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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 06.10.1993
Aktenzeichen: C-109/91
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 119
EWG-Vertrag Art. 177
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Eine Hinterbliebenenrente, die von einem betrieblichen Rentensystem gezahlt wird, dessen Bestimmungen nicht unmittelbar durch Gesetz festgelegt worden sind, sondern das Ergebnis einer Abstimmung zwischen den Sozialpartnern sind, während sich die staatlichen Stellen darauf beschränkt haben, das System auf Antrag der als repräsentativ angesehenen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen für obligatorisch für den gesamten beruflichen Sektor zu erklären, und das ausschließlich von den Arbeitnehmern und den Arbeitgebern dieses Sektors ohne jede finanzielle Beteiligung der öffentlichen Hand finanziert wird, fällt unter den Begriff des Entgelts im Sinne von Artikel 119 des Vertrages mit der Folge, daß für sie das in dieser Bestimmung aufgestellte Diskriminierungsverbot gilt.

Dieser Auslegung steht nicht entgegen, daß die Hinterbliebenenrente ihrem Begriff gemäß nicht dem Arbeitnehmer, sondern seinem Hinterbliebenen gezahlt wird, denn der Anspruch auf eine solche Leistung ist auf eine Vergütung gerichtet, die ihren Ursprung in der Zugehörigkeit des Ehegatten des Hinterbliebenen zu dem Rentensystem hat, so daß der Hinterbliebene den Rentenanspruch im Rahmen des Beschäftigungsverhältnisses zwischen seinem Ehegatten und dessen Arbeitgeber erwirbt und ihm die Rente aufgrund des Beschäftigungsverhältnisses seines Ehegatten gezahlt wird.

2. Gemäß dem Urteil vom 17. Mai 1990 in der Rechtssache C-262/88 (Barber) kann die unmittelbare Wirkung von Artikel 119 des Vertrages zur Stützung der Forderung nach Gleichbehandlung auf dem Gebiet der betrieblichen Renten nur für Leistungen geltend gemacht werden, die für Beschäftigungszeiten nach dem Tag des Erlasses dieses Urteils geschuldet werden, vorbehaltlich der Ausnahme, die für Arbeitnehmer oder deren anspruchsberechtigte Angehörige vorgesehen ist, die vor diesem Zeitpunkt nach dem anwendbaren innerstaatlichen Recht Klage erhoben oder einen entsprechenden Rechtsbehelf eingelegt haben.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 6. OKTOBER 1993. - GERARDUS CORNELIS TEN OEVER GEGEN STICHTING BEDRIJFSPENSIOENFONDS VOOR HET GLAZENWASSERS- EN SCHOONMAAKBEDRIJF. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: KANTONGERECHT UTRECHT - NIEDERLANDE. - GLEICHES ENTGELT FUER MAENNER UND FRAUEN - HINTERBLIEBENENRENTE - ZEITLICHE BESCHRAENKUNG DER WIRKUNGEN DES URTEILS IN DER RECHTSSACHE C-262/88 (BARBER). - RECHTSSACHE C-109/91.

Entscheidungsgründe:

1 Das Kantongerecht Utrecht (Niederlande) hat mit Beschluß vom 28. März 1991, beim Gerichtshof eingegangen am 9. April 1991, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung von Artikel 119 EWG-Vertrag im Hinblick auf die im Rahmen eines betrieblichen Rentensystems vorgesehene Hinterbliebenenrente und nach der Auslegung des Urteils des Gerichtshofes vom 17. Mai 1990 in der Rechtssache C-262/88 (Barber, Slg. 1990, I-1889) im Hinblick auf die Beschränkung der zeitlichen Wirkungen dieses Urteils zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen G. C. Ten Över (im folgenden: Kläger) und der Stichting Bedrijfspensiönfonds voor het Glazenwassers- en Schoonmaakbedrijf (im folgenden: Beklagte) über die Gewährung einer Witwerrente.

3 Die Ehefrau des Klägers gehörte bis zu ihrem Tod am 13. Oktober 1988 einem betrieblichen Rentensystem an, das von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanziert wird. Damals sahen die Rentenbestimmungen der Beklagten eine Hinterbliebenenrente nur für Witwen vor. Erst am 1. Januar 1989 wurde dieses Recht auf Witwer erstreckt.

4 Nach dem Tod seiner Frau beantragte der Kläger die Gewährung einer Witwerrente. Die Beklagte verweigerte ihm diese mit der Begründung, daß eine solche Rente zum Zeitpunkt des Todes seiner Frau nicht in den Rentenbestimmungen vorgesehen gewesen sei. Auf das Vorbringen des Klägers, nach dem genannten Urteil Barber müsse die beantragte Rente als Entgelt im Sinne von Artikel 119 EWG-Vertrag angesehen werden und eine Ungleichbehandlung von Männern und Frauen sei unzulässig, erwiderte die Beklagte, dieses Urteil sei nach dem Tod der Frau des Klägers ergangen und seine zeitlichen Wirkungen seien beschränkt worden.

5 Der Kläger erhob Klage beim Kantongerecht Utrecht mit dem Antrag, zu entscheiden, daß die Beklagte verpflichtet sei, ihm die beantragte Rente zu gewähren. Dieses Gericht hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1) Sind unter Entgelt oder Vergütungen im Sinne von Artikel 119 EWG-Vertrag gesetzlich nicht vorgeschriebene Leistungen an Hinterbliebene zu verstehen (wie im vorliegenden Fall die Zahlung einer Hinterbliebenenrente)?

2) Folgt bei Bejahung von Frage 1 aus Artikel 119 EWG-Vertrag,

a) daß der Kläger die Zahlung einer Hinterbliebenenrente vom Zeitpunkt des Todes seiner Ehefrau (13. Oktober 1988) an beanspruchen kann,

b) daß er sie ab Erlaß des Urteils des Gerichtshofes vom 17. Mai 1990 beanspruchen kann oder

c) daß er keinen Anspruch hat, da seine Ehefrau vor dem 17. Mai 1990 gestorben ist?

6 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur wiedergegeben, soweit es die Begründung des Urteils erfordert.

Zur ersten Frage

7 Mit der ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine Hinterbliebenenrente wie die im Ausgangsverfahren streitige unter den Begriff des Entgelts im Sinne von Artikel 119 EWG-Vertrag fällt mit der Folge, daß für sie das in dieser Bestimmung aufgestellte Diskriminierungsverbot gelten würde.

8 Nach gefestigter Rechtsprechung umfasst der Begriff des Entgelts im Sinne von Artikel 119 Absatz 2 alle gegenwärtigen oder künftigen in bar oder in Sachleistungen gewährten Vergütungen, sofern sie der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer wenigstens mittelbar aufgrund des Beschäftigungsverhältnisses gewährt. Der Umstand, daß bestimmte Leistungen nach Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses gewährt werden, schließt nicht aus, daß sie den Charakter eines Entgelts im Sinne von Artikel 119 EWG-Vertrag haben (vgl. insbesondere Urteil Barber, a. a. O., Randnr. 12).

9 Dagegen erfasst der so definierte Entgeltbegriff unmittelbar durch Gesetz geregelte, keinerlei vertragliche Vereinbarungen innerhalb des Unternehmens oder in dem betroffenen Gewerbezweig zulassende Systeme oder Leistungen der sozialen Sicherheit, die zwingend für allgemein umschriebene Gruppen von Arbeitnehmern gelten, nicht. Denn diese Regelungen sichern den Arbeitnehmern Ansprüche aus gesetzlichen Systemen, an deren Finanzierung Arbeitnehmer, Arbeitgeber und gegebenenfalls die öffentliche Hand in einem Masse beteiligt sind, das weniger vom Beschäftigungsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer als von sozialpolitischen Erwägungen abhängt (Urteil vom 25. Mai 1971 in der Rechtssache 80/70, Defrenne, Slg. 1971, 445, Randnrn. 7 und 8).

10 Wie sich aus den Akten ergibt, sind die Rentenbestimmungen der Beklagten nicht unmittelbar durch Gesetz festgelegt worden, sondern sind das Ergebnis einer Abstimmung zwischen den Sozialpartnern; die staatlichen Stellen haben sich darauf beschränkt, das System auf Antrag der als repräsentativ angesehenen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganistionen für obligatorisch für den gesamten beruflichen Sektor zu erklären.

11 Ferner steht fest, daß dieses Rentensystem ausschließlich von den Arbeitnehmern und den Arbeitgebern des betroffenen Sektors ohne jede finanzielle Beteiligung der öffentlichen Hand finanziert wird.

12 Daraus ergibt sich, daß die streitige Hinterbliebenenrente in den Anwendungsbereich von Artikel 119 EWG-Vertrag fällt.

13 Dieser Auslegung steht nicht entgegen, daß die Hinterbliebenenrente ihrem Begriff gemäß nicht dem Arbeitnehmer, sondern seinem Hinterbliebenen gezahlt wird. Denn der Anspruch auf eine solche Leistung ist auf eine Vergütung gerichtet, die ihren Ursprung in der Zugehörigkeit des Ehegatten des Hinterbliebenen zu dem Rentensystem hat, so daß der Hinterbliebene den Rentenanspruch im Rahmen des Beschäftigungsverhältnisses zwischen seinem Ehegatten und dessen Arbeitgeber erwirbt und ihm die Rente aufgrund des Beschäftigungsverhältnisses seines Ehegatten gezahlt wird.

14 Auf die erste Frage ist daher zu antworten, daß eine im Rahmen eines betrieblichen Rentensystems vorgesehene Hinterbliebenenrente, die die gleichen Merkmale wie die im Ausgangsverfahren streitige aufweist, in den Anwendungsbereich von Artikel 119 EWG-Vertrag fällt.

Zur zweiten Frage

15 Mit der zweiten Frage wird der Gerichtshof im wesentlichen ersucht, sich zur genauen Tragweite der zeitlichen Beschränkung der Wirkungen des genannten Urteils Barber zu äussern.

16 Hierzu genügt der Hinweis, daß diese Beschränkung im konkreten Kontext von Leistungen (nämlich Renten) ausgesprochen wurde, die im Rahmen betrieblicher Systeme vorgesehen sind und die als Entgelt im Sinne von Artikel 119 EWG-Vertrag qualifiziert wurden.

17 Diese Entscheidung trug der Besonderheit dieser Form des Entgelts Rechnung, die in einer zeitlichen Trennung zwischen der Entstehung des Rentenanspruchs, zu der es nach und nach im Laufe des Arbeitslebens eines Arbeitnehmers kommt, und der tatsächlichen Gewährung der Leistung, die demgegenüber bis zur Erreichung eines bestimmten Alters hinausgeschoben ist, besteht.

18 Der Gerichtshof hat ebenfalls die Merkmale der finanziellen Mechanismen der betrieblichen Renten und damit die rechnerischen Beziehungen berücksichtigt, die in jedem Einzelfall zwischen den regelmässigen Beiträgen und den in der Zukunft zu zahlenden Beträgen bestehen.

19 Auch angesichts der Gründe, die die zeitliche Beschränkung der Wirkungen des Urteils Barber gerechtfertigt haben, und die in Randnummer 44 dieses Urteils dargelegt sind, ist darauf hinzuweisen, daß die Gleichbehandlung auf dem Gebiet der betrieblichen Renten nur für Leistungen geltend gemacht werden kann, die für Beschäftigungszeiten nach dem 17. Mai 1990, dem Tag des Erlasses dieses Urteils, geschuldet werden, vorbehaltlich der Ausnahme, die für Arbeitnehmer oder deren anspruchsberechtigte Angehörige vorgesehen ist, die vor diesem Zeitpunkt nach dem anwendbaren innerstaatlichen Recht Klage erhoben oder einen entsprechenden Rechtsbehelf eingelegt haben.

20 Auf die zweite Frage ist daher zu antworten, daß gemäß dem Urteil vom 17. Mai 1990 in der Rechtssache C-262/88 (Barber) die unmittelbare Wirkung von Artikel 119 EWG-Vertrag zur Stützung der Forderung nach Gleichbehandlung auf dem Gebiet der betrieblichen Renten nur für Leistungen geltend gemacht werden kann, die für Beschäftigungszeiten nach dem 17. Mai 1990 geschuldet werden, vorbehaltlich der Ausnahme, die für Arbeitnehmer oder deren anspruchsberechtigte Angehörige vorgesehen ist, die vor diesem Zeitpunkt nach dem anwendbaren innerstaatlichen Recht Klage erhoben oder einen entsprechenden Rechtsbehelf eingelegt haben.

Kostenentscheidung:

Kosten

21 Die Auslagen der niederländischen und der deutschen Regierung, des Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Kantongerecht Utrecht mit Beschluß vom 28. März 1991 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1) Eine im Rahmen eines betrieblichen Rentensystems vorgesehene Hinterbliebenenrente, die die gleichen Merkmale wie die im Ausgangsverfahren streitige aufweist, fällt in den Anwendungsbereich von Artikel 119 EWG-Vertrag.

2) Gemäß dem Urteil vom 17. Mai 1990 in der Rechtssache C-262/88 (Barber) kann die unmittelbare Wirkung von Artikel 119 EWG-Vertrag zur Stützung der Forderung nach Gleichbehandlung auf dem Gebiet der betrieblichen Renten nur für Leistungen geltend gemacht werden, die für Beschäftigungszeiten nach dem 17. Mai 1990 geschuldet werden, vorbehaltlich der Ausnahme, die für Arbeitnehmer oder deren anspruchsberechtigte Angehörige vorgesehen ist, die vor diesem Zeitpunkt nach dem anwendbaren innerstaatlichen Recht Klage erhoben oder einen entsprechenden Rechtsbehelf eingelegt haben.

Ende der Entscheidung

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