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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 08.03.1988
Aktenzeichen: 80/87
Rechtsgebiete: WWV, Richtlinie 79/7
Vorschriften:
WWV Art. 13 Abs. 1 Buchstabe l | |
Richtlinie 79/7 Art.4 Abs. 1 |
1. Die Richtlinie 79/7 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, daß sie es den Mitgliedstaaten nicht gestattet, in die zu ihrer Durchführung erlassenen innerstaatlichen Vorschriften eine Übergangsbestimmung aufzunehmen, die die Folgen der Abschaffung einer die Frauen bei der Gewährung von Leistungen diskriminierenden Norm in der Weise regelt, daß die Wirkungen dieser Norm auch nach dem Tag des Fristablaufs bestehenbleiben, die Artikel 8 den Mitgliedstaaten für die Durchführung der Richtlinie setzt.
2. Artikel 8 der Richtlinie 79/7 ist dahin auszulegen, daß ein Mitgliedstaat, der nach dem Tag des Ablaufs der in der Richtlinie gesetzten Frist Durchführungsmaßnahmen erlässt, deren Inkrafttreten rückwirkend auf diesen Tag festsetzen kann, sofern er alle Rechte beachtet, die Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie den einzelnen von diesem Zeitpunkt an gewährt.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (ZWEITE KAMMER) VOM 8. MAERZ 1988. - A. DIK, A. MENKUTOS-DEMIRCI UND H. G. W. LAAR-VREEMAN GEGEN COLLEGE VAN BURGEMEESTER EN WETHOUDERS. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG, VORGELEGT VOM RAAD VAN BEROEP ARNHEM. - SOZIALE SICHERHEIT - GLEICHBEHANDLUNG VON MAENNERN UND FRAUEN - RICHTLINIE 79/7. - RECHTSSACHE 80/87.
Entscheidungsgründe:
1 Der Raad van Beroep Arnheim hat mit Beschluß vom 19. Februar 1987, beim Gerichtshof eingegangen am 19. März 1987, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung der Richtlinie 79/7 des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit ( ABl. 1979, L 6, S. 24 ) zur Vorabentscheidung vorgelegt, mit denen um die Bestimmung des zeitlichen Anwendungsbereichs dieser Richtlinie ersucht wird.
2 Diese Fragen stellen sich im Rahmen dreier Rechtsstreitigkeiten zwischen Frau Dik und Frau Menkutos-Demirci und dem College van Burgemeester en Wethouders Arnheim sowie zwischen Frau Laar-Vreeman und dem College van Burgemeester en Wethouders Winterswijk, in denen es darum geht, ob es mit Artikel 4 Absatz 1 und Artikel 8 der Richtlinie 79/7 vereinbar ist, daß eine diskriminierende Vorschrift, die rückwirkend zum 23. Dezember 1984 - dem Datum, an dem die den Mitgliedstaaten für die Anpassung ihrer Vorschriften an die Richtlinie gesetzte Frist abgelaufen war - aufgehoben wurde, kraft einer innerstaatlichen Übergangsbestimmung auch nach diesem Zeitpunkt ihre Wirkung beibehält.
3 Aus den Akten geht hervor, daß die diskriminierende Vorschrift, nämlich Artikel 13 Absatz 1 Buchstabe l der "Wet Werkloosheidsvoorziening" ( niederländisches Gesetz über die Arbeitslosenunterstützung; nachstehend : "WWV "), wonach eine verheiratete Arbeitnehmerin, die weder aufgrund der vom zuständigen Minister nach Anhörung des Zentralausschusses erlassenen Bestimmungen als Familienernährerin ((" kostwinster ")) angesehen werden kann noch dauernd von ihrem Ehemann getrennt lebt, keinen Leistungsanspruch hat, durch das Gesetz vom 24. April 1985 ( Staatsblad 230 ) rückwirkend zum 23. Dezember 1984 aufgehoben wurde. Artikel II des letztgenannten Gesetzes enthält jedoch eine Übergangsbestimmung, der zufolge die Aufhebung von Artikel 13 Absatz 1 Buchstabe l WWV nicht für Arbeitnehmer gilt, die vor dem 23. Dezember 1984 arbeitslos geworden sind, es sei denn, daß sie zu diesem Zeitpunkt Leistungen aufgrund der "Werkloosheidswet" ( Gesetz über die Arbeitslosigkeit; nachstehend : "WW ") erhalten haben.
4 Alle drei Klägerinnen der Ausgangsverfahren waren vor dem 23. Dezember 1984 arbeitslos geworden und hatten vor diesem Datum ihren Anspruch auf Leistungen nach der WW verloren, da die für die Gewährung dieser Leistungen geltende Hoechstdauer abgelaufen war. Aufgrund von Artikel 13 Absatz 1 Buchstabe l WWV stand ihnen nach dem genannten Datum kein Anspruch auf Leistungen nach der WWV zu. Ihrer Auffassung nach lässt die vorerwähnte Übergangsbestimmung die diskriminierende Grundlage des Anspruchs auf Arbeitslosenunterstützung zum Nachteil derjenigen verheirateten Frauen fortbestehen, die vor dem 23. Dezember 1984 arbeitslos geworden sind und ihren Anspruch auf Leistungen nach der WW eingebüsst haben und, wenn es Artikel 13 Absatz 1 Buchstabe l nie gegeben hätte, Anspruch auf Leistungen nach der WWV gehabt hätten.
5 Da der Raad van Beroep Arnheim den zeitlichen Anwendungsbereich der Richtlinie 79/7 im Hinblick auf eine derartige Übergangsmaßnahme für ungewiß hält, hat er das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die beiden folgenden Fragen vorgelegt :
"1 ) Stellt es die Richtlinie 79/7/EWG in das Ermessen der Mitgliedstaaten, in das Gesetz zur Durchführung der Richtlinie eine Übergangsbestimmung aufzunehmen, wonach für eine verheiratete Frau, die vor dem 23. Dezember 1984 arbeitslos geworden ist, auch nach diesem Datum die Voraussetzung bestehenbleibt, daß sie die Familienernährerin ist?
2 ) Ist es mit der Richtlinie vereinbar, wenn einer Übergangsvorschrift, wie der in Frage 1 bezeichneten, rückwirkende Kraft bis zu dem Zeitpunkt beigelegt wird, an dem die in Artikel 8 Absatz 1 der Richtlinie genannte Frist abgelaufen ist?"
6 Wegen weiterer Einzelheiten der einschlägigen innerstaatlichen Vorschriften und der vor dem Gerichtshof abgegebenen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.
Zur ersten Frage
7 Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 verbietet im Bereich der sozialen Sicherheit jegliche unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, insbesondere unter Bezugnahme auf den Ehe - und Familienstand, und zwar im besonderen betreffend den Anwendungsbereich der Systeme der sozialen Sicherheit und die Bedingungen für den Zugang zu diesen Systemen. Zu diesem Zweck bestimmt Artikel 8 der Richtlinie, daß die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechts - und Verwaltungsvorschriften in Kraft setzen, um der Richtlinie binnen sechs Jahren nach ihrer Bekanntgabe, d. h. bis zum 23. Dezember 1984, nachzukommen. Nach Artikel 5 treffen die Mitgliedstaaten die notwendigen Maßnahmen, um sicherzustellen, daß die mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung unvereinbaren Rechts - und Verwaltungsvorschriften beseitigt werden.
8 Wie der Gerichtshof in den Urteilen vom 4. Dezember 1986 in der Rechtssache 71/85 ( FNV, Slg. 1986, 3855 ) und vom 24. März 1987 in der Rechtssache 286/85 ( McDermott und Cotter, Slg. 1987, 1453 ) entschieden hat, ist Artikel 4 Absatz 1 für sich allein betrachtet und unter Berücksichtigung der Zielsetzung der Richtlinie 79/7 und ihres Inhalts hinreichend genau, um von einem einzelnen in Anspruch genommen und von den Gerichten angewandt zu werden. Zudem räumt Artikel 5 der Richtlinie den Mitgliedstaaten zwar ein Ermessen in bezug auf die Mittel ein, schreibt aber das Ziel vor, das mit diesen Mitteln erreicht werden muß, nämlich die Beseitigung aller mit dem Grundsatz der Gleichberechtigung unvereinbaren Vorschriften.
9 Weiterhin hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 24. Juni 1987 in der Rechtssache 384/85 ( Borrie Clarke, Slg. 1987, 2865 ) festgestellt, daß die Richtlinie 79/7 keine Ausnahme vom Gleichbehandlungsgrundsatz vorsieht, die die Verlängerung der diskriminierenden Wirkungen früherer innerstaatlicher Vorschriften erlauben würde. Hieraus folgt, daß ein Mitgliedstaat nach dem 23. Dezember 1984 keine Ungleichbehandlungen fortbestehen lassen darf, die darauf zurückzuführen sind, daß die Voraussetzungen für das Entstehen des Leistungsanspruchs bereits vor diesem Datum galten. Daß sich eine solche Ungleichbehandlung aus Übergangsbestimmungen ergibt, führt nicht zu einer anderen Beurteilung.
10 Aus den genannten Urteilen vom 4. Dezember 1986 und vom 24. Juni 1987 ergibt sich ferner, daß Frauen aufgrund von Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie seit dem 23. Dezember 1984 einen Anspruch darauf haben, daß sie ebenso wie Männer, die sich in der gleichen Lage befinden, behandelt werden und daß auf sie die gleiche Regelung Anwendung findet, wobei diese Regelung, solange die Richtlinie nicht durchgeführt ist, das einzig gültige Bezugssystem bleibt. Das bedeutet im vorliegenden Falle, daß dann, wenn ein Mann, der vor dem 23. Dezember 1984 arbeitslos geworden ist und seinen Anspruch auf Leistungen nach der WW eingebüsst hat, ohne daß er vor diesem Zeitpunkt Leistungen nach der WWV erhalten hätte, nach dem 23. Dezember 1984 Anspruch auf Leistungen nach der WWV hätte, einer Frau, die sich in der gleichen Lage befindet, ein derartiger Anspruch zustuende, und zwar ohne daß sie eine vor diesem Zeitpunkt ausschließlich für verheiratete Frauen geltende zusätzliche Voraussetzung erfuellen müsste.
11 Auf die erste Frage ist somit zu antworten, daß die Richtlinie 79/7 dahin auszulegen ist, daß sie es den Mitgliedstaaten nicht gestattet, in die zu ihrer Durchführung erlassenen Vorschriften eine Übergangsbestimmung aufzunehmen, kraft deren der Leistungsanspruch einer verheirateten Frau, die vor dem 23. Dezember 1984 arbeitslos geworden ist, auch nach diesem Datum an die Voraussetzung geknüpft bleibt, daß sie die Familienernährerin ist.
Zur zweiten Frage
12 Die zweite Frage des Raad van Beroep geht im wesentlichen dahin, ob Artikel 8 der Richtlinie in dem Sinne auszulegen ist, daß ein Mitgliedstaat, der nach Ablauf der in der Richtlinie gesetzten Frist Durchführungsmaßnahmen erlässt, deren Inkrafttreten rückwirkend auf den Tag des Ablaufs dieser Frist festgesetzt ist, diese Bestimmung korrekt anwendet.
13 Wie die Kommission zutreffend ausgeführt hat, wird - falls die innerstaatlichen Durchführungsmaßnahmen verspätet, also nach Ablauf der in Rede stehenden Frist erlassen werden - das gleichzeitige Inkrafttreten der Richtlinie 79/7 in allen Mitgliedstaaten dadurch sichergestellt, daß die genannten Maßnahmen rückwirkend zum 23. Dezember 1984 in Kraft treten.
14 Es ist jedoch klarzustellen, daß solche verspätet getroffenen Maßnahmen in vollem Umfang die Rechte der einzelnen beachten müssen, die in einem Mitgliedstaat aufgrund von Artikel 4 Absatz 1 mit dem Ablauf der den Mitgliedstaaten für die Anpassung ihrer Vorschriften an die Richtlinie gesetzten Frist entstanden sind ( siehe die genannten Urteile vom 4. Dezember 1986 und vom 24. Juni 1987 ).
15 Auf die zweite Frage ist hiernach zu antworten, daß Artikel 8 der Richtlinie 79/7 dahin auszulegen ist, daß ein Mitgliedstaat, der nach Ablauf der in der Richtlinie gesetzten Frist Durchführungsmaßnahmen erlässt, deren Inkrafttreten rückwirkend auf den Tag des Ablaufs dieser Frist festsetzen kann, sofern er alle Rechte beachtet, die für die einzelnen in den Mitgliedstaaten aufgrund von Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie mit dem Ablauf der Frist entstanden sind.
Kostenentscheidung:
Kosten
16 Die Auslagen der niederländischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem innerstaatlichen Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten. Die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Tenor:
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF ( Zweite Kammer )
auf die ihm vom Raad van Beroep Arnheim mit Beschluß vom 19. Februar 1987 vorgelegten Fragen für Recht erkannt :
1 ) Die Richtlinie 79/7 des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, daß sie es den Mitgliedstaaten nicht gestattet, in die zu ihrer Durchführung erlassenen innerstaatlichen Vorschriften eine Übergangsbestimmung aufzunehmen, kraft deren der Leistungsanspruch einer verheirateten Frau, die vor dem 23. Dezember 1984 arbeitslos geworden ist, auch nach diesem Datum an die Voraussetzung geknüpft bleibt, daß sie die Familienernährerin ist.
2 ) Artikel 8 der Richtlinie 79/7 ist dahin auszulegen, daß ein Mitgliedstaat, der nach Ablauf der in der Richtlinie gesetzten Frist Durchführungsmaßnahmen erlässt, deren Inkrafttreten rückwirkend auf den Tag des Ablaufs dieser Frist festsetzen kann, sofern er alle Rechte beachtet, die für die einzelnen in den Mitgliedstaaten aufgrund von Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie mit dem Ablauf der Frist entstanden sind.
Ende der Entscheidung
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