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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 08.03.1988
Aktenzeichen: 9/87
Rechtsgebiete:


Vorschriften:

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Der Begriff "Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag" in Artikel 5 Nr. 1 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil - und Handelssachen ist als autonomer Begriff anzusehen, bei dessen Auslegung im Rahmen der Anwendung des Übereinkommens in erster Linie die Systematik und die Zielsetzungen dieses Übereinkommens berücksichtigt werden müssen, damit dessen volle Wirksamkeit sichergestellt wird.

Ein Rechtsstreit über die mißbräuchliche Auflösung eines Vertrages über eine selbständige Handelsvertretung und über aus diesem resultierende Provisionen hat einen "Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag" im Sinne des Artikels 5 Nr. 1 des Übereinkommens zum Gegenstand.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (SECHSTE KAMMER) VOM 8. MAERZ 1988. - S. P. R. L. ARCADO GEGEN S. A. HAVILAND. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG, VORGELEGT VON DER COUR D'APPEL BRUESSEL. - BRUESSELER UEBEREINKOMMEN - GERICHTLICHE ZUSTAENDIGKEIT - VERTRAGSKLAGEN. - RECHTSSACHE 9/87.

Entscheidungsgründe:

1 Die Cour d' appel Brüssel hat mit Beschluß vom 11. September 1986, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Januar 1987, gemäß dem Protokoll vom 3. Juni 1971 betreffend die Auslegung des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil - und Handelssachen ( im folgenden : Übereinkommen ) durch den Gerichtshof eine Frage nach der Auslegung von Artikel 5 Nr. 1 des Übereinkommens zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit über die Erfuellung eines Vertrages über eine ( selbständige ) Handelsvertretung, mit dem die Haviland SA, Limoges ( Frankreich ), der SA Agecobel mit Sitz in Belgien den Vertrieb von Porzellanwaren in Belgien und Luxemburg übertragen hatte.

3 Haviland kündigte diesen Vertrag. Deswegen erhob Agecobel gegen Haviland am 13. November 1978 vor dem Tribunal de commerce Brüssel Klage auf Schadensersatz wegen mißbräuchlicher Kündigung und auf ausstehende Provisionen. Haviland rügte die örtliche Unzuständigkeit des Gerichts : Die Klage beruhe auf einer "unerlaubten Handlung oder einer Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt" und am Ort der Zustellung der Kündigung, also an ihrem Gesellschaftssitz, erfolgt sei.

4 Mit Urteil vom 26. Mai 1982 verwarf das Gericht die Einrede der Unzuständigkeit mit der Begründung, der Rechtsstreit gehe auf einen Vertrag zurück; es sei daher gemäß Artikel 5 Nr. 1 des Übereinkommens zuständig. Mit Urteil vom 22. Juni 1983 verurteilte das Gericht Haviland zur Zahlung von Schadensersatz wegen bedenkenlosen Vertragsbruchs zur Unzeit und von ausstehenden Provisionen. Gleichzeitig gab es der Widerklage von Haviland statt, verurteilte Agecobel zur Begleichung offener Rechnungen und ordnete die Aufrechnung an.

5 In ihrer Berufung an die Cour d' appel Brüssel beantragte Agecobel eine Erhöhung des zugesprochenen Schadensersatzes und die Verurteilung von Haviland zur Zahlung von Prozeßzinsen. In ihrer Anschlußberufung bestritt Haviland unter Berufung auf Artikel 5 Nr. 3 des Übereinkommens die Zuständigkeit der belgischen Gerichte. Mit am 5. Juni 1985 bei der Kanzlei der Cour d' appel eingegangenem Schriftsatz trat die SPRL Arcado mit Sitz in Belgien als Rechtsnachfolgerin von Agecobel an deren Stelle in das Verfahren ein.

6 Die Cour d' appel erwog, daß der Anspruch auf Provision zwar offensichtlich vertraglicher Natur sei, daß aber gleichwohl zu entscheiden sei, ob der Anspruch auf Schadensersatz wegen bedenkenloser Vertragsauflösung zur Unzeit unter den Begriff "Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag" im Sinne des - autonom ausgelegten - Artikels 5 Nr. 1 des Übereinkommens falle.

7 Demgemäß hat die Cour d' appel beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen :

" Hat ein Rechtsstreit über die mißbräuchliche Auflösung eines Vertrages über eine selbständige Handelsvertretung und über aus diesem resultierende Provisionen einen 'Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag' im Sinne des Artikels 5 Nr. 1 des Brüsseler Übereinkommens vom 27. September 1968 zum Gegenstand?"

8 Eine ausführlichere Darstellung des Sachverhalts, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen der Parteien des Ausgangsverfahrens, der Kommission, der Italienischen Republik und des Vereinigten Königreichs findet sich im Sitzungsbericht, auf den verwiesen wird. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

9 Nach Artikel 5 Nr. 1 des Übereinkommens kann eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats hat, in Abweichung von der allgemeinen Zuständigkeitsbestimmung des Artikels 2 Absatz 1 des Übereinkommens in einem anderen Vertragsstaat verklagt werden, "wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem die Verpflichtung erfuellt worden ist oder zu erfuellen wäre ".

10 Wie der Gerichtshof im Urteil vom 22. März 1983 in der Rechtssache 34/82 ( Peters/ZNAV, Slg. 1983, 987 ) entschieden hat, dient der Begriff "Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag" als Kriterium zur Abgrenzung des Anwendungsbereichs einer der besonderen Zuständigkeitsregeln, auf die der Kläger zurückgreifen kann. Dieser Begriff ist in Anbetracht der Zielsetzungen und des Gesamtzusammenhangs des Übereinkommens nicht als blosse Verweisung auf das innerstaatliche Recht eines der beteiligten Staaten zu verstehen, denn es muß sichergestellt werden, daß sich aus dem Übereinkommen für die Vertragsstaaten und die betroffenen Personen so weit wie möglich gleiche und einheitliche Rechte und Pflichten ergeben.

11 Infolgedessen ist der Begriff "Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag" als autonomer Begriff anzusehen, bei dessen Auslegung im Rahmen der Anwendung des Übereinkommens in erster Linie die Systematik und die Zielsetzungen dieses Übereinkommens berücksichtigt werden müssen, damit dessen volle Wirksamkeit sichergestellt wird.

12 Ein Anspruch auf Zahlung von Provisionen aufgrund eines Handelsvertretervertrags beruht ganz zweifellos auf eben diesem Vertrag und fällt damit unter den Begriff "Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag" im Sinne des Artikels 5 Nr. 1 des Übereinkommens.

13 Dasselbe muß gelten für einen Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz wegen mißbräuchlicher Auflösung eben diesen Vertrages, da ein solcher Anspruch seinen Grund in der Nichteinhaltung einer Vertragspflicht findet.

14 Insbesondere die vertragliche Natur des Anspruchs eines selbständigen Handelsvertreters auf Einhaltung einer Kündigungsfrist und folglich des Schadensersatzes wegen Nichteinhaltung dieser Frist ist in den Artikeln 15 und 17 der Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter ( ABl. L 382, S. 17 ) festgelegt.

15 Ferner bestätigt Artikel 10 des Übereinkommens über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht vom 19. Juni 1980 ( ABl. L 266, S. 1 ) den vertraglichen Charakter einer Klage der hier fraglichen Art, da er unter den Geltungsbereich des auf den Vertrag anzuwendenden Rechts die Folgen der vollständigen oder teilweisen Nichterfuellung der durch ihn begründeten Verpflichtungen und folglich die vertragliche Haftung derjenigen Partei, der die Nichterfuellung zur Last fällt, begreift.

16 Auf die Vorlagefrage ist daher zu antworten, daß ein Rechtsstreit über die mißbräuchliche Auflösung eines Vertrages über eine selbständige Handelsvertretung und über aus diesem resultierende Provisionen einen "Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag" im Sinne des Artikels 5 Nr. 1 des Übereinkommens vom 27. September 1968 zum Gegenstand hat.

Kostenentscheidung:

Kosten

17 Die Auslagen der Italienischen Republik, des Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit. Die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF ( Sechste Kammer )

auf die ihm von der Cour d' appel Brüssel mit Urteil vom 11. September 1986 vorgelegte Frage für Recht erkannt :

Ein Rechtsstreit über die mißbräuchliche Auflösung eines Vertrages über eine selbständige Handelsvertretung und über aus diesem resultierende Provisionen hat einen "Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag" im Sinne des Artikels 5 Nr. 1 des Brüsseler Übereinkommens vom 27. September 1968 zum Gegenstand.

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