsatz verbietet nicht nur offenkundige Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle verschleierten Formen der Diskriminierung, die mit Hilfe der Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu demselben Ergebnis führen.

Artikel 77 der Verordnung Nr. 1408/71, nach dem ein Mitgliedstaat gegenüber seinen Staatsangehörigen, die Rentenempfänger sind und im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, nur zur Zahlung von Familienbeihilfen als Leistungen für unterhaltsberechtigte Kinder verpflichtet ist, verstösst nicht gegen die genannten Grundsätze. Er ist nämlich als Rechtsnorm mit allgemeiner Geltung unterschiedslos auf alle Angehörigen der Mitgliedstaaten anwendbar und auf objektive Merkmale in bezug auf die Rechtsnatur und die Voraussetzungen für die Gewährung derartiger Leistungen gestützt; als solcher begründet er keine Diskriminierung.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 27. SEPTEMBER 1988. - O. LENOIR GEGEN CAISSE D'ALLOCATIONS FAMILIALES DES ALPES-MARITIMES. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG, VORGELEGT VOM TRIBUNAL DES AFFAIRES DE SECURITE SOCIALE DES ALPES-MARITIMES. - VERORDNUNG NR. 1408/71, ARTIKEL 77 - ZAHLUNG DER FAMILIENLEISTUNGEN IN EINEM ANDEREN MITGLIEDSTAAT. - RECHTSSACHE 313/86.

Entscheidungsgründe:

1 Die Commission de première instance de sécurité sociale des Alpes-Maritimes hat mit Urteil vom 21. Oktober 1986, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Dezember 1986, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 77 der Verordnung Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu - und abwandern, in der geänderten und aktualisierten Fassung der Verordnung Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 ( ABl. L 230, S. 6, Anhang I ) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit, in dem Herr Lenoir als Kläger der Caisse d' allocations familiales des Alpes-Maritimes ( Familienbeihilfenkasse des Departements Alpes-Maritimes; im folgenden "Kasse" genannt ) als Beklagter gegenübersteht und der einen Bescheid vom 10. November 1984 zum Gegenstand hat, mit dem die Kasse die Zahlung der "allocation de rentrée scolaire" ( Beihilfe bei Schuljahresbeginnn ) und der "allocation de salaire unique" ( Alleinverdienerbeihilfe ) an Herrn Lenoir für die Zukunft eingestellt und von ihm für die Zeit ab Juni 1983, dem Zeitpunkt, zu dem er seinen Wohnort ins Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreichs verlegt hat, die Erstattung der angeblich zu Unrecht bezogenen Beträge dieser Beihilfen verlangt hat.

3 Dem Vorlageurteil und den Prozessakten ist zu entnehmen, daß Her Lenoir, der französischer Staatsangehöriger ist, eine Altersrente nach den französischen Rechtsvorschriften bezieht und daß er die Voraussetzungen für die Gewährung der Beihilfe bei Schuljahresbeginn und der Alleinverdienerbeihilfe in Frankreich erfuellt. Diese letztere besteht als solche seit 1978 nicht mehr, sondern ist mit anderen Vergünstigungen zur "allocation de complément familial" ( zusätzliche Familienbeihilfe ) verschmolzen worden; sie wird aber den früheren Empfängern aufgrund ihres wohlerworbenen Rechtsanspruchs weitergewährt.

4 Im Juni 1983 verlegte Herr Lenoir seinen Wohnort von Frankreich ins Vereinigte Königreich. Bis 1984 wurden ihm die Beihilfe bei Schuljahresbeginn und die Alleinverdienerbeihilfe weitergezahlt. Durch den vorerwähnten Bescheid der Kasse vom 10. November 1984 wurde die Zahlung dieser Beihilfen mit der Begründung eingestellt, daß sich wegen seines Wegzugs aus Frankreich seine Ansprüche auf Familienleistungen nunmehr auf die eigentlichen "Familienbeihilfen" ausschließlich der Beihilfe bei Schuljahresbeginn und der Alleinverdienerbeihilfe beschränkten, die nach den französischen Rechtsvorschriften - deren Anwendbarkeit auf den vorliegenden Fall unstreitig ist - an Altersrentner nur dann zahlbar seien, wenn diese mit ihren Familienangehörigen im Hoheitsgebiet der Französischen Republik wohnten.

5 Auf die Beschwerde des Herrn Lenoir wurde dieser Bescheid vom Beschwerdeausschuß der Kasse mit der Begründung bestätigt, daß die Zahlung der besagten Beihilfen an nicht im französischen Hoheitsgebiet wohnhafte Personen den Vorschriften des Artikels 77 der Verordnung Nr. 1408/71 zuwiderlaufe. Mit dieser Auslegung folgte der Beschwerdeausschuß einem internen Leistungshandbuch, dem zufolge Artikel 77 Absatz 2 dieser Verordnung nur die eigentlichen "Familienbeihilfen", nicht aber die übrigen "Familienleistungen" erfasst.

6 Gegen diesen Bescheid erhob Herr Lenoir am 28. Juni 1985 bei der Commission de première instance de sécurité sociale des Alpes-Maritimes Klage. Dieses Gericht war der Auffassung, daß der Rechtsstreit eine Frage nach der Auslegung des Artikels 77 der Verordnung Nr. 1408/71 aufwerfe; es hat deshalb das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt :

"Ist Artikel 77 der Verordnung Nr. 1408/71 vom 14. Juni 1971 so auszulegen, daß ein Empfänger von Familienleistungen, der einem Mitgliedstaat angehört und im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt, von den Trägern der sozialen Sicherheit seines Herkunftslandes nur die Zahlung der 'Familienbeihilfen' verlangen kann, nicht aber der übrigen Familienleistungen, insbesondere nicht der Beihilfe bei Schuljahresbeginn und der zusätzlichen Familienbeihilfe?"

7 Wegen weiterer Einzelheiten des dem Ausgangsrechtsstreit zugrundeliegenden Sachverhalts, der einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen und innerstaatlichen Vorschriften, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof abgegebenen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

8 Die Frage des innerstaatlichen Gerichts geht dahin, ob der Begriff "Familienleistungen", wie ihn Artikel 77 der Verordnung Nr. 1408/71 in ihrer im Anhang I der Verordnung Nr. 2001/83 wiedergegebenen Fassung ( im folgenden : Verordnung Nr. 1408/71 ) verwendet, so auszulegen ist, daß er ausschließlich die eigentlichen "Familienbeihilfen" erfasst, oder ob er auch andere Familienleistungen, etwa die Beihilfe bei Schuljahresbeginn und die Alleinverdienerbeihilfe des französischen Rechts, einschließt.

9 Für die Beantwortung der gestellten Frage ist daran zu erinnern, daß nach den Begriffsbestimmungen des Artikels 1 Buchstabe u der Verordnung Nr. 1408/71 der Ausdruck "Familienleistungen" "alle Sach - oder Geldleistungen, die zum Ausgleich von Familienlasten... bestimmt sind", bezeichnet, der Ausdruck "Familienbeihilfen" hingegen "regelmässige Geldleistungen, die ausschließlich nach Maßgabe der Zahl und gegebenenfalls des Alters von Familienangehörigen gewährt werden ".

10 Artikel 77 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt demgegenüber, daß "Leistungen im Sinne dieses Artikels... die Familienbeihilfen für Empfänger von... Renten (( sind ))". Er umschreibt somit die "Leistungen", von denen er handelt, in einer Weise, die der in Artikel 1 Buchstabe u Ziffer ii der Verordnung gegebenen Begriffsbestimmung der "Familienbeihilfen" entspricht, die die Zahl und gegebenenfalls das Alter der Familienangehörigen als ausschließliches Tatbestandsmerkmal verwendet.

11 Demnach ist auf die Frage des innerstaatlichen Gerichts zu antworten, daß der Wortlaut des Artikels 77 der Verordnung Nr. 1408/71 in der Fassung des Anhangs I der Verordnung Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 so auszulegen ist, daß ein Empfänger von Familienleistungen, der einem Mitgliedstaat angehört und im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt, von den Trägern der sozialen Sicherheit seines Herkunftslandes nur die Zahlung der "Familienbeihilfen", nicht aber anderer Familienleistungen wie der "Beihilfe bei Schuljahresbeginn" und der "Alleinverdienerbeihilfe" des französischen Rechts verlangen kann.

12 Diese Auslegung bringt nach Ansicht der italienischen Regierung die Ungültigkeit des genannten Artikels mit sich. Denn so ausgelegt stehe er zu den Artikeln 48 und 51 EWG-Vertrag im Widerspruch, weil seine Auswirkungen diejenigen Rentenempfänger diskriminierten, die sich nach ihrem Eintritt in den Ruhestand im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats niederließen und deswegen keine anderen Familienleistungen als die eigentlichen Familienbeihilfen mehr beziehen könnten, obwohl die Möglichkeit, jene Leistungen zu beziehen, in Artikel 77 Absatz 2 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehen sei.

13 Diese Rechtsauffassung ist nicht haltbar. Denn wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 15. Januar 1986 in der Rechtssache 41/84 ( Pinna, Slg. 1986, 1 ) für Recht erkannt hat, sieht Artikel 51 EWG-Vertrag eine Koordinierung, nicht aber eine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten vor, lässt also Unterschiede zwischen den Systemen der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten und folglich auch bezueglich der Ansprüche der dort Beschäftigten bestehen. Die materiellen und verfahrensmässigen Unterschiede zwischen den Systemen der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten und damit zwischen den Ansprüchen der dort Beschäftigten werden somit durch Artikel 51 EWG-Vertrag nicht berührt.

14 Zwar hat der Gerichtshof in dem genannten Urteil präzisiert, daß das Sozialrecht der Gemeinschaft keine Unterschiede einführen darf, die zu denen hinzutreten, die sich bereits aus der mangelnden Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften ergeben, und daß der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht nur offenkundige Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit verbietet, sondern auch alle verschleierten Formen der Diskriminierung, die mit Hilfe der Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu demselben Ergebnis führen.

15 Wie der Gerichtshof jedoch in seinem Urteil vom 28. Juni 1978 in der Rechtssache 1/78 ( Kenny, Slg. 1978, 1489 ) entschieden hat, erfassen die Artikel 7 und 48 EWG-Vertrag nicht die Unterschiede in der Behandlung, die sich aus Unterschieden zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ergeben, sofern diese Rechtsordnungen auf alle ihrer Herrschaft unterworfenen Personen nach objektiven Merkmalen und ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit der Betroffenen anwendbar sind.

16 Es ist festzustellen, daß der umstrittene Artikel 77 der Verordnung Nr. 1408/71 als Rechtsnorm mit allgemeiner Geltung unterschiedslos auf alle Angehörigen der Mitgliedstaaten anwendbar ist und auf objektive Merkmale in bezug auf die Rechtsnatur und die Voraussetzungen für die Gewährung der fraglichen Leistungen gestützt ist. Denn wenn die Rechtsvorschriften des für die Rente zuständigen Mitgliedstaats der Familie des Empfängers regelmässige Geldleistungen ausschließlich nach Maßgabe der Zahl und gegebenenfalls des Alters der Familienangehörigen gewähren, bleiben diese Leistungen unabhängig vom Wohnort des Empfängers und seiner Familie zahlbar. Andersartige oder von anderen Voraussetzungen abhängige Leistungen, wie zum Beispiel eine, die zur Deckung durch den Beginn des Schuljahres der Kinder veranlasster Kosten bestimmt ist, sind hingegen meist eng an das soziale Umfeld und damit auch an den Wohnort der Betroffenen gebunden.

17 Bei dieser Sachlage ist die Annahme nicht haltbar, daß die umstrittene Bestimmung Unterschiede einführe, die zu denen hinzuträten, die sich bereits aus der mangelnden Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften ergeben, oder daß sie Unterscheidungsmerkmale verwende, die tatsächlich zu einer Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit führten.

18 Hieraus folgt, daß die Absätze 1 und 2 des Artikels 77 der Verordnung Nr. 1408/71 in der Fassung des Anhangs I der Verordnung Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 nicht als unvereinbar mit den Artikeln 48 und 51 EWG-Vertrag angesehen werden können.

Kostenentscheidung:

Kosten

19 Die Auslagen der französischen Regierung, der deutschen Bundesregierung und der italienischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit. Die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm von der Commission de première instance de sécurité sociale des Alpes-Maritimes mit Urteil vom 21. Oktober 1986 vorgelegte Frage für Recht erkannt :

Der Wortlaut des Artikels 77 der Verordnung Nr. 1408/71 in der Fassung des Anhangs I der Verordnung Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 ist so auszulegen, daß ein Empfänger von Familienleistungen, der einem Mitgliedstaat angehört und im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt, von den Trägern der sozialen Sicherheit seines Herkunftslandes nur die Zahlung der "Familienbeihilfen", nicht aber anderer Familienleistungen wie der "Beihilfe bei Schuljahresbeginn" und der "Alleinverdienerbeihilfe" des französischen Rechts verlangen kann.

Ende der Entscheidung

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