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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 13.12.1989
Aktenzeichen: 322/88
Rechtsgebiete: EWGV
Vorschriften:
EWGV Art. 189 | |
EWGV Art. 177 | |
EWGV Art. 173 |
1. Anders als Artikel 173 EWG-Vertrag, der die Überprüfung von Handlungen mit Empfehlungscharakter durch den Gerichtshof ausschließt, verleiht Artikel 177 dem Gerichtshof die Befugnis, im Wege der Vorabentscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe der Gemeinschaften ohne jede Ausnahme zu entscheiden. Der Gerichtshof ist also befugt, über die Auslegung von aufgrund des EWG-Vertrags ausgesprochenen Empfehlungen zu entscheiden.
2. Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß die Wahl der Form die Rechtsnatur einer Maßnahme nicht ändern kann, hat das Gericht, das mit der Auslegung einer als Empfehlung bezeichneten Maßnahme zwecks Ermittlung ihrer Tragweite befasst ist, zu prüfen, ob diese Maßnahme nach ihrem Inhalt tatsächlich keine bindende Wirkung entfalten soll.
3. Empfehlungen, die gemäß Artikel 189 Absatz 5 EWG-Vertrag nicht verbindlich sind, werden im allgemeinen dann von den Organen der Gemeinschaft ausgesprochen, wenn diese nach dem EWG-Vertrag nicht ermächtigt sind, rechtsverbindliche Maßnahmen zu erlassen, oder wenn nach ihrer Ansicht kein Anlaß zu einer zwingenderen Regelung besteht. Da es Maßnahmen sind, die auch gegenüber ihren Adressaten keine bindende Wirkung entfalten sollen, können sie als solche für die einzelnen keine vor den innerstaatlichen Gerichten durchsetzbaren Rechte begründen.
Da die Empfehlungen nicht als rechtlich völlig wirkungslos angesehen werden können, sind die innerstaatlichen Gerichte jedoch verpflichtet, sie bei der Entscheidung der bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten zu berücksichtigen, insbesondere dann, wenn sie Aufschluß über die Auslegung von zu ihrer Durchführung erlassenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften geben oder wenn sie verbindliche gemeinschaftliche Vorschriften ergänzen sollen.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (ZWEITE KAMMER) VOM 13. DEZEMBER 1989. - SALVATORE GRIMALDI GEGEN FONDS DES MALADIES PROFESSIONNELLES. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: TRIBUNAL DU TRAVAIL DE BRUXELLES - BELGIEN. - SOZIALPOLITIK - BERUFSKRANKHEITEN - WIRKUNGEN EINER EMPFEHLUNG. - RECHTSSACHE 322/88.
Entscheidungsgründe:
1 Das Tribunal du travail Brüssel hat mit Urteil vom 28. Oktober 1988, beim Gerichtshof eingegangen am 7. November 1988, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 189 Absatz 5 EWG-Vertrag und der Empfehlung der Kommission an die Mitgliedstaaten vom 23. Juli 1962 zur Annahme einer Europäischen Liste der Berufskrankheiten ( ABl 1962, S. 2188 ) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Salvatore Grimaldi ( nachstehend : Kläger ), einem italienischen Wanderarbeitnehmer, und dem Fonds des maladies professionnelles in Brüssel ( nachstehend : Fonds ) wegen der Weigerung des Fonds, die Dupuytren-Krankheit, an der der Kläger leidet, als Berufskrankheit anzuerkennen.
3 Der Kläger arbeitete von 1953 bis 1980 in Belgien. Am 17. Mai 1983 beantragte er bei dem Fonds, die erwähnte Krankheit, eine Knochen - und Gelenkerkrankung sowie gefäßneurotische Erkrankung der Hände, die durch die ständigen Erschütterungen beim Gebrauch eines Preßlufthammers hervorgerufen wird, als Berufskrankheit anzuerkennen. Die streitige Entscheidung des Fonds wurde damit begründet, daß diese Krankheit nicht in der belgischen Liste der Berufskrankheiten aufgeführt sei.
4 Das Tribunal du travail Brüssel, das über die Klage gegen diese Entscheidung zu befinden hat, ordnete die Erstellung eines Sachverständigengutachtens an, das zu dem Ergebnis gelangte, daß die Dupuytren-Krankheit vorliege, die in der belgischen Liste der Berufskrankheiten zwar nicht aufgeführt sei, aber einer "Erkrankung der Sehnenscheiden... durch Überbeanspruchung" gleichgestellt werden könne. Diese Erkrankung ist unter F.6.b der Europäischen Liste der Berufskrankheiten aufgeführt, deren Übernahme in das nationale Recht in der vorerwähnten Empfehlung vom 23. Juli 1962 vorgeschlagen wurde. Im übrigen stellte sich die Frage, ob der Kläger zulässigerweise den beruflichen Ursprung einer in der nationalen Liste nicht aufgeführten Krankheit nachweisen kann, um eine Entschädigung nach dem "Mischsystem" gemäß der Empfehlung 66/462 der Kommission vom 20. Juli 1966 zu den Voraussetzungen für die Entschädigung im Falle von Berufskrankheiten ( ABl. 1966, S. 2696 ) zu erlangen.
5 Aufgrund dieser Sachlage hat das Tribunal du travail Brüssel das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt :
"Hat ein Text wie die 'Europäische Liste' der Berufskrankheiten aufgrund einer Auslegung des Artikels 189 Absatz 5 nach dem Geist des Artikels 189 Absatz 1 und nach der teleologisch ausgerichteten Rechtsprechung des Gerichtshofes in einem Mitgliedstaat unmittelbare Wirkung erlangt, weil sie klar, unbedingt, hinreichend genau und eindeutig ist, diesem Mitgliedstaat kein Ermessen hinsichtlich des zu erreichenden Ziels einräumt und einer Empfehlung der Kommission als Anlage beigefügt ist, die nach mehr als 25 Jahren noch nicht formell in die innerstaatliche Rechtsordnung dieses Mitgliedstaats umgesetzt worden ist?"
6 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, der einschlägigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts sowie des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.
7 Soweit sich die Vorlagefrage auf die Auslegung von Empfehlungen bezieht, die gemäß Artikel 189 Absatz 5 EWG-Vertrag keine Bindungswirkung haben, ist zu untersuchen, ob der Gerichtshof gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag zu einer Entscheidung befugt ist.
8 Insoweit genügt die Feststellung, daß Artikel 177 - anders als Artikel 173 EWG-Vertrag, der die Überprüfung von Handlungen mit Empfehlungscharakter durch den Gerichtshof ausschließt - dem Gerichtshof die Befugnis verleiht, im Wege der Vorabentscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe der Gemeinschaft ohne jede Ausnahme zu entscheiden.
9 Der Gerichtshof hat im übrigen schon mehrfach im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 über die Auslegung von aufgrund des EWG-Vertrags ausgesprochenen Empfehlungen entschieden ( vgl. die Urteile vom 15. Juni 1976 in der Rechtssache 113/75, Frecassetti/Staatliche Finanzverwaltung, Slg. 1976, 983, und vom 9. Juni 1977 in der Rechtssache 90/76, Van Ameyde/UCI, Slg. 1977, 1091 ). Demnach ist in die Prüfung der Vorlagefrage einzutreten.
10 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß die Frage ausweislich der Akten zwar nur die Empfehlung vom 23. Juli 1962 erwähnt, aber auch auf die Klarstellung der Wirkungen der Empfehlung 66/462 vom 20. Juli 1966 innerhalb der internen Rechtsordnung gerichtet ist. Die Frage ist demgemäß dahin zu verstehen, ob diese Empfehlungen mangels nationaler Maßnahmen zu ihrer Durchführung Rechte für die einzelnen begründen, auf die diese sich vor den innerstaatlichen Gerichten berufen können.
11 Aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes ergibt sich, daß zwar gemäß Artikel 189 EWG-Vertrag Verordnungen unmittelbar gelten und infolgedessen schon wegen ihrer Rechtsnatur unmittelbare Wirkungen erzeugen können, hieraus indessen nicht folgt, daß andere in diesem Artikel genannte Kategorien von Rechtsakten niemals ähnliche Wirkungen erzeugen könnten ( vgl. insbesondere das Urteil vom 19. Januar 1982 in der Rechtssache 8/81, Becker/Finanzamt Münster-Innenstadt, Slg. 1982, 53 ).
12 Im Rahmen der Prüfung, ob die beiden genannten Empfehlungen Rechte für die einzelnen begründen können, ist jedoch zunächst zu klären, ob sie geeignet sind, bindende Wirkungen zu erzeugen.
13 Dazu ist zu bemerken, daß Empfehlungen, die gemäß Artikel 189 Absatz 5 EWG-Vertrag nicht verbindlich sind, im allgemeinen dann von den Organen der Gemeinschaft ausgesprochen werden, wenn diese nach dem EWG-Vertrag nicht ermächtigt sind, rechtsverbindliche Maßnahmen zu erlassen, oder wenn nach ihrer Ansicht kein Anlaß zu einer zwingenderen Regelung besteht.
14 Im Hinblick auf die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofes ( vgl. insbesondere das Urteil vom 29. Januar 1985 in der Rechtssache 147/83, Binderer/Kommission, Slg. 1985, 257 ), wonach die Wahl der Form die Rechtsnatur einer Maßnahme nicht ändern kann, ist allerdings zu prüfen, ob der Inhalt einer Maßnahme tatsächlich mit der für sie gewählten Form übereinstimmt.
15 Was die beiden Empfehlungen betrifft, die Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sind, so ist festzustellen, daß sie in ihrer Begründung auf Artikel 155 EWG-Vertrag, wonach die Kommission eine allgemeine Befugnis zur Abgabe von Empfehlungen hat, und auf die Artikel 117 und 118 EWG-Vertrag verweisen. Wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 9. Juli 1987 in den verbundenen Rechtssachen 281, 283, 284, 285 und 287/85 ( Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Niederlande, Dänemark und Vereinigtes Königreich/Kommission, Slg. 1987, 3203 ) entschieden hat, erkennt Artikel 118 EWG-Vertrag die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten in sozialen Fragen an, sofern nicht andere Vorschriften des EWG-Vertrags eingreifen und sie im Rahmen einer Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten ausgeuebt wird, deren Durchführung die Kommission sicherstellt.
16 Unter diesen Umständen kann kein Zweifel daran bestehen, daß die fraglichen Maßnahmen echte Empfehlungen sind, d. h. Handlungen, die auch gegenüber ihren Adressaten keine bindende Wirkung entfalten sollen. Sie können folglich für die einzelnen keine vor den innerstaatlichen Gerichten durchsetzbaren Rechte begründen.
17 Insoweit kann dem Umstand, daß seit Abgabe der ersten Empfehlung ein Zeitraum von mehr als 25 Jahren vergangen ist, ohne daß alle Mitgliedstaaten ihr nachgekommen wären, keine Bedeutung für die rechtliche Tragweite dieser Maßnahme zukommen.
18 Um jedoch die Frage des vorlegenden Gerichts vollständig zu beantworten, ist darauf hinzuweisen, daß die fraglichen Maßnahmen nicht als rechtlich völlig wirkungslos angesehen werden können. Die innerstaatlichen Gerichte sind nämlich verpflichtet, bei der Entscheidung der bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten die Empfehlungen zu berücksichtigen, insbesondere dann, wenn diese Aufschluß über die Auslegung zu ihrer Durchführung erlassener innerstaatlicher Rechtsvorschriften geben oder wenn sie verbindliche gemeinschaftliche Vorschriften ergänzen sollen.
19 Somit ist die Frage des Tribunal du travail Brüssel wie folgt zu beantworten : Aufgrund von Artikel 189 Absatz 5 EWG-Vertrag können die Empfehlung der Kommission vom 23. Juli 1962 zur Annahme einer Europäischen Liste der Berufskrankheiten und die Empfehlung 66/462 der Kommission vom 20. Juli 1966 zu den Voraussetzungen für die Entschädigung im Fall von Berufskrankheiten als solche keine Rechte für die einzelnen begründen, auf die diese sich vor den innerstaatlichen Gerichten berufen könnten. Die innerstaatlichen Gerichte sind jedoch verpflichtet, diese Empfehlungen bei der Entscheidung der bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten zu berücksichtigen, insbesondere dann, wenn die Empfehlungen geeignet sind, Aufschluß über die Auslegung anderer innerstaatlicher oder gemeinschaftlicher Bestimmungen zu geben.
Kostenentscheidung:
Kosten
20 Die Auslagen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht hat, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Tenor:
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF ( Zweite Kammer )
auf die ihm vom Tribunal du travail Brüssel mit Urteil vom 28. Oktober 1988 vorgelegte Frage für Recht erkannt :
Aufgrund von Artikel 189 Absatz 5 EWG-Vertrag können die Empfehlung der Kommission vom 23. Juli 1962 zur Annahme einer Europäischen Liste der Berufskrankheiten und die Empfehlung 66/462 der Kommission vom 20. Juli 1966 zu den Voraussetzungen für die Entschädigung im Fall von Berufskrankheiten als solche keine Rechte der einzelnen begründen, auf die diese sich vor den innerstaatlichen Gerichten berufen könnten. Die innerstaatlichen Gerichte sind jedoch verpflichtet, diese Empfehlungen bei der Entscheidung über bei ihnen anhängige Rechtsstreitigkeiten zu berücksichtigen, insbesondere dann, wenn die Empfehlungen geeignet sind, Aufschluß über die Auslegung anderer innerstaatlicher oder gemeinschaftlicher Bestimmungen zu geben.
Ende der Entscheidung
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