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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 10.07.1990
Aktenzeichen: 326/88
Rechtsgebiete: EWGV, VO Nr. 543/69/EWG


Vorschriften:

EWGV Art. 177
VO Nr. 543/69/EWG Art. 18
VO Nr. 543/69/EWG Art. 7
VO Nr. 543/69/EWG Art. 11
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Enthält eine gemeinschaftsrechtliche Regelung keine besondere Vorschrift, die für den Fall eines Verstosses gegen die Regelung eine Sanktion vorsieht, oder verweist sie insoweit auf die nationalen Rechts - und Verwaltungsvorschriften, so sind die Mitgliedstaaten nach Artikel 5 EWG-Vertrag verpflichtet, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die Geltung und die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten.

Dabei müssen die Mitgliedstaaten, denen allerdings die Wahl der Sanktionen verbleibt, namentlich darauf achten, daß Verstösse gegen das Gemeinschaftsrecht nach ähnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet werden wie nach Art und Schwere gleichartige Verstösse gegen nationales Recht, wobei die Sanktion jedenfalls wirksam, verhältnismässig und abschreckend sein muß.

2. Weder die Verordnung Nr. 543/69 über die Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Strassenverkehr noch die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts stehen nationalen Vorschriften entgegen, nach denen ein Arbeitgeber, dessen Fahrer gegen die Artikel 7 Absatz 2 und 11 dieser Verordnung verstossen hat, auch dann bestraft werden kann, wenn dem Arbeitgeber in bezug auf die Zuwiderhandlung weder Vorsatz noch Fahrlässigkeit vorgeworfen werden kann, sofern die vorgesehene Sanktion den Sanktionen entspricht, die bei gleichartigen und gleich schweren Verstössen gegen nationale Rechtsvorschriften gelten, und sofern diese Sanktion der Schwere der begangenen Zuwiderhandlung angemessen ist.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 10. JULI 1990. - STRAFVERFAHREN GEGEN HANSEN & SOEN I/S. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: VESTRE LANDSRET - DAENEMARK. - VERKEHR - SANKTIONEN BEI VERSTOESSEN GEGEN GEMEINSCHAFTSRECHT - OBJEKTIVE STRAFRECHTLICHE VERANTWORTLICHKEIT - VERORDNUNG (EWG) NR. 543/69. - RECHTSSACHE 326/88.

Entscheidungsgründe:

1 Das Vestre Landsret hat mit Entscheidung vom 28. Januar 1988, beim Gerichtshof eingegangen am 9. November 1988, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Verordnung ( EWG ) Nr. 543/69 des Rates vom 25. März 1969 über die Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Strassenverkehr ( ABl. L 77, S. 49 ) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Strafverfahren gegen die Firma Hansen & Sön I/S als Arbeitgeberin eines Lastwagenfahrers wegen dessen Zuwiderhandlung gegen die die tägliche Hoechstlenkzeit und die vorgeschriebene Tagesruhezeit betreffenden Artikel 7 Absatz 2 und 11 der Verordnung Nr. 543/69.

3 Nach Artikel 18 Absatz 1 der Verordnung Nr. 543/69 erlassen die Mitgliedstaaten die zur Durchführung dieser Verordnung notwendigen Rechts - und Verwaltungsvorschriften. Diese Vorschriften müssen sich unter anderem auf die Ahndung im Falle von Zuwiderhandlungen gegen die dort festgelegten Bestimmungen erstrecken.

4 Aufgrund der Ermächtigung in Artikel 1 Absatz 1 des dänischen Gesetzes Nr. 508 vom 29. November 1972 zur Durchführung der genannten Verordnung des Rates erließ der dänische Arbeitsminister die Ministerialverordnung Nr. 448 vom 2. Juni 1981. Nach Artikel 9 dieser Verordnung können Zuwiderhandlungen gegen die Artikel 7 und 11 der Verordnung ( EWG ) Nr. 543/69 mit einer gegen den Arbeitgeber zu verhängenden Geldbusse geahndet werden, wenn die Fahrt in seinem Interesse durchgeführt wurde, selbst wenn ihm weder ein vorsätzlicher noch ein fahrlässiger Verstoß vorgeworfen werden kann.

5 Das Gericht in Graasten verurteilte aufgrund dieser Bestimmung die Firma Hansen & Sön zur Zahlung einer Geldbusse, ohne daß ihr in bezug auf die Zuwiderhandlung Vorsatz oder Fahrlässigkeit vorgeworfen wurde. Die Firma Hansen & Sön legte dagegen beim Vestre Landsret Berufung ein und machte geltend, daß eine rein objektive strafrechtliche Verantwortlichkeit, wie sie durch die dänische Verordnung von 1981 eingeführt worden sei, mit der Verordnung Nr. 543/69 des Rates nicht vereinbar sei.

6 Das Vestre Landsret hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen :

"Steht die Verordnung ( EWG ) Nr. 543/69 des Rates über die Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Strassenverkehr mit den jeweiligen späteren Änderungen nationalen Vorschriften entgegen, nach denen ein Arbeitgeber, dessen Fahrer gegen die die Lenk - und Ruhezeiten betreffenden Artikel 7 Absatz 2 und 11 der Verordnung verstossen hat, auch dann bestraft werden kann, wenn dem Arbeitgeber in bezug auf die Zuwiderhandlung weder Vorsatz noch Fahrlässigkeit vorgeworfen werden kann?"

7 Wegen weiterer Einzelheiten des rechtlichen Rahmens und des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

8 Die Firma Hansen & Sön führt zwei Argumente für die Unvereinbarkeit des Artikels 9 der dänischen Verordnung von 1981 mit der Verordnung ( EWG ) Nr. 543/69 an.

9 Sie macht zunächst geltend, daß die dänische Regierung mit der Einführung einer verschuldensunabhängigen strafrechtlichen Verantwortlichkeit versucht habe, den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 543/69 zu erweitern, und den Arbeitgebern eine Verpflichtung auferlegt habe, die dort nicht genannt sei. Zur Bekräftigung verweist sie auf das Urteil des Gerichtshofes vom 18. Februar 1975 in der Rechtssache 69/74 ( Cagnon und Taquet, Slg. 1975, 171, Randnr. 10 ), wonach der Arbeitgeber aufgrund von Artikel 11 dieser Verordnung lediglich gehalten sei, die notwendigen Maßnahmen zu treffen, um seinen Arbeitnehmern die vorgeschriebene Tagesruhezeit zu ermöglichen.

10 Zur Begründung dieser Auffassung führt die Firma Hansen & Sön weiter an, daß Artikel 15 der Verordnung ( EWG ) Nr. 3820/85 des Rates vom 20. Dezember 1985 über die Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Strassenverkehr ( ABl. L 370, S. 1 ), die mit Wirkung vom 29. September 1986 an die Stelle der Verordnung Nr. 543/69 getreten sei, nur eine Präzisierung der aufgrund der früheren Verordnung geltenden Bestimmungen darstelle. Nach diesem Artikel sei der Arbeitgeber verpflichtet, die Arbeit so zu planen, daß die Fahrer die gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen einhalten könnten, und die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, damit die Zuwiderhandlungen, die hätten festgestellt werden können, sich nicht wiederholten.

11 Diese Auffassung ist zurückzuweisen. Die Artikel 7 und 11 der Verordnung Nr. 543/69 setzen die Grenzen der Lenk - und Ruhezeiten fest, die von den Fahrern und den anderen Mitgliedern des Fahrpersonals eines Fahrzeugs eingehalten werden müssen. Nach Artikel 18 müssen die Mitgliedstaaten die notwendigen Vorschriften erlassen, um die Einhaltung dieser Grenzen sicherzustellen. Eine nationale Rechtsvorschrift, die eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Arbeitgebers aufgrund der Zuwiderhandlung seines Arbeitnehmers gegen die durch die Artikel 7 und 11 der Verordnung Nr. 543/69 eingeführten Bestimmungen begründet, weitet für sich genommen den Anwendungsbereich dieser Verordnung nicht aus. Eine solche Verantwortlichkeit stellt nämlich nur ein Mittel dar, um die Einhaltung der durch diese Bestimmungen festgelegten Grenzen sicherzustellen.

12 Artikel 15 der Verordnung Nr. 3820/85 soll die Verantwortlichkeit des Arbeitgebers für seine Arbeitnehmer, die die Lenk - und Ruhezeiten nicht einhalten, nicht begrenzen, sondern eigene spezifische Pflichten des Arbeitgebers selbst begründen. Infolgedessen stehen die betreffenden Bestimmungen der Einführung einer objektiven strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Arbeitgebers nicht entgegen.

13 Die Firma Hansen & Sön trägt weiter vor, daß die in Dänemark niedergelassenen Unternehmen in höherem Masse der Gefahr einer Strafe ausgesetzt seien, da nur Dänemark eine strafrechtliche Verantwortlichkeit auf objektiver Grundlage eingeführt habe, und deshalb der freie Wettbewerb innerhalb des Gemeinsamen Marktes verfälscht werde, was den Zielen der Verordnung Nr. 543/69, nämlich der Harmonisierung der einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften, zuwiderlaufe.

14 Dazu ist festzustellen, daß die Verordnung Nr. 543/69 zwar in der Tat auf die Harmonisierung bestimmter Vorschriften abzielt, die sich auf den Wettbewerb im Güterkraftverkehr auswirken, den Mitgliedstaaten aber für ihre Durchführung ein weites Ermessen einräumt. Zum einen ermächtigt Artikel 13 die Mitgliedstaaten, auf die Fahrer von in ihrem Gebiet zugelassenen Fahrzeugen strengere Vorschriften anzuwenden; zum anderen überlässt es Artikel 18 den Mitgliedstaaten, die Art und Strenge der im Falle von Zuwiderhandlungen anwendbaren Sanktionen festzulegen.

15 Ausserdem hängen die wirtschaftlichen Folgen einer Zuwiderhandlung gegen die Verordnung Nr. 543/69 nicht nur von der von dem betreffenden Mitgliedstaat eingeführten Regelung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ab, sondern auch von der Höhe der verhängten Geldbusse und dem Grad der Wirksamkeit der durchgeführten Kontrollen. Daher bewirkt die Einführung eines Systems der objektiven strafrechtlichen Verantwortlichkeit als solche keine Verzerrung der Wettbewerbsbedingungen.

16 Somit steht die Verordnung Nr. 543/69 nationalen Vorschriften nicht entgegen, nach denen ein Arbeitgeber, dessen Fahrer gegen die Artikel 7 Absatz 2 und 11 dieser Verordnung verstossen hat, auch dann bestraft wird, wenn dem Arbeitgeber in bezug auf die Zuwiderhandlung weder Vorsatz noch Fahrlässigkeit vorgeworfen werden kann.

17 Im übrigen sind nach ständiger Rechtsprechung, die durch das Urteil vom 21. September 1989 in der Rechtssache 68/88 ( Kommission/Griechenland, Slg. 1989, 2965 ) bekräftigt worden ist, die Mitgliedstaaten, wenn eine gemeinschaftsrechtliche Regelung keine besondere Vorschrift enthält, die für den Fall eines Verstosses gegen die Regelung eine Sanktion vorsieht, oder wenn sie insoweit auf die nationalen Rechts - und Verwaltungsvorschriften verweist, nach Artikel 5 EWG-Vertrag verpflichtet, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die Geltung und die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten. Dabei müssen die Mitgliedstaaten, denen allerdings die Wahl der Sanktionen verbleibt, namentlich darauf achten, daß Verstösse gegen das Gemeinschaftsrecht nach ähnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet werden wie nach Art und Schwere gleichartige Verstösse gegen nationales Recht, wobei die Sanktion jedenfalls wirksam, verhältnismässig und abschreckend sein muß.

18 Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, daß die Einführung einer objektiven strafrechtlichen Verantwortlichkeit dem in Dänemark zum Schutz der Arbeitsumwelt allgemein geltenden System entspricht.

19 Darüber hinaus kann ein System der objektiven Verantwortlichkeit den Arbeitgeber dazu veranlassen, die Arbeit seiner Arbeitnehmer so zu planen, daß die Einhaltung der Verordnung sichergestellt ist. Ausserdem liegt die Verkehrssicherheit, die nach der dritten und der neunten Begründungserwägung der Verordnung Nr. 543/69 eines der Ziele dieser Verordnung ist, im Interesse der Allgemeinheit, das die Festsetzung einer Geldbusse gegen den Arbeitgeber für Zuwiderhandlungen seines Arbeitnehmers sowie ein System der objektiven strafrechtlichen Verantwortlichkeit rechtfertigen kann. Eine solche Sanktion, die der in Artikel 5 EWG-Vertrag verankerten Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit entspricht, ist deshalb gegenüber dem angestrebten Ziel nicht unverhältnismässig. In dieser Rechtssache ist nicht geltend gemacht worden, daß die Höhe der Geldbusse zur Zuwiderhandlung ausser Verhältnis stehe.

20 Nach alledem ist auf die Frage des Vestre Landsret zu antworten, daß weder die Verordnung ( EWG ) Nr. 543/69 des Rates vom 25. März 1969 über die Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Strassenverkehr noch die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts nationalen Vorschriften entgegenstehen, nach denen ein Arbeitgeber, dessen Fahrer gegen die Artikel 7 Absatz 2 und 11 dieser Verordnung verstossen hat, auch dann bestraft werden kann, wenn dem Arbeitgeber in bezug auf die Zuwiderhandlung weder Vorsatz noch Fahrlässigkeit vorgeworfen werden kann, sofern die vorgesehene Sanktion den Sanktionen entspricht, die bei gleichartigen und gleich schweren Verstössen gegen nationale Rechtsvorschriften gelten, und sofern diese Sanktion der Schwere der begangenen Zuwiderhandlung angemessen ist.

Kostenentscheidung:

Kosten

21 Die Auslagen der dänischen und der britischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Vestre Landsret mit Entscheidung vom 28. Januar 1988 vorgelegte Frage für Recht erkannt :

Weder die Verordnung ( EWG ) Nr. 543/69 des Rates vom 25. März 1969 über die Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Strassenverkehr noch die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts stehen nationalen Vorschriften entgegen, nach denen ein Arbeitgeber, dessen Fahrer gegen die Artikel 7 Absatz 2 und 11 dieser Verordnung verstossen hat, auch dann bestraft werden kann, wenn dem Arbeitgeber in bezug auf die Zuwiderhandlung weder Vorsatz noch Fahrlässigkeit vorgeworfen werden kann, sofern die vorgesehene Sanktion den Sanktionen entspricht, die bei gleichartigen und gleich schweren Verstössen gegen nationale Rechtsvorschriften gelten, und sofern diese Sanktion der Schwere der begangenen Zuwiderhandlung angemessen ist.

Ende der Entscheidung

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