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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 06.06.1990
Aktenzeichen: 342/88
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag, Verordnung Nr. 1408/71 vom 14.06.1971, Königliche Verordnung Nr. 50


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 177
Verordnung Nr. 1408/71 vom 14.06.1971 Art. 46 Abs. 1
Königliche Verordnung Nr. 50 Art. 10
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Bei der Bestimmung der Höhe der in Artikel 46 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 genannten selbständigen Leistung hat der zuständige Träger eines Mitgliedstaats zum einen gemäß Artikel 12 Absatz 2 dieser Verordnung alle nationalen Antikumulierungsvorschriften und daher alle in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Versicherungszeiten ausser acht zu lassen und zum anderen alle Verwaltungspraktiken zu berücksichtigen, aufgrund deren zugunsten von inländischen Arbeitnehmern von der strikten Anwendung der nationalen Rechtsvorschriften abgewichen werden kann.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (ERSTE KAMMER) VOM 6. JUNI 1990. - RIJKSDIENST VOOR PENSIOENEN GEGEN EGIDIUS SPITS. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: ARBEIDSHOF GENT - BELGIEN. - SOZIALE SICHERHEIT - LEISTUNGEN BEI ALTER - VERORDNUNG (EWG) NR. 1408/71 - ARTIKEL 46. - RECHTSSACHE 342/88.

Entscheidungsgründe:

1 Der Arbeidshof Gent hat mit Beschluß vom 18. November 1988, beim Gerichtshof eingegangen am 28. November 1988, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 46 Absatz 1 der Verordnung ( EWG ) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu - und abwandern (( in der durch die Verordnung ( EWG ) Nr. 2001/83 des Rates kodifizierten Fassung dieser Verordnung, ABl. L 230, S. 6 )) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen dem niederländischen Staatsangehörigen E. Spits ( im folgenden : Kläger ) und dem Rijksdienst voor Pensiönen, einem belgischen Sozialversicherungsträger ( im folgenden : Rijksdienst ), in dem es um die Berechnung der Rente des Klägers geht.

3 Der im August 1914 geborene Kläger hat von 1932 bis 1938 in Belgien und dann bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand im Jahre 1979 in den Niederlanden gearbeitet. Nach niederländischem Recht konnte der Kläger damit Rentenansprüche für 50 Jahre in den Niederlanden zurückgelegte Versicherungszeiten von August 1929 bis Juli 1979 geltend machen, da die Jahre von 1929 bis 1938 einschließlich nach niederländischem Recht als fiktive Versicherungszeiten anerkannt wurden.

4 Als der Kläger einen Antrag auf Gewährung einer Rente bei dem zuständigen niederländischen Träger stellte, unterrichtete dieser davon die entsprechende belgische Stelle, den Rijksdienst; dieser nahm eine Berechnung der zu zahlenden Rente vor. Dabei wandte er Artikel 10 des Koninklijk Besluit ( Königliche Verordnung ) Nr. 50 vom 24. Oktober 1967 über die Alters - und Hinterbliebenenrente für Arbeitnehmer an ( Belgisch Staatsblad vom 27.10.1967 ).

5 Nach Artikel 10 § 1 wird der Rentenanspruch in Höhe von 1/45 des ( wirklichen, fiktiven oder pauschalen ) Arbeitsentgelts des Jahres pro Beschäftigungskalenderjahr erworben, das zwischen dem 1. Januar des Jahres, in dem der Betroffene das 20. Lebensjahr vollendet, und dem 31. Dezember des Jahres, das der Vollendung des 65. Lebensjahres vorausgeht, zurückgelegt worden ist. Nach einer Verwaltungspraxis werden jedoch die vor der Vollendung des 20. Lebensjahres zurückgelegten Beschäftigungsjahre berücksichtigt, um die Rentenansprüche eines Betroffenen zu verbessern, wenn dieser sich nicht auf eine vollständige Laufbahn von 45 Beschäftigungsjahren berufen kann.

6 Bei der Berechnung der dem Kläger nach Artikel 10 der Königlichen Verordnung Nr. 50 zustehenden Leistung berücksichtigte der Rijksdienst nur die Jahre von 1934 bis 1938 und ließ die beiden von dem Kläger vor der Vollendung des 20. Lebensjahres zurückgelegten Beschäftigungsjahre, das heisst 1932 und 1933, mit der Begründung ausser acht, daß der Kläger bei Berücksichtigung der in den Niederlanden zurückgelegten Versicherungsjahre insgesamt 50 Beschäftigungsjahre zurückgelegt habe. Infolgedessen wurde dem Kläger eine Rente in Höhe von 5/45 auf der Grundlage des für die Jahre 1934 bis 1938 einschließlich zu berücksichtigenden Arbeitsentgelts gewährt.

7 Gegen diese Entscheidung erhob der Kläger Klage beim zuständigen nationalen Gericht und machte geltend, in keiner Bestimmung der Königlichen Verordnung Nr. 50 sei vorgesehen, daß bei der Feststellung der von dem Betroffenen zurückgelegten Beschäftigungslaufbahn den in Belgien zurückgelegten Beschäftigungsjahren die im Ausland zurückgelegten hinzuzurechnen seien. Der Kläger war daher der Auffassung, er habe Anspruch auf eine Rente in Höhe von 7/45, bei der das Arbeitsentgelt der Jahre 1932 bis 1938 einschließlich berücksichtigt werde.

8 Der Kläger obsiegte in erster Instanz; das Gericht entschied, daß die Jahre 1932 und 1933 zu berücksichtigen seien. Der Rijksdienst legte gegen dieses Urteil Rechtsmittel beim Arbeidshof Gent ein; dieser hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt :

"Kann ein Betroffener, der in den Niederlanden wegen seiner dortigen Beschäftigung eine berufliche Laufbahn nachweist, aufgrund deren ihm eine einer Gesamtversicherungszeit von 50 Jahren entsprechende Rente nach der Algemene Ouderdomswet zusteht, in dem oben beschriebenen Zusammenhang zusätzlich Anspruch erheben auf die Anerkennung der beiden zwischen den Prozessparteien weiterhin streitigen Jahre 1932 und 1933, für die in Belgien ausreichende Rentenbeiträge entrichtet worden sind und die vor der Vollendung des 20. Lebensjahres des Betroffenen liegen?"

9 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

10 Wenn das vorlegende Gericht in seiner Frage auch keine Bestimmung des Gemeinschaftsrechts nennt, so ergibt sich doch aus den Akten, daß die Frage in Wirklichkeit auf die Auslegung des Artikels 46 der Verordnung Nr. 1408/71 und insbesondere des Absatzes 1 dieser Bestimmung gerichtet ist. Im übrigen haben sowohl der Rijksdienst als auch die Kommission in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, daß die richtige Auslegung des Artikels 46 Absatz 1 dazu führe, daß die Rente auf der Grundlage von 7/45 und nicht von 5/45 des betreffenden Arbeitsentgelts zu berechnen sei.

11 Artikel 46 bezieht sich auf die Feststellung der Leistungen bei Alter und bei Tod eines Arbeitnehmers, für den die Rechtsvorschriften von zwei oder mehr Mitgliedstaaten galten. In Absatz 1 wird die Berechnungsmethode angegeben, die anzuwenden ist, wenn das nationale System die Gewährung eines Rentenanspruchs zulässt, ohne daß es erforderlich ist, auf in einem anderen Mitgliedstaat der Gemeinschaft zurückgelegte Versicherungszeiten zurückzugreifen. Diese Leistung, die als "selbständige Leistung" bezeichnet wird, wird sodann mit der Leistung verglichen, die nach dem durch Artikel 46 Absatz 2 eingeführten System der Zusammenrechnung und Proratisierung zu zahlen ist, wobei der Betroffene vorbehaltlich der Regelung in Artikel 46 Absatz 3 Anspruch auf den höheren der beiden Beträge hat.

12 Nach Artikel 46 Absatz 1 hat die zuständige Stelle die Leistung zu berechnen, die allein nach den nationalen Rechtsvorschriften und allein nach Maßgabe der nach diesen Rechtsvorschriften zurückgelegten Zeiten geschuldet wird. Bei der Berechnung des Betrags dieser selbständigen Leistung hat die zuständige Stelle gemäß Artikel 12 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 nationale Antikumulierungsvorschriften ausser acht zu lassen.

13 Nach dem Grundsatz der Gleichbehandlung der inländischen Arbeitnehmer und der Wanderarbeitnehmer müssen ausserdem den Wanderarbeitnehmern alle Verwaltungspraktiken, aufgrund deren von der strikten Anwendung von nationalen Rechtsvorschriften der im Ausgangsverfahren betroffenen Art abgewichen werden kann und die die Berücksichtigung von Beschäftigungsjahren zulassen, die der Betroffene in dem betreffenden Mitgliedstaat vor der Vollendung des 20. Lebensjahres zurückgelegt hat, in gleicher Weise zugute kommen wie inländischen Arbeitnehmern.

14 Nach alledem ist die vom Arbeidshof Gent vorgelegte Frage dahin zu beantworten, daß der zuständige Träger eines Mitgliedstaats bei der Bestimmung der Höhe der in Artikel 46 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 genannten selbständigen Leistung zum einen alle in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Versicherungszeiten ausser acht zu lassen und zum anderen alle Verwaltungspraktiken zu berücksichtigen hat, aufgrund deren von der strikten Anwendung der nationalen Rechtsvorschriften abgewichen werden kann.

Kostenentscheidung:

Kosten

15 Die Auslagen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben hat, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF ( Erste Kammer )

auf die ihm vom Arbeidshof Gent mit Beschluß vom 18. November 1988 vorgelegte Frage für Recht erkannt :

Bei der Bestimmung der Höhe der in Artikel 46 Absatz 1 der Verordnung ( EWG ) Nr. 1408/71 genannten selbständigen Leistung hat der zuständige Träger eines Mitgliedstaats zum einen alle in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Versicherungszeiten ausser acht zu lassen und zum anderen alle Verwaltungspraktiken zu berücksichtigen, aufgrund deren von der strikten Anwendung der nationalen Rechtsvorschriften abgewichen werden kann.

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