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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 07.03.2002
Aktenzeichen: C-107/00
Rechtsgebiete: Verordnung (EWG) Nr. 1408/71


Vorschriften:

Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 Art. 46d
Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 Art. 46a
Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 Art. 46b
Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 Art. 46c
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Die Regelung eines Mitgliedstaats über die Berechnung von Hinterbliebenenrenten, die eine Herabsetzung der für die Kumulierung einer Alters- und einer Hinterbliebenenrente festgelegten Obergrenze vorsieht, wenn der hinterbliebene Ehegatte Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente zu Lasten eines anderen Mitgliedstaats hat, stellt eine Kürzungsbestimmung im Sinne der Artikel 46a und 46b der Verordnung Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung Nr. 1248/92 geänderten Fassung dar.

Eine nationale Vorschrift ist nämlich als Kürzungsbestimmung im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 anzusehen, wenn die von ihr vorgeschriebene Berechnung bewirkt, dass der Rentenbetrag, auf den der Betroffene Anspruch hat, deshalb gekürzt wird, weil er in einem anderen Mitgliedstaat eine Leistung erhält.

( vgl. Randnrn. 16, 20, Tenor 1 )

2. Die Artikel 46a und 46b der Verordnung Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung Nr. 1248/92 geänderten Fassung stehen der Anwendung der Regelung eines Mitgliedstaats entgegen, die eine Antikumulierungsbestimmung enthält, wonach eine in diesem Mitgliedstaat bezogene Hinterbliebenenrente wegen des Vorliegens einer nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats erworbenen Hinterbliebenenrente zu kürzen ist, wenn sich die nach dieser nationalen Regelung geschuldeten Leistungen als weniger günstig erweisen als die nach Artikel 46 dieser Verordnung bestimmten Leistungen.

Der zuständige Träger eines Mitgliedstaats hat nämlich einen Vergleich zwischen den Leistungen, die allein nach dem nationalen Recht einschließlich seiner Antikumulierungsbestimmungen geschuldet würden, und den Leistungen anzustellen, die nach dem Gemeinschaftsrecht geschuldet würden, und dem Wanderarbeitnehmer die Leistung zu gewähren, deren Betrag am höchsten ist.

( vgl. Randnrn. 29-30, Tenor 2 )


Urteil des Gerichtshofes (Zweite Kammer) vom 7. März 2002. - Caterina Insalaca gegen Office national des pensions (ONP). - Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal du travail de Mons - Belgien. - Soziale Sicherheit - Artikel 46 bis 46c der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 - Nationale Antikumulierungsvorschriften - Leistungen gleicher Art. - Rechtssache C-107/00.

Parteien:

In der Rechtssache C-107/00

betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG vom Tribunal du travail Mons (Belgien) in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit

Caterina Insalaca

gegen

Office national des pensions (ONP)

"vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 46a und 46b der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihrer durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EWG) Nr. 1248/92 des Rates vom 30. April 1992 (ABl. L 136, S. 7),

erlässt

DER GERICHTSHOF

(Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin N. Colneric sowie der Richter R. Schintgen (Berichterstatter) und V. Skouris,

Generalanwalt: P. Léger

Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler

unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen

- von Frau Insalaca, vertreten durch D. Rossini, Gewerkschaftsvertreter,

- des Office national des pensions (ONP), vertreten durch G. Perl als Bevollmächtigten,

- der belgischen Regierung, vertreten durch A. Snoecx als Bevollmächtigte,

- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch P. Hillenkamp und H. Michard als Bevollmächtigte,

aufgrund des Sitzungsberichts,

nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von Frau Insalaca, vertreten durch D. Rossini, des Office national des pensions (ONP), vertreten durch J.-P. Lheureux als Bevollmächtigten, und der Kommission, vertreten durch H. Michard, in der Sitzung vom 5. April 2001,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. Oktober 2001,

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunal du travail Mons hat mit Urteil vom 13. März 2000, beim Gerichtshof eingegangen am 22. März 2000, gemäß Artikel 234 EG zwei Fragen nach der Auslegung der Artikel 46a und 46b der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EWG) Nr. 1248/92 des Rates vom 30. April 1992 (ABl. L 136, S. 7, im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71), zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Frau Insalaca und dem Office national des pensions (ONP) über die Berücksichtigung einer italienischen Hinterbliebenenrente bei der Festsetzung der Obergrenze der ihr zustehenden belgischen Altersrente und Hinterbliebenenrente.

Rechtlicher Rahmen

Gemeinschaftsrecht

3 Artikel 12 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt:

"Ist in den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats für den Fall des Zusammentreffens einer Leistung mit anderen Leistungen der sozialen Sicherheit oder mit jederlei sonstigen Einkünften vorgesehen, dass die Leistung gekürzt, zum Ruhen gebracht oder entzogen wird, so sind, sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, diese Vorschriften einem Berechtigten gegenüber auch dann anwendbar, wenn es sich um Leistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats erworben wurden, oder um Einkünfte handelt, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats bezogen werden."

4 Artikel 46 Absätze 1 bis 3 der Verordnung Nr. 1408/71 sieht vor:

"(1) Sind die Voraussetzungen für den Leistungsanspruch nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats... erfuellt, so gilt Folgendes:

a) Der zuständige Träger berechnet den Leistungsbetrag, der wie folgt geschuldet würde:

i) allein nach den von ihm anzuwendenden Rechtsvorschriften,

ii) nach Absatz 2.

...

(2) Sind die Voraussetzungen für den Leistungsanspruch nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nur nach Anwendung des Artikels 45 und/oder des Artikels 40 Absatz 3 erfuellt, so gilt Folgendes:

a) Der zuständige Träger berechnet den theoretischen Betrag der Leistung, auf die die betreffende Person Anspruch hätte, wenn alle nach den für den Arbeitnehmer oder Selbständigen geltenden Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten zurückgelegten Versicherungs- und/oder Wohnzeiten nur in dem betreffenden Staat und nach den für diesen Träger zum Zeitpunkt der Feststellung der Leistung geltenden Rechtsvorschriften zurückgelegt worden wären. Ist nach diesen Rechtsvorschriften der Betrag der Leistung von der Dauer der zurückgelegten Zeiten unabhängig, so gilt dieser Betrag als theoretischer Betrag.

b) Der zuständige Träger ermittelt sodann den tatsächlich geschuldeten Betrag auf der Grundlage des unter Buchstabe a) genannten theoretischen Betrages nach dem Verhältnis zwischen den nach seinen Rechtsvorschriften vor Eintritt des Versicherungsfalls zurückgelegten Versicherungs- oder Wohnzeiten und den gesamten nach den Rechtsvorschriften aller beteiligten Mitgliedstaaten vor Eintritt des Versicherungsfalls zurückgelegten Versicherungs- und Wohnzeiten.

(3) Die betreffende Person hat gegen den zuständigen Träger jedes beteiligten Mitgliedstaats Anspruch auf den höchsten nach den Absätzen 1 und 2 errechneten Betrag, wobei gegebenenfalls alle Kürzungs-, Ruhens- oder Entziehungsbestimmungen der Rechtsvorschriften, aufgrund deren diese Leistung geschuldet wird, zur Anwendung kommen.

Ist dies der Fall, erstreckt sich der vorzunehmende Vergleich auf die nach Anwendung dieser Bestimmungen ermittelten Beträge."

5 Artikel 46a der Verordnung Nr. 1408/71 mit allgemeinen Vorschriften über die nach den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten auf Leistungen bei Invalidität, Alter oder Tod anzuwendenden Kürzungs-, Ruhens- oder Entziehungsbestimmungen sieht vor:

"(1) [D]as Zusammentreffen von Leistungen gleicher Art [bedeutet]: jedes Zusammentreffen von Leistungen bei Invalidität, Alter oder für Hinterbliebene, die auf der Grundlage der von ein- und derselben Person zurückgelegten Versicherungs- und/oder Wohnzeiten berechnet oder gewährt wurden.

(2) [D]as Zusammentreffen von Leistungen unterschiedlicher Art [bedeutet]: jedes Zusammentreffen von Leistungen, die im Sinne des Absatzes 1 nicht als Leistungen gleicher Art betrachtet werden können.

(3) Für die Anwendung der Kürzungs-, Ruhens- und Entziehungsbestimmungen nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats bei Zusammentreffen einer Leistung bei Invalidität, Alter oder für Hinterbliebene mit einer Leistung gleicher Art oder einer Leistung unterschiedlicher Art oder mit sonstigen Einkünften gelten folgende Vorschriften:

a) Die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats erworbenen Leistungen oder die in einem anderen Mitgliedstaat erzielten Einkünfte werden nur berücksichtigt, wenn die Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats die Berücksichtigung solcher im Ausland erworbenen Leistungen oder dort erzielter Einkünfte vorsehen.

..."

6 Artikel 46b dieser Verordnung, der besondere Vorschriften für das Zusammentreffen von Leistungen gleicher Art enthält, die nach den Rechtsvorschriften von zwei oder mehr Mitgliedstaaten geschuldet werden, lautet:

"(1) Die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vorgesehenen Kürzungs-, Ruhens- oder Entziehungsbestimmungen gelten nicht für eine nach Artikel 46 Absatz 2 berechnete Leistung.

(2) Die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats über die Kürzung, das Ruhen oder die Entziehung einer Leistung dürfen auf eine nach Artikel 46 Absatz 1 Buchstabe a) Ziffer i) berechnete Leistung nur dann angewandt werden, wenn es sich:

a) um eine Leistung handelt, deren Höhe von der Dauer der zurückgelegten Versicherungs- oder Wohnzeiten unabhängig ist und die in Anhang IV Teil D aufgeführt ist, oder

b) um eine Leistung handelt, deren Höhe aufgrund einer fiktiven Zeit bestimmt wird, die als zwischen dem Eintritt des Versicherungsfalls und einem späteren Zeitpunkt zurückgelegt betrachtet wird. In diesem letzteren Fall finden die genannten Vorschriften Anwendung bei Zusammentreffen einer solchen Leistung

i) mit einer Leistung gleichen Typs, außer wenn ein Abkommen zwischen zwei oder mehr Mitgliedstaaten zur Vermeidung einer zwei- oder mehrfachen Berücksichtigung der gleichen fiktiven Zeit geschlossen wurde, oder

ii) mit einer Leistung der in Buchstabe a) genannten Art.

..."

7 Artikel 46c der Verordnung Nr. 1408/71 enthält besondere Vorschriften für das Zusammentreffen einer oder mehrerer Leistungen nach Artikel 46a Absatz 1 mit einer oder mehreren Leistungen unterschiedlicher Art oder mit sonstigen Einkünften, wenn zwei oder mehr Mitgliedstaaten beteiligt sind.

Nationales Recht

8 Nach Artikel 20 Absatz 1 der Königlichen Verordnung Nr. 50 vom 24. Oktober 1967 über die Alters- und Hinterbliebenenrente der Arbeitnehmer (Moniteur belge vom 27. Oktober 1967) kann "die Hinterbliebenenrente... nur bis zu der vom König festgesetzten Höhe mit einer Altersrente oder einer sonstigen Vergünstigung, die an die Stelle einer Altersrente tritt, kumuliert werden".

9 Artikel 52 Absatz 1 der Königlichen Verordnung vom 21. Dezember 1967 zur allgemeinen Regelung des Alters- und Hinterbliebenenrentensystems für Arbeitnehmer (Moniteur belge vom 16. Januar 1968) in der durch die Königliche Verordnung vom 9. Juli 1997 (Moniteur belge vom 9. August 1997) geänderten Fassung (im Folgenden: Königliche Verordnung vom 21. Dezember 1967) bestimmt:

"Hat der hinterbliebene Ehegatte Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente nach dem Rentensystem für Arbeitnehmer sowie auf eine oder mehrere Altersrenten oder eine an deren Stelle tretende sonstige Vergünstigung nach dem Rentensystem für Arbeitnehmer oder nach einem oder mehreren anderen Rentensystemen, so kann die Hinterbliebenenrente mit den genannten Altersrenten nur bis zu einer Summe von 110 % des Betrages der Hinterbliebenenrente kumuliert werden, die dem hinterbliebenen Ehegatten für eine vollständige Versicherungslaufbahn bewilligt worden wäre.

Hat der hinterbliebene Ehegatte im Sinne von Unterabsatz 1 auch Anspruch auf eine oder mehrere Hinterbliebenenrenten oder an deren Stelle tretende Vergünstigungen im Sinne des Artikels 10a der Königlichen Verordnung Nr. 50 vom 24. Oktober 1967, so darf die Hinterbliebenenrente nicht höher sein als der Unterschied zwischen 110 % des Betrages der Hinterbliebenenrente für eine vollständige Versicherungslaufbahn und der Summe aus den Beträgen der Altersrenten oder der an deren Stelle tretenden Vergünstigungen im Sinne des Unterabsatzes 1 und einem Betrag in Höhe der Hinterbliebenenrente eines Arbeitnehmers für eine vollständige Versicherungslaufbahn, multipliziert mit dem Bruch oder der Summe der Brüche, die die Höhe der Hinterbliebenenrenten in den anderen Rentensystemen mit Ausnahme des Systems der Selbständigen ausdrücken. Bei diesen Brüchen handelt es sich um diejenigen, die für die Anwendung des vorgenannten Artikels 10a berücksichtigt worden sind oder worden wären.

Die Anwendung von Unterabsatz 2 darf nicht dazu führen, dass die Hinterbliebenenrente auf einen Betrag gekürzt wird, der niedriger ist als der Unterschied zwischen der vor Anwendung der vorstehenden Unterabsätze zu gewährenden Hinterbliebenenrente und der Summe der Beträge der Altersrenten und der an deren Stelle tretenden Vergünstigungen im Sinne des Unterabsatzes 1.

..."

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

10 Am 28. Oktober 1997 stellte Frau Insalaca, die seit 1981 vom zuständigen italienischen Versicherungsträger eine Hinterbliebenenrente erhält, beim ONP einen Antrag auf Alters- und Hinterbliebenenrente. Das ONP gewährte ihr ab 1. Dezember 1998 eine Altersrente zu Lasten des belgischen Rentensystems für Arbeitnehmer.

11 Mit Entscheidung vom 2. Juli 1998 bewilligte ihr das ONP ferner eine Hinterbliebenenrente ab 1. Dezember 1998.

12 Für die Berechnung der Höhe der belgischen Hinterbliebenenrente wandte das ONP die in Artikel 52 Absatz 1 der Königlichen Verordnung vom 21. Dezember 1967 und in Artikel 46c der Verordnung Nr. 1408/71 enthaltenen Antikumulierungsvorschriften an. Es berücksichtigte dabei die Frau Insalaca gewährte italienische Hinterbliebenenrente. Diese Berechnungsmethode führte zu einer Kürzung der Frau Insalaca gewährten belgischen Hinterbliebenenrente.

13 Frau Insalaca focht die Entscheidung des ONP vom 2. Juli 1998 beim Tribunal du travail Mons an, wobei sie u. a. geltend machte, Artikel 52 Absatz 1 der Königlichen Verordnung vom 21. Dezember 1967 verstoße in der Weise, in der er angewandt worden sei, gegen die Artikel 46a und 46b der Verordnung Nr. 1408/71.

14 Vor dem vorlegenden Gericht trug das ONP vor, im Ausgangsverfahren sei die Kürzung der belgischen Hinterbliebenenrente nicht aufgrund des Vorliegens der italienischen Hinterbliebenenrente, sondern aufgrund der Kumulierung der belgischen Hinterbliebenen- und Altersrente erfolgt.

15 Das Tribunal du travail Mons hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Stellt die nationale Vorschrift, die die Berechnung einer Hinterbliebenenrente regelt und eine Herabsetzung der Kumulierungsobergrenze "Altersrente - Hinterbliebenenrente" vorsieht, wenn der hinterbliebene Ehegatte Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente zu Lasten eines anderen Mitgliedstaats hat, eine Kürzungsbestimmung im Sinne der Artikel 46a und 46b der Verordnung Nr. 1408/71 vom 14. Juni 1971 dar?

2. Sind, falls die erste Frage bejaht wird, die Artikel 46a und 46b so auszulegen, dass sie den nationalen Träger, der die Antikumulierungsbestimmung anwendet, ermächtigen, die den Hinterbliebenen nach dem System eines anderen Mitgliedstaats gewährte Rente zu berücksichtigen, um die im innerstaatlichen Recht vorgesehene Kumulierungsobergrenze "Altersrente - Hinterbliebenenrente" herabzusetzen?

Zur ersten Frage

16 Nach ständiger Rechtsprechung ist eine nationale Vorschrift als Kürzungsbestimmung im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 anzusehen, wenn die von ihr vorgeschriebene Berechnung bewirkt, dass der Rentenbetrag, auf den der Betroffene Anspruch hat, deshalb gekürzt wird, weil er in einem anderen Mitgliedstaat eine Leistung erhält (u. a. Urteile vom 18. November 1999 in der Rechtssache C-442/97, Van Coile, Slg. 1999, I-8093, Randnr. 25, und in der Rechtssache C-161/98, Platbrood, Slg. 1999, I-8195, Randnr. 25).

17 Im vorliegenden Fall ist zum einen festzustellen, dass sich aus dem Vorlageurteil ergibt, dass nach Ansicht des Tribunal du travail Mons das ONP Artikel 52 Absatz 1 Unterabsatz 2 der Königlichen Verordnung vom 21. Dezember 1967 nur wegen des Vorliegens einer von einem anderen Mitgliedstaat erbrachten Leistung angewandt hat und dass es diese Vorschrift nach nationalem Recht richtig angewandt hat.

18 Es ist daher davon auszugehen, dass sich die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Vorschrift zumindest stillschweigend auf Leistungen bezieht, die der Betroffene in einem anderen Mitgliedstaat erhält.

19 Zum anderen steht fest, wie der Generalanwalt in den Nummern 40 und 41 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, dass die Anwendung der in Artikel 52 Absatz 1 Unterabsatz 2 der Königlichen Verordnung vom 21. Dezember 1967 enthaltenen Berechnungsvorschrift zu einer Kürzung des Gesamtbetrags der Leistungen führt, auf die der Betroffene Anspruch hat.

20 Auf die erste Frage ist demnach zu antworten, dass die Regelung eines Mitgliedstaats über die Berechnung von Hinterbliebenenrenten, die eine Herabsetzung der für die Kumulierung einer Alters- und einer Hinterbliebenenrente festgelegten Obergrenze vorsieht, wenn der hinterbliebene Ehegatte Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente zu Lasten eines anderen Mitgliedstaats hat, eine Kürzungsbestimmung im Sinne der Artikel 46a und 46b der Verordnung Nr. 1408/71 darstellt.

Zur zweiten Frage

21 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Artikel 46a und 46b der Verordnung Nr. 1408/71 der Anwendung der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die eine Antikumulierungsbestimmung enthält, wonach eine in diesem Mitgliedstaat bezogene Hinterbliebenenrente wegen des Vorliegens einer nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats erworbenen Hinterbliebenenrente zu kürzen ist.

22 Für die Beantwortung dieser Frage ist zunächst daran zu erinnern, dass nach Artikel 12 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71, sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, die in den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vorgesehenen Kürzungsbestimmungen gegenüber den Personen, die eine Leistung zu Lasten dieses Mitgliedstaats erhalten, anwendbar sind, wenn sie Anspruch auf andere Leistungen der sozialen Sicherheit haben, und zwar auch wenn diese Leistungen nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats erworben wurden.

23 Eine Ausnahme von dem in Artikel 12 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 aufgestellten Grundsatz ist in Artikel 46b Absatz 1 dieser Verordnung vorgesehen, wonach im Fall des Zusammentreffens von Leistungen gleicher Art die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vorgesehenen Kürzungsbestimmungen nicht für eine nach Artikel 46 Absatz 2 dieser Verordnung berechnete Leistung gelten.

24 Insoweit ist zum einen festzustellen, dass nach ständiger Rechtsprechung Leistungen der sozialen Sicherheit als Leistungen gleicher Art zu betrachten sind, wenn ihr Gegenstand und ihr Zweck sowie ihre Berechnungsgrundlage und die Voraussetzungen für ihre Gewährung identisch sind (u. a. Urteil vom 12. Februar 1998 in der Rechtssache C-366/96, Cordelle, Slg. 1998, I-583, Randnr. 19). Die belgische Hinterbliebenenrente und die italienische Hinterbliebenenrente, um die es im Ausgangsverfahren geht, stellen somit Leistungen gleicher Art im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 dar.

25 Zum anderen hat das ONP, wie der Generalanwalt in Nummer 48 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, die Leistungen im Ausgangsverfahren gemäß Artikel 46 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 festgestellt.

26 Daraus folgt, dass die belgische und die italienische Hinterbliebenenrente, um die es im Ausgangsverfahren geht, unter die in Artikel 46b Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehene Ausnahme fallen und dass daher eine Kürzungsbestimmung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht bei der Berechnung der Leistungen gemäß Artikel 46 Absatz 2 dieser Verordnung angewandt werden kann.

27 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes sind die Bestimmungen des Artikels 46 der Verordnung Nr. 1408/71 insgesamt anzuwenden, wenn sich die alleinige Anwendung der nationalen Rechtsvorschriften als weniger günstig für den Betroffenen erweist als die Anwendung der in diesem Artikel vorgesehenen Gemeinschaftsregelung (u. a. Urteil vom 11. Juni 1992 in den Rechtssachen C-90/91 und C-91/91, Di Crescenzo und Casagrande, Slg. 1992, I-3851, Randnr. 16).

28 Die Berechnung des Betrages der Leistungen nach Artikel 46 der Verordnung Nr. 1408/71 erfolgt in drei Schritten. Erstens nimmt der zuständige Träger die Berechnung der so genannten "autonomen" Leistung nach Artikel 46 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer i der Verordnung vor. Zweitens berechnet er nach Artikel 46 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer ii der Verordnung den Betrag der so genannten "proratisierten" Leistung nach den Bestimmungen des Artikels 46 Absatz 2. Drittens vergleicht der zuständige Träger nach Artikel 46 Absatz 3 der Verordnung den Betrag der autonomen Leistung mit dem der proratisierten Leistung und berücksichtigt den höheren der beiden Beträge.

29 Der zuständige Träger hat also einen Vergleich zwischen den Leistungen, die allein nach dem nationalen Recht einschließlich seiner Antikumulierungsbestimmungen geschuldet würden, und den Leistungen anzustellen, die nach dem Gemeinschaftsrecht geschuldet würden, und dem Betroffenen die Leistungen zu gewähren, deren Betrag am höchsten ist.

30 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Artikel 46a und 46b der Verordnung Nr. 1408/71 der Anwendung der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die eine Antikumulierungsbestimmung enthält, wonach eine in diesem Mitgliedstaat bezogene Hinterbliebenenrente wegen des Vorliegens einer nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats erworbenen Hinterbliebenenrente zu kürzen ist, wenn sich die nach dieser nationalen Regelung geschuldeten Leistungen als weniger günstig erweisen als die nach Artikel 46 dieser Verordnung bestimmten Leistungen.

Kostenentscheidung:

Kosten

31 Die Auslagen der belgischen Regierung und der Kommission, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Zweite Kammer)

auf die ihm vom Tribunal du travail Mons mit Urteil 13. März 2000 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1. Die Regelung eines Mitgliedstaats über die Berechnung von Hinterbliebenenrenten, die eine Herabsetzung der für die Kumulierung einer Alters- und einer Hinterbliebenenrente festgelegten Obergrenze vorsieht, wenn der hinterbliebene Ehegatte Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente zu Lasten eines anderen Mitgliedstaats hat, stellt eine Kürzungsbestimmung im Sinne der Artikel 46a und 46b der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihrer durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EWG) Nr. 1248/92 des Rates vom 30. April 1992, dar.

2. Die Artikel 46a und 46b der Verordnung Nr. 1408/71 in ihrer durch die Verordnung Nr. 2001/83 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung Nr. 1248/92, stehen der Anwendung der Regelung eines Mitgliedstaats entgegen, die eine Antikumulierungsbestimmung enthält, wonach eine in diesem Mitgliedstaat bezogene Hinterbliebenenrente wegen des Vorliegens einer nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats erworbenen Hinterbliebenenrente zu kürzen ist, wenn sich die nach dieser nationalen Regelung geschuldeten Leistungen als weniger günstig erweisen als die nach Artikel 46 dieser Verordnung bestimmten Leistungen.

Ende der Entscheidung

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