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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 23.02.1988
Aktenzeichen: 79/87
Rechtsgebiete:
Vorschriften:
Artikel 9 der Verordnung Nr. 1974/80 über allgemeine Durchführungsbestimmungen für bestimmte Nahrungsmittelhilfeaktionen auf dem Getreide - und Reissektor ist dahin auszulegen, daß er es der mit der Bereitstellung einer Nahrungsmittelhilfe durch ein Verfahren der freihändigen Vergabe beauftragten nationalen Interventionsstelle nicht verbietet, nur zwei konkurrierende Firmen zur Angebotsabgabe aufzufordern, die zuvor erfolglos an einem Ausschreibungsverfahren über dieselbe Maßnahme teilgenommen haben.
Die mit der Bereitstellung von zur Durchführung einer Nahrungsmittelhilfeaktion bestimmten Erzeugnissen beauftragte Stelle darf nach dieser Verordnung in Verbindung mit der Verordnung Nr. 2750/75 über die Kriterien für die Bereitstellung von Getreide für die Nahrungsmittelhilfe vor Inkrafttreten derjenigen Verordnung der Kommission, mit der die Anwendung eines Verfahrens der freihändigen Vergabe für diese Bereitstellung gebilligt wird, Angebote von an der Lieferung der Erzeugnisse interessierten Unternehmen weder anfordern noch entgegennehmen.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (ERSTE KAMMER) VOM 23. FEBRUAR 1988. - OFFICE BELGE DE L'ECONOMIE ET DE L'AGRICULTURE (OBEA) GEGEN S. A. ETABLISSEMENTS SOULES ET CIE. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG, VORGELEGT VOM TRIBUNAL DE COMMERCE BRUESSEL. - NAHRUNGSMITTELHILFE - VERFAHREN ZUR FREIHAENDIGEN VERGABE. - RECHTSSACHE 79/87.
Entscheidungsgründe:
1 Das Tribunal de commerce Brüssel hat mit Urteil vom 10. März 1987, beim Gerichtshof eingegangen am 18. März 1987, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung der Verordnung Nr. 1974/80 der Kommission vom 22. Juli 1980 über allgemeine Durchführungsbestimmungen für bestimmte Nahrungsmittelhilfeaktionen auf dem Getreide - und Reissektor ( ABl. L 192, S. 11 ) gestellt.
2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen dem Office belge de l' économie et de l' agriculture ( OBEA ), der belgischen Interventionsstelle, als Kläger, und der Firma Établissements Soules & Cie als Beklagter. Die Beklagte war Zuschlagsempfängerin in einem Ausschreibungsverfahren gewesen, das durch Verordnung Nr. 3611/81 der Kommission vom 14. Dezember 1981 ( ABl. L 362, S. 14 ) veranlasst worden war, um den Zuschlag für 550 t Weichweizenmehl zu erteilen, die über das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in den Sudan geliefert werden sollten.
3 Da die Beklagte mitgeteilt hatte, daß sie von der Sache Abstand nehme, weil ihr Lieferant seine Zahlungen eingestellt habe, erließ die Kommission eine neue Verordnung über die Bereitstellung derselben Menge Weizenmehl im Wege des Verfahrens der freihändigen Vergabe ( Verordnung Nr. 1058/82 der Kommission vom 4. Mai 1982, ABl. L 123, S. 18 ). Dieses Verfahren endete mit dem Abschluß eines Vertrags mit einer belgischen Firma, die schon im Rahmen des Ausschreibungsverfahrens ein Angebot abgegeben hatte.
4 Die von der Beklagten gestellte Kaution wurde an den Kläger ausgezahlt. Dieser verlangte von ihr die Zahlung eines Betrags von 1 667 050 BFR entsprechend dem Unterschied zwischen dem Preis von 14 479 BFR je t Weizen, den die Beklagte im Januar 1982 in dem vorhergehenden Ausschreibungsverfahren angeboten hatte, und dem höheren Preis von 17 510 BFR je t, den die belgische Firma am 5. Mai 1982 für dieselbe Lieferung in Beantwortung eines Schreibens des Klägers vom 3. Mai 1982 angeboten hatte, mit dem dieser Angebote angefordert und als Termin für deren Einreichung "spätestens den 5. Mai um 14.30 Uhr" bestimmt hatte.
5 Die Beklagte lehnte diese Zahlung ab. Der Kläger verklagte sie daraufhin bei dem Tribunal de commerce auf Zahlung. Angesichts des Zusammenhangs zwischen dem geforderten Betrag und dem im Verfahren der freihändigen Vergabe von der belgischen Firma am 5. Mai 1982 abgegebenen höheren Angebot machte die Beklagte im Ausgangsverfahren unter anderem geltend, daß die Anforderung von Angeboten durch den Kläger vom 3. Mai 1982, weil sie sich auf die beiden Firmen beschränkt habe, die zuvor ohne Erfolg an dem Ausschreibungsverfahren teilgenommen hätten, und weil die Angebote aufgrund dieser Anforderung am 5. Mai eingereicht worden seien, also vor dem Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1058/82 der Kommission vom 4. Mai 1982, mit der der Kläger mit der Durchführung des Verfahrens der freihändigen Vergabe beauftragt worden sei.
6 Da das vorlegende Gericht der Ansicht war, daß die von der Beklagten vertretene Auffassung Fragen nach der Auslegung von Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts aufwerfe, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt :
"1 ) War der Kläger berechtigt, mit Schreiben vom 3. Mai 1982 ein Angebot der Firmen UBEMI und AFM anzufordern, die zuvor an der durch die Verordnung ( EWG ) Nr. 3611/81 angeordneten Ausschreibung teilgenommen hatten?
2 ) Konnte der Kläger das vom 5. Mai 1982 datierende Angebot der Firma AFM mit Schreiben vom 10. Mai 1982 wirksam annehmen, obwohl Artikel 2 der Verordnung ( EWG ) Nr. 1058/82 vom 4. Mai 1982, aufgrund deren der Kläger tätig geworden sein will, vorsieht, daß diese Verordnung am Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften in Kraft tritt, und die Verordnung im Amtsblatt vom 6. Mai 1982 veröffentlicht worden war?"
7 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und der von den Parteien des Ausgangsverfahrens sowie der Kommission eingereichten Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.
8 Zunächst ist die Bedeutung der vorgelegten Fragen zu klären. Aus dem Vorlageurteil geht hervor, daß das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Auslegung des Gemeinschaftsrechts bittet, um die Rechtmässigkeit der Maßnahmen zur Durchführung der Verordnung vom 4. Mai 1982 im Hinblick auf folgende Punkte beurteilen zu können :
a ) die Berechtigung des Klägers, ein Angebot der beiden Firmen anzufordern, die zuvor ohne Erfolg an dem Ausschreibungsverfahren teilgenommen hatten;
b ) die Rechtmässigkeit der Anforderung und Einreichung von Angeboten vor Inkrafttreten der Verordnung vom 4. Mai 1982, mit der der Kläger mit der betreffenden Lieferung beauftragt worden war.
Zur ersten Frage
9 Hinsichtlich der ersten Frage ist zum einen darauf hinzuweisen, daß die mit der Bereitstellung beauftragte Stelle nach Artikel 9 der Verordnung Nr. 1974/80 "mehrere konkurrierende Bieter zur Angebotsabgabe" aufzufordern hat, und zum anderen darauf, daß weder die Grundverordnung noch die Verordnung, mit der die Eröffnung des Verfahrens der freihändigen Vergabe gebilligt wurde, den Ausschluß von Firmen vorsieht, die im Rahmen eines vorherigen Ausschreibungsverfahrens über dieselbe Maßnahme nicht berücksichtigt worden waren.
10 Da sowohl nach der Umgangssprache als auch nach der gebräuchlichen Rechtsterminologie anerkannt ist, daß "mehrere" die Bedeutung von "mehr als einer" hat, ergibt sich aus dem Vorstehenden, daß Artikel 9 der Verordnung Nr. 1974/80 der Kommission vom 25. Juli 1980 dahin auszulegen ist, daß er es der mit der Bereitstellung einer Nahrungsmittelhilfe durch ein Verfahren der freihändigen Vergabe beauftragten Stelle nicht verbietet, nur zwei konkurrierende Firmen zur Angebotsabgabe aufzufordern, die zuvor ohne Erfolg an einem Ausschreibungsverfahren über dieselbe Maßnahme teilgenommen haben.
Zur zweiten Frage
11 Hinsichtlich der zweiten Frage ist zunächst darauf hinzuweisen, daß nach Artikel 7 Absatz 4 der Verordnung Nr. 2750/75 des Rates vom 29. Oktober 1975 über die Kriterien für die Bereitstellung von Getreide für die Nahrungsmittelhilfe ( ABl. L 281, S. 89 ) die Kommission "entscheidet", von welchem Mitgliedstaat oder welchen Mitgliedstaaten eine gemeinschaftliche Sofortaktion durchzuführen ist, wenn eine solche Aktion einmal grundsätzlich beschlossen ist. Nach Artikel 7 Absatz 6 legt die Kommission die Einzelheiten der Durchführung von gemeinschaftlichen Sofortaktionen über die Lieferung von Getreide fest.
12 Die Kommission hat durch ihre Verordnung Nr. 1974/80 vom 22. Juli 1980 die Durchführungsbestimmungen zu dieser Ratsverordnung festgelegt. Nach Artikel 2 wird die Interventionsstelle des benannten Mitgliedstaats mit der Durchführung der Verfahren für die Bereitstellung und Lieferung des Erzeugnisses beauftragt; der Zuschlag für die Lieferung der Erzeugnisse wird im Wege der Ausschreibung erteilt. Artikel 2 Absatz 2 Unterabsatz 2 bestimmt : "Wird jedoch in aussergewöhnlichen Fällen im Sinne des Artikels 7 der Verordnung ( EWG ) Nr. 2750/75 und des Artikels 1 der Verordnung ( EWG ) Nr. 696/76 beschlossen, ein Verfahren der freihändigen Vergabe anzuwenden, so findet Titel III Anwendung." Nach Artikel 9 dieses Titels fordert die bezeichnete Interventionsstelle mehrere konkurrierende Bieter zur Angebotsabgabe auf; sie schließt den Vertrag auf der Grundlage der günstigsten Beträge. Nach Artikel 10 gelten bestimmte Vorschriften über das Ausschreibungsverfahren sinngemäß auch für das Verfahren der freihändigen Vergabe. Diese Vorschriften betreffen namentlich die Einreichung der Angebote nach Artikel 4 Absatz 3, die vom Bieter verlangten und dem Angebot beizufügenden Verpflichtungserklärungen gemäß Artikel 4 Absatz 4 Buchstaben b, c, d und e sowie die Stellung einer Kaution gemäß Artikel 5 der Verordnung Nr. 1974/80.
13 Somit kann in aussergewöhnlichen Fällen im Sinne des Artikels 7 der Verordnung Nr. 2750/75 und des Artikels 1 der Verordnung Nr. 696/76, in denen die Anwendung eines Verfahrens der freihändigen Vergabe beschlossen wird, ein flexibleres als das Ausschreibungsverfahren durchgeführt werden, um eine schnellere Lieferung der Erzeugnisse zu ermöglichen. Diese Flexibilität schließt namentlich die Möglichkeit, kürzere Fristen für die Einreichung der Angebote festzulegen, die Abkürzung der Verladefrist sowie die Möglichkeit ein, eine geringere Kaution als im Falle einer Ausschreibung festzulegen.
14 In diesem Rahmen ist die von der Kommission geteilte Auffassung des Klägers zu prüfen, ein Verfahren der freihändigen Vergabe weise zwei Phasen auf : eine erste, vorvertragliche, in der die Behörde keine Verpflichtung eingehe, die Verhandlungen eröffne und Angebote sammele, und eine zweite, vertragliche Phase, in der der Vertrag geschlossen werde. Da eine rasche Bereitstellung des Mehls vonnöten gewesen sei, habe der Kläger zur leichteren Durchführung des Verfahrens der freihändigen Vergabe bereits vor der Veröffentlichung und dem Inkrafttreten der Verordnung der Kommission von den beiden Bieterfirmen der ersten Ausschreibung Angebote anfordern dürfen. Diese Anforderung von Angeboten sei eine schlichte Vorbereitungsmaßnahme, die der Kläger habe treffen dürfen, weil das Verfahren der freihändigen Vergabe der Behörde, die dieses Verfahren anwende, dieselbe Freiheit einräume wie Privatpersonen. Im übrigen unterliege das sehr flexible Verfahren der freihändigen Vergabe keinerlei Formalismus.
15 Diesem Argument kann nicht gefolgt werden.
16 Das "Verfahren der freihändigen Vergabe" besteht im ganzen betrachtet aus mehreren untereinander verknüpften wesentlichen Bestandteilen. Es beginnt mit dem Auftrag an die Interventionsstelle zur Durchführung des Verfahrens, setzt sich mit der Phase fort, in der Angebote angefordert und eingereicht werden, denen die vom Bieter verlangten Verpflichtungserklärungen beigefügt sein müssen, und in der eine Kaution zu stellen ist, deren Höhe in der Verordnung über die Eröffnung des Verfahrens festgelegt wird. Das Verfahren schließt mit der Annahme des günstigsten Angebots durch die Interventionsstelle ab.
17 Dies sind auch die Bestandteile, die in der Verordnung Nr. 1058/82 vom 4. Mai 1982 aufgeführt sind, die das Verfahren der freihändigen Vergabe des vorliegenden Falles betrifft.
18 Hieraus ergibt sich, daß das Verfahren der freihändigen Vergabe nur bei Beachtung des Regelungskomplexes der Artikel 9 und 10 der Verordnung Nr. 1974/80 rechtmässig ist.
19 Somit ist die mit der Bereitstellung beauftragte Stelle, solange die Verordnung, mit der die Eröffnung des Verfahrens der freihändigen Vergabe gebilligt und die Höhe der Kaution festgelegt wird, noch nicht in Kraft getreten ist, nicht berechtigt, Angebote über die bereitzustellenden Erzeugnisse anzufordern oder entgegenzunehmen.
20 Danach ist auf die zweite Frage zu antworten, daß die mit der Bereitstellung von zur Durchführung einer Nahrungsmittelaktion bestimmten Erzeugnissen beauftragte Stelle nach der Verordnung Nr. 1974/80 der Kommission in Verbindung mit der Verordnung Nr. 2750/75 des Rates vor Inkrafttreten derjenigen Verordnung der Kommission, mit der die Anwendung eines Verfahrens der freihändigen Vergabe für diese Bereitstellung gebilligt wird, Angebote von an der Lieferung der Erzeugnisse interessierten Unternehmen weder anfordern noch entgegennehmen darf.
Kostenentscheidung:
Kosten
21 Die Auslagen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben hat, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren vor dem Gerichtshof ein Zwischenstreit in dem vor dem innerstaatlichen Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Tenor:
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF ( Erste Kammer )
auf die ihm vom Tribunal de commerce Brüssel mit Urteil vom 10. März 1987 vorgelegte Frage für Recht erkannt :
1 ) Artikel 9 der Verordnung Nr. 1974/80 der Kommission vom 25. Juli 1980 ist dahin auszulegen, daß er es der mit der Bereitstellung einer Nahrungsmittelhilfe durch ein Verfahren der freihändigen Vergabe beauftragten Stelle nicht verbietet, nur zwei konkurrierende Firmen zur Angebotsabgabe aufzufordern, die zuvor erfolglos an einem Ausschreibungsverfahren über dieselbe Maßnahme teilgenommen haben.
2 ) Die mit der Bereitstellung von zur Durchführung einer Nahrungsmittelaktion bestimmten Erzeugnissen beauftragte Stelle darf nach der Verordnung Nr. 1974/80 der Kommission in Verbindung mit der Verordnung Nr. 2750/75 des Rates vom 29. Oktober 1975 vor Inkrafttreten derjenigen Verordnung der Kommission, mit der die Anwendung eines Verfahrens der freihändigen Vergabe für diese Bereitstellung gebilligt wird, Angebote von an der Lieferung der Erzeugnisse interessierten Unternehmen weder anfordern noch entgegennehmen.
Ende der Entscheidung
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