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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 29.03.1990
Aktenzeichen: 62/88
Rechtsgebiete: Verordnung (EWG) Nr. 3955/87 des Rates vom 22. Dezember 1987, EWG-Vertrag


Vorschriften:

Verordnung (EWG) Nr. 3955/87 des Rates vom 22. Dezember 1987
EWG-Vertrag Art. 173 Abs. 1
EWG-Vertrag Art. 113
EWG-Vertrag Art. 235
EWG-Vertrag Art. 190
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Die Rechtmässigkeit muß vollständig und umfassend überprüft werden; daher ist Artikel 173 Absatz 1 so auszulegen, daß er die Zuständigkeit des Gerichtshofes nicht ausschließt, im Rahmen einer Klage auf Nichtigerklärung einer auf eine Bestimmung des EWG-Vertrags gestützten Maßnahme eine gerügte Verletzung einer Bestimmung des EAG - oder EGKS-Vertrags zu prüfen.

2. Die Wahl der Rechtsgrundlage eines Rechtsakts, die sich auf dessen Inhalt insoweit auswirken kann, als sie das Verfahren zu seinem Erlaß bestimmt, muß sich im Rahmen des Zuständigkeitssystems der Gemeinschaft auf objektive, gerichtlich nachprüfbare Umstände gründen.

3. Nach Artikel 190 EWG-Vertrag ist in Handlungen, die nur auf Vorschlag der Kommission erlassen werden können, auf diesen Vorschlag Bezug zu nehmen, ohne daß freilich die Angabe erforderlich wäre, ob die fragliche Handlung diesem Vorschlag entspricht.

4. Wenn die Verordnung Nr. 3955/87 die Zulassung bestimmter landwirtschaftlicher Erzeugnisse aus Drittländern zum freien Verkehr von der Einhaltung von Hoechstwerten für die radioaktive Kontaminierung abhängig macht, so ist es ihr Ziel, dafür Sorge zu tragen, daß für die menschliche Ernährung bestimmte landwirtschaftliche Erzeugnisse und Verarbeitungserzeugnisse in die Gemeinschaft nur nach gemeinsamen Modalitäten verbracht werden, die die Gesundheit der Verbraucher schützen und ohne ungebührende Beeinträchtigung des Handels zwischen der Gemeinschaft und Drittländern die Einheit des Marktes erhalten und Verkehrsverlagerungen verhindern. Diese Verordnung hat somit nach ihrem Ziel und ihrem Inhalt den Handel zwischen der Gemeinschaft und Drittländern zum Gegenstand; damit gehört sie zur gemeinsamen Handelspolitik im Sinne des Artikels 113 EWG-Vertrag.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 29. MAERZ 1990. - REPUBLIK GRIECHENLAND GEGEN RAT DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN. - GEMEINSAME HANDELSPOLITIK - EINFUHR LANDWIRTSCHAFTLICHER ERZEUGNISSE - UNFALL IM KERNKRAFTWERK TSCHERNOBYL. - RECHTSSACHE 62/88.

Entscheidungsgründe:

1 Die Griechische Republik hat mit Klageschrift, die am 26. Februar 1988 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 173 Absatz 1 EWG-Vertrag eine Klage auf Nichtigerklärung der Verordnung ( EWG ) Nr. 3955/87 des Rates vom 22. Dezember 1987 über die Einfuhrbedingungen für landwirtschaftliche Erzeugnisse mit Ursprung in Drittländern nach dem Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl ( ABl. L 371, S. 14; berichtigt ABl. 1988, L 16, S. 46 ) erhoben.

2 Diese Verordnung wurde, gestützt auf Artikel 113 EWG-Vertrag, mit qualifizierter Mehrheit erlassen. Nach ihr dürfen bestimmte landwirtschaftliche Erzeugnisse mit Ursprung in Drittländern nur unter der Voraussetzung in den freien Verkehr gebracht werden, daß bestimmte Hoechstwerte radioaktiver Kontaminierung nicht überschritten sind. Die Mitgliedstaaten führen Kontrollen der Einhaltung dieser Hoechstwerte durch; hierfür ist ein Informationsaustausch über die Kommission vorgesehen. Werden die Hoechstwerte überschritten, sind Maßnahmen zu ergreifen, die bis zum Verbot der Einfuhr der fraglichen Erzeugnisse gehen können.

3 Die Griechische Republik führt für die Nichtigkeit zwei Gründe an. Zum einen sieht sie den EWG - und den EAG-Vertrag verletzt und einen Ermessensfehler darin, daß die Rechtsgrundlage der angefochtenen Verordnung rechtswidrig sei. Zum anderen sei diese Verordnung unzureichend begründet.

4 Weitere Einzelheiten des Sachverhalts, des Verfahrensablaufs sowie des Parteivorbringens finden sich im Sitzungsbericht, auf den verwiesen wurde. Der Inhalt der Akten ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

Zur Rechtsgrundlage der angefochtenen Verordnung

5 Der erste Klagegrund, der sich aus zwei Teilen zusammensetzt, betrifft die Rechtsgrundlage der angefochtenen Verordnung.

6 Mit dem ersten Teil dieses Klagegrundes macht die Griechische Republik geltend, der Rat habe den EWG - und den EAG-Vertrag dadurch verletzt, daß er die Verordnung Nr. 3955/87 auf Artikel 113 EWG-Vertrag gestützt habe. Die Verordnung betreffe nämlich ausschließlich den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung der Mitgliedstaaten gegen die Folgen des Unfalls im Kernkraftwerk Tschernobyl; sie hätte deshalb entweder auf Artikel 31 EAG-Vertrag oder auf die Artikel 130 r und 130 s EWG-Vertrag, gegebenenfalls in Verbindung mit Artikel 235 EWG-Vertrag, gestützt werden müssen.

7 Der Rat hält den ersten Teil dieses Klagegrundes insoweit für unzulässig, als er eine Verletzung des EAG-Vertrags rügt; die Klägerin könne nämlich im Rahmen einer Klage aufgrund einer Bestimmung nur des EWG-Vertrags keine Verletzung des EAG-Vertrags rügen.

8 Nach Artikel 173 Absatz 1 EWG-Vertrag überwacht der Gerichtshof "die Rechtmässigkeit des Handelns des Rates und der Kommission, soweit es sich nicht um Empfehlungen oder Stellungnahmen handelt. Zu diesem Zweck ist er für Klagen zuständig, die... wegen... Verletzung dieses Vertrages oder einer bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm" erhoben werden. Die Rechtmässigkeit muß vollständig und umfassend überprüft werden; daher ist diese Bestimmung so auszulegen, daß sie die Zuständigkeit des Gerichtshofes nicht ausschließt, im Rahmen einer Klage auf Nichtigerklärung einer auf eine Bestimmung des EWG-Vertrags gestützten Maßnahme eine gerügte Verletzung einer Bestimmung des EAG - oder EGKS-Vertrags zu prüfen.

9 Der Einwand des Rates hinsichtlich der teilweisen Unzulässigkeit des ersten Teils des ersten Klagegrundes ist daher zurückzuweisen.

10 Die Wahl der Rechtsgrundlage kann sich auf die inhaltliche Ausgestaltung der Handlung insoweit auswirken, als die verfahrensmässigen Anforderungen der fraglichen Ermächtigungsgrundlagen nicht identisch sind.

11 Nach Artikel 113 Absätze 2 und 4 kann der Rat in der gemeinsamen Handelspolitik auf Vorschlag der Kommission mit qualifizierter Mehrheit entscheiden, ohne daß das Parlament oder der Wirtschafts - und Sozialausschuß beteiligt wäre. Nach Artikel 31 EAG-Vertrag entscheidet der Rat zwar auch auf Vorschlag der Kommission und mit derselben Mehrheit wie nach Artikel 113 EWG-Vertrag, aber nach Stellungnahme des Wirtschafts - und Sozialausschusses und nach Anhörung des Europäischen Parlaments. Nach Artikel 130 s EWG-Vertrag beschließt der Rat auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des Wirtschafts - und Sozialausschusses einstimmig über das Tätigwerden der Gemeinschaft auf dem Gebiet des Umweltschutzes, wobei er allerdings festlegen kann, was unter die mit qualifizierter Mehrheit zu fassenden Beschlüsse fällt. Nach Artikel 235 EWG-Vertrag schließlich erlässt der Rat einstimmig auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments die geeigneten Vorschriften, wenn ein Tätigwerden der Gemeinschaft erforderlich erscheint, um im Rahmen des Gemeinsamen Marktes eines ihrer Ziele zu verwirklichen und in diesem Vertrag die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen sind.

12 Da die Verfahrensvorschriften des Artikels 113 EWG-Vertrag sich somit von denen des Artikels 31 EAG-Vertrag sowie der Artikel 130 s und 135 EWG-Vertrag unterscheiden, konnte sich die Entscheidung des Rates, die angegriffene Verordnung auf Artikel 113 EWG-Vertrag als Rechtsgrundlage zu stützen, nicht aber auf Artikel 31 EAG-Vertrag oder Artikel 130 s EWG-Vertrag, gegebenenfalls in Verbindung mit Artikel 235 EWG-Vertrag, auf den Inhalt der Maßnahme auswirken. Hat er sich damit für eine ungeeignete Rechtsgrundlage entschieden, so handelt es sich folglich nicht nur um einen Formfehler. Es ist somit zu prüfen, ob die fragliche Verordnung auf der Grundlage des Artikels 113 EWG-Vertrag erlassen werden konnte.

13 Wie der Gerichtshof im Urteil vom 26. März 1987 in der Rechtssache 45/86 ( Kommission/Rat, Slg. 1987, 1493, Randnr. 11 ) entschieden hat, muß sich die Wahl der Rechtsgrundlage eines Rechtsakts im Rahmen des Zuständigkeitssystems der Gemeinschaft auf objektive, gerichtlich nachprüfbare Umstände gründen.

14 Als Ziel der Verordnung Nr. 3955/87 ist in deren Begründungserwägungen angegeben, daß "die Gemeinschaft... weiterhin dafür Sorge tragen (( muß )), daß für die menschliche Ernährung bestimmte landwirtschaftliche Erzeugnisse und Verarbeitungserzeugnisse, bei denen die Möglichkeit einer Kontaminierung besteht, in die Gemeinschaft nur nach gemeinsamen Modalitäten verbracht werden" und daß "diese gemeinsamen Modalitäten... die Gesundheit der Verbraucher schützen und ohne ungebührende Beeinträchtigung des Handels zwischen der Gemeinschaft und Drittländern die Einheit des Marktes erhalten und Verkehrsverlagerungen verhindern" müssen.

15 Der Inhalt der Verordnung Nr. 3955/87 besteht aus einer einheitlichen Regelung der Bedingungen, unter denen möglicherweise kontaminierte landwirtschaftliche Erzeugnisse mit Ursprung in Drittländern in die Gemeinschaft eingeführt werden können.

16 Diese Verordnung hat somit nach ihrem Ziel und ihrem Inhalt, wie sie sich aus ihr selbst ergeben, den Handel zwischen der Gemeinschaft und Drittländern zum Gegenstand; damit gehört sie zur gemeinsamen Handelspolitik im Sinne des Artikels 113 EWG-Vertrag.

17 Artikel 113 hat als Rechtsgrundlage der Verordnung nicht deshalb ausser Betracht zu bleiben, weil die Artikel 30 ff. EAG-Vertrag Sonderregeln für die Grundnormen für den Gesundheitsschutz der Bevölkerung gegen die Gefahren ionisierender Strahlungen enthalten. Diese Bestimmungen finden sich im Kapitel "Der Gesundheitsschutz", das zum Zweiten Titel "Die Förderung des Fortschritts auf dem Gebiet der Kernenergie" des EAG-Vertrags gehört; sie sollen den Gesundheitsschutz im Kernenergiesektor sichern. Den Handel zwischen der Gemeinschaft und Drittländern sollen sie nicht regeln.

18 Auch der Umstand, daß die Festsetzung von Hoechstwerten für die radioaktive Kontaminierung für landwirtschaftliche Erzeugnisse dem Gesundheitsschutz dient und daß der Schutz der menschlichen Gesundheit nach Artikel 130 r Absatz 1 zweiter Gedankenstrich auch zu den Zielen der Umweltpolitik der Gemeinschaft gehört, hat nicht zur Folge, daß die Verordnung Nr. 3955/87 nicht zur gemeinsamen Handelspolitik zu rechnen wäre.

19 Die Artikel 130 r und 130 s übertragen der Gemeinschaft nämlich eine besondere Zuständigkeit für die Umweltpolitik. Sie lassen die Zuständigkeiten der Gemeinschaft aufgrund anderer Vertragsbestimmungen unberührt, selbst wenn die danach zu ergreifenden Maßnahmen zugleich Ziele des Umweltschutzes verfolgen.

20 Diese Auslegung findet sich in Artikel 130 r Absatz 2 Satz 2 bestätigt, wonach die Erfordernisse des Umweltschutzes Bestandteil der anderen Politiken der Gemeinschaft sind. Diese Bestimmung entspricht dem Grundsatz, daß alle Gemeinschaftsmaßnahmen den Erfordernissen des Umweltschutzes gerecht werden müssen; sie setzt voraus, daß eine Gemeinschaftsmaßnahme nicht allein deswegen zur Umweltpolitik der Gemeinschaft gehört, weil sie deren Anforderungen berücksichtigt.

21 Die Griechische Republik hat noch vorgetragen, die Verordnung Nr. 3955/87 hätte auch auf Artikel 235 gestützt werden müssen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes ist jedoch der Rückgriff auf diesen Artikel als Rechtsgrundlage eines Rechtsakts nur gerechtfertigt, wenn keine andere Vertragsbestimmung den Gemeinschaftsorganen die zum Erlaß dieses Rechtsakts erforderliche Befugnis verleiht ( vgl. zuletzt das Urteil vom 30. Mai 1989 in der Rechtssache 242/87, Kommission/Rat, Slg. 1989, 1425, Randnr. 6 ).

22 Da die streitige Verordnung zur gemeinsamen Handelspolitik gehört und Artikel 113 daher, wie bereits dargelegt, eine geeignete Rechtsgrundlage darstellt, ist der Rückgriff auf Artikel 235 ausgeschlossen.

23 Der erste Teil des ersten Klagegrunds ist damit zurückzuweisen.

24 Mit dem zweiten Teil des ersten Klagegrundes macht die Griechische Republik geltend, der Rat habe ermessensfehlerhaft gehandelt, indem er Artikel 113 EWG-Vertrag mit dem alleinigen Ziel als Rechtsgrundlage der Verordnung Nr. 3955/87 gewählt habe, mit qualifizierter Mehrheit entscheiden und damit eine einstimmige Entscheidung nach Artikel 130 s EWG-Vertrag umgehen zu können.

25 Artikel 113 EWG-Vertrag ist jedoch die geeignete Rechtsgrundlage für die streitige Verordnung. Dem Rat kann daher kein Ermessensfehler vorgeworfen werden, wenn er für den Erlaß dieser Verordnung das dort vorgeschriebene Verfahren beachtet hat.

26 Da auch der zweite Teil des ersten Klagegrundes nicht durchgreift, ist der Klagegrund der Rechtswidrigkeit der Rechtsgrundlage insgesamt zurückzuweisen.

Zur Frage der Begründung ( Artikel 190 EWG-Vertrag )

27 Der zweite Klagegrund stützt sich auf eine Verletzung des Artikels 190 EWG-Vertrag.

28 Die Griechische Republik wirft dem Rat insoweit vor, in der streitigen Verordnung nicht angegeben zu haben, ob sie dem Vorschlag der Kommission entspricht. Damit habe er gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstossen, da die Bürger nicht mehr feststellen könnten, ob die fragliche Maßnahme gemäß Artikel 149 Absatz 1 EWG-Vertrag erlassen worden sei. Nach dieser Bestimmung kann der Rat, wird er auf Vorschlag der Kommission tätig, Änderungen dieses Vorschlags nur einstimmig beschließen. Die Griechische Republik macht nicht geltend, daß die streitige Maßnahme unter Verletzung dieses Verfahrens erlassen worden sei.

29 Nach Artikel 190 EWG-Vertrag nehmen "die Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen des Rates und der Kommission... auf die Vorschläge und Stellungnahmen Bezug, die nach diesem Vertrag eingeholt werden müssen ". Nach dem eindeutigen Wortlaut dieser Bestimmung ist zwar in Handlungen, die nur auf Vorschlag der Kommission erlassen werden können, auf diesen Vorschlag Bezug zu nehmen, ohne daß aber die Angabe erforderlich wäre, ob die fragliche Handlung diesem Vorschlag entspricht.

30 Auch dem zweiten Klagegrund ist somit nicht zu entsprechen.

31 Da keiner der Klagegründe der Klägerin Erfolg hat, ist die Klage abzuweisen.

Kostenentscheidung:

Kosten

32 Nach Artikel 69 § 2 Verfahrensordung trägt die unterliegende Partei die Kosten des Verfahrens. Da die Griechische Republik mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, ist sie in die Kosten zu verurteilen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

für Recht erkannt und entschieden :

1 ) Die Klage wird abgewiesen.

2 ) Die Griechische Republik trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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