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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 02.08.1993
Aktenzeichen: C-107/92
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag, Richtlinie 71/305/EWG vom 26.06.1971


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 169
Richtlinie 71/305/EWG vom 26.06.1971Art. 9 d
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Artikel 9 Buchstabe d der Richtlinie 71/305 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge gestattet bei Vorliegen aussergewöhnlicher Umstände eine Ausnahme von den gemeinsamen Vorschriften, insbesondere den Bekanntmachungsvorschriften. Diese Ausnahme gilt aber nicht, wenn die öffentlichen Auftraggeber über genug Zeit verfügen, um ein beschleunigtes Vergabeverfahren nach Artikel 15 der Richtlinie durchzuführen.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 2. AUGUST 1993. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN ITALIENISCHE REPUBLIK. - VERTRAGSVERLETZUNG EINES MITGLIEDSTAATS - VERFAHREN ZUR VERGABE OEFFENTLICHER BAUAUFTRAEGE - AUSNAHME. - RECHTSSACHE C-107/92.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 1. April 1992 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag Klage auf Feststellung erhoben, daß die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 71/305/EWG des Rates vom 26. Juli 1971 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge (ABl. L 185, S. 5; im folgenden: Richtlinie) verstossen hat, daß sie es unterlassen hat, dem Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften zum Zweck der Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften eine Bekanntmachung über die Vergabe eines Auftrags zur Errichtung von Lawinen-Zäunen in Gossensaß/Brenner zuzuleiten.

2 Der Abschnitt III der Richtlinie enthält u. a. Regeln für eine ausreichende Bekanntgabe von Ausschreibungen, durch die allen interessierten Unternehmern der Gemeinschaft ermöglicht werden soll, von einer Ausschreibung Kenntnis zu erlangen und unter Umständen an ihr teilzunehmen.

3 Gemäß Artikel 12 der Richtlinie sind die Bekanntmachungen über die Ausschreibungen dem Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften zuzuleiten, das sie spätestens neun Tage nach der Absendung im Amtsblatt veröffentlicht. Nach Artikel 12 Absatz 4 wird eine Bekanntmachung jedoch im Falle des beschleunigten Verfahrens gemäß Artikel 15 spätestens fünf Tage nach der Absendung veröffentlicht.

4 Gemäß Artikel 14 der Richtlinie betragen die Fristen für den Antrag auf Teilnahme sowie für den Eingang der Angebote, zu deren Abgabe die ausgewählten Bewerber aufgefordert wurden, jeweils mindestens 21 Tage, gerechnet vom Tag der Absendung der Bekanntmachung bzw. der schriftlichen Aufforderung zur Angebotsabgabe an. Allerdings können die öffentlichen Auftraggeber, wenn die Fristen nach Artikel 14 aus dringlichen Gründen nicht eingehalten werden können, diese gemäß Artikel 15 verkürzen, und zwar auf eine Frist von 12 Tagen, beginnend am Tag der Absendung der Bekanntmachung, für den Antrag auf Teilnahme und auf eine Frist von 10 Tagen, beginnend am Tag der Absendung der schriftlichen Aufforderung für die Angebote. Durch dieses beschleunigte Verfahren wird die Gesamtdauer des Bekanntmachungsverfahrens von 42 Tagen auf eine Mindestzeit von 22 Tagen reduziert.

5 Nach Artikel 9 der Richtlinie sind eine Reihe von Fällen von der Geltung dieser Bekanntmachungsvorschriften ausgenommen. Gemäß Artikel 9 Buchstabe d besteht eine solche Ausnahme insbesondere, "soweit dies unbedingt erforderlich ist, wenn dringliche, zwingende Gründe im Zusammenhang mit Ereignissen, die der öffentliche Auftraggeber nicht voraussehen konnte, es nicht zulassen, die in anderen Verfahren vorgeschriebenen Fristen einzuhalten".

6 Am 18. Juni 1988 vergab das Staatszivilbauamt Bozen, eine dem italienischen Ministerium für öffentliche Arbeiten unterstehende Behörde, ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung über die Auftragsvergabe im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften an das italienische Unternehmen Collini e Rabbiosi SpA einen öffentlichen Bauauftrag für die Errichtung von Lawinen-Zäunen in der Gemarkung Hühnerspiel in Gossensaß/Brenner.

7 Die Kommission bewertete diese Unterlassung als einen Verstoß gegen die Richtlinie und forderte die Italienische Republik daher mit Schreiben vom 24. Januar 1990 auf, sich hierzu innerhalb eines Monats zu äussern.

8 Die am 15. März 1990 übermittelte Antwort der italienischen Regierung veranlasste die Kommission, am 13. Februar 1991 eine mit Gründen versehene Stellungnahme an die italienische Regierung zu richten. Nachdem diese Stellungnahme unbeantwortet geblieben war, hat die Kommission die vorliegende Klage erhoben.

9 Nach Auffassung der Kommission hat die italienische Regierung nicht den Beweis erbracht, daß dringliche, zwingende Gründe im Zusammenhang mit unvorhersehbaren Ereignissen im Sinne von Artikel 9 Buchstabe d der Richtlinie vorgelegen hätten. So seien zwischen dem 10. Juni 1988, als den zuständigen nationalen Behörden ein Bericht des Geologischen Dienstes des Umweltministeriums vorgelegt worden sei, der die Empfehlung einer Eilmaßnahme für den fraglichen Fall enthalten habe, und dem Beginn der Arbeiten am 21. September 1988 mehr als drei Monate vergangen, und in dieser Zeit hätte die italienische Regierung das von der Richtlinie vorgesehene beschleunigte Verfahren mit einer Dauer von 22 Tagen durchführen können. Zudem könne der letzte Absturz einer Lawine im Brenner-Gebiet, der sich im Jahre 1975 zugetragen habe, eine Eilmaßnahme nicht rechtfertigen.

10 Die italienische Regierung macht geltend, das Vorbringen der Kommission berücksichtige nicht, daß sich aus dem genannten geologischen Bericht die neue Tatsache einer unvorhersehbaren und unmittelbar drohenden Lawinengefahr in dem Gebiet ergeben habe. Angesichts der durch den Bericht offenbar gewordenen Dringlichkeit seien die italienischen Behörden zu dem Ergebnis gekommen, daß mit den Arbeiten unbedingt vor Ende Herbst 1988 zu beginnen sei, daß infolgedessen das Verwaltungsverfahren in der kurzen Zeit der drei Sommermonate zum Abschluß gebracht werden müsse und daß daher die Beachtung der Vorschriften der Richtlinie nicht möglich sei.

11 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, des Verfahrensablaufs und des Vorbringens der Parteien wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

12 Die in Artikel 9 Buchstabe d der Richtlinie geregelte Ausnahme, nämlich die Befreiung von der Pflicht zur Veröffentlichung einer Bekanntmachung über die Ausschreibung, greift nur ein, wenn kumulativ drei Voraussetzungen erfuellt sind. Es müssen ein unvorhersehbares Ereignis, dringliche und zwingende Gründe, die die Einhaltung der in anderen Verfahren vorgeschriebenen Fristen nicht zulassen, und schließlich ein Kausalzusammenhang zwischen dem unvorhersehbaren Ereignis und den sich daraus ergebenden dringlichen, zwingenden Gründen gegeben sein.

13 Der vom Generalanwalt in den Nummern 8 bis 13 seiner Schlussanträge im einzelnen geprüfte Geschehensablauf zeigt jedoch, daß einer Beachtung der von der Richtlinie für das beschleunigte Verfahren vorgesehenen Fristen durch die italienische Regierung im vorliegenden Fall nichts entgegengestanden hätte.

14 Daher ist der Kommission darin zu folgen, daß die italienische Regierung das Vorliegen dringlicher, zwingender Gründe im Sinne von Artikel 9 Buchstabe d nicht bewiesen hat.

15 Demnach ist ohne Prüfung der Frage, ob die beiden anderen Voraussetzungen der Ausnahme im vorliegenden Fall erfuellt waren, festzustellen, daß die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie verstossen hat, daß sie es unterlassen hat, dem Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften zum Zweck der Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften eine Bekanntmachung über die Vergabe eines Auftrags zur Errichtung von Lawinen-Zäunen in Gossensaß/Brenner zuzuleiten.

Kostenentscheidung:

Kosten

16 Gemäß Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung hat die unterliegende Partei die Kosten zu tragen. Da die Italienische Republik mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

für Recht erkannt und entschieden:

1) Die Italienische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 71/305/EWG des Rates vom 26. Juli 1971 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge verstossen, daß sie es unterlassen hat, dem Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften zum Zweck der Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften eine Bekanntmachung über die Vergabe eines Auftrags zur Errichtung von Lawinen-Zäunen in Gossensaß/Brenner zuzuleiten.

2) Die Italienische Republik trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

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