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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 19.10.1995
Aktenzeichen: C-111/94
Rechtsgebiete: EG-Vertrag, EWG-Vertrag


Vorschriften:

EG-Vertrag Art. 177
EWG-Vertrag Art. 66
EWG-Vertrag Art. 55
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Zwar hängt die Anrufung des Gerichtshofes nach Artikel 177 des Vertrages nicht davon ab, ob das Verfahren, in dem das nationale Gericht eine Vorabentscheidungsfrage stellt, streitigen Charakter hat; aus dieser Vorschrift geht jedoch hervor, daß die nationalen Gerichte den Gerichtshof nur anrufen können, wenn bei ihnen ein Rechtsstreit anhängig ist und sie im Rahmen eines Verfahrens zu entscheiden haben, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt.

Ein Gericht, das als Verwaltungsbehörde handelt, indem es in einem Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit über einen Antrag auf Genehmigung der Satzung einer Gesellschaft zum Zweck ihrer Eintragung in das Handelsregister entscheidet, kann den Gerichtshof somit nicht anrufen. Es wird nämlich ausserhalb eines Rechtsstreits tätig, denn zu einem Rechtsstreit und damit zu einem streitigen Verfahren, hier aufgrund einer Anfechtungsklage, kann es nur nach einer Ablehnung der Genehmigung kommen.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (SECHSTE KAMMER) VOM 19. OKTOBER 1995. - JOB CENTRE COOP. ARL. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: TRIBUNALE CIVILE E PENALE DI MILANO - ITALIEN. - NATIONALE RECHTSVORSCHRIFTEN, DIE PRIVATUNTERNEHMEN VON DER TAETIGKEIT DER VERMITTLUNG VON ARBEITNEHMERN AUSSCHLIESSEN - UNZUSTAENDIGKEIT DES GERICHTSHOFES. - RECHTSSACHE C-111/94.

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunale civile e penale Mailand hat mit Beschluß vom 31. März 1994, beim Gerichtshof eingegangen am 11. April 1994, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung der Artikel 48, 55, 59, 60, 66, 86 und 90 EG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich im Zusammenhang mit einem Antrag auf Genehmigung der Gründungsurkunde der Gesellschaft Job Centre (im folgenden: JCC), die deren Bevollmächtigte gemäß Artikel 2330 Absatz 3 des italienischen Codice civile beim Tribunale civile e penale Mailand eingereicht haben.

3 JCC ist eine in der Gründung befindliche Genossenschaft mit beschränkter Haftung, deren Sitz sich in Mailand befindet. Nach ihrer Satzung besteht ihre Tätigkeit insbesondere in der Vermittlung zwischen Stellengesuchen und -angeboten und der zeitweiligen Beschaffung von Arbeitsleistungen an Dritte. Ihr Zweck besteht darin, es Arbeitnehmern und Unternehmen, und zwar Mitgliedern wie Nichtmitgliedern, zu ermöglichen, derartige Dienste auf dem italienischen Arbeitsmarkt und dem der Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen.

4 In Italien gilt für den Arbeitsmarkt das System der obligatorischen Vermittlung, das von Arbeitsämtern verwaltet wird. Dieses System ist im Gesetz Nr. 264 vom 29. April 1949 geregelt. Artikel 11 Absatz 1 dieses Gesetzes verbietet jede Vermittlung zwischen Angebot und Gesuch bezahlter Arbeit, selbst wenn diese Vermittlung unentgeltlich erfolgt. Artikel 1 Absatz 1 des Gesetzes Nr. 1369 vom 23. Oktober 1960 verbietet die Vermittlung und Einschaltung bei den Arbeitsverhältnissen; die Nichtbeachtung dieser Vorschrift hat insbesondere strafrechtliche Sanktionen zur Folge.

5 JCC hat vor dem Tribunale civile e penale Mailand geltend gemacht, die Verbote der privaten Stellenvermittlung und der Zurverfügungstellung von Zeitarbeitskräften verstießen gegen das Gemeinschaftsrecht. Daher hat das Tribunale dem Gerichtshof folgende Fragen vorgelegt:

1) Sind die nationalen Vorschriften über die Arbeitsvermittlung und die Zeitarbeit aufgrund des mit ihnen verbundenen öffentlichen Interesses ° da sie zum Schutz der Arbeitnehmer und der Volkswirtschaft erlassen worden sind ° der Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne von Artikel 66 in Verbindung mit Artikel 55 EWG-Vertrag zuzuordnen?

2) Sind die Gemeinschaftsvorschriften, auf die sich die Antragsteller berufen, mangels genauer Durchführungsbestimmungen in diesem besonderem Bereich als unmittelbar anwendbar anzusehen (mit der sich daraus ergebenden Beeinträchtigung der mit den italienischen Gesetzen über die Arbeitsvermittlung und die Zeitarbeit verfolgten Ziele des öffentlichen Interesses), und gestatten sie es jedem öffentlichen oder privaten Rechtssubjekt, ohne jede besondere Kontrolle und Genehmigung auf dem Gebiet der Vermittlung zwischen Stellengesuch und -angebot und/oder der zeitweiligen Beschaffung von Arbeitskräften an Dritte tätig zu werden, wenn der Mitgliedstaat nicht imstande ist, die auf dem Arbeitsmarkt bestehende Nachfrage nach Dienstleistungen mit seinem eigenen Verwaltungsapparat vollständig zu befriedigen?

6 Die Kommission und die italienische Regierung haben Einwendungen gegen die Zulässigkeit der gestellten Fragen erhoben. Sie haben insbesondere vorgetragen, diese seien in einem Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit gestellt worden, das nicht auf eine Entscheidung zur Schlichtung eines Rechtsstreits nach einem kontradiktorischen Verfahren abziele, so daß diese Entscheidung Verwaltungscharakter habe.

7 Aus den Akten ergibt sich, daß der Antrag auf Genehmigung der Satzung einer Gesellschaft in Italien im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit geprüft wird. Im vorliegenden Fall wurde der Antrag beim Tribunale civile e penale Mailand eingereicht. Nach Artikel 2330 Absatz 3 des Codice civile ordnet das Gericht, wenn es feststellt, daß die Satzung der Gesellschaft die gesetzlichen Voraussetzungen erfuellt, nach Anhörung des Vertreters des öffentlichen Interesses die Eintragung der Gesellschaft im Register an. Artikel 2331 Absatz 1 bestimmt, daß die Gesellschaft mit der Eintragung im Register Rechtspersönlichkeit erwirbt. Die Person, die gesetzlich ermächtigt ist, die Genehmigung oder die Eintragung im Register zu beantragen, kann gegen eine ablehnende Entscheidung den in Artikel 2330 Absatz 4 oder Artikel 2189 Absatz 3 des Codice civile vorgesehenen Rechtsbehelf einlegen.

8 Nach Artikel 177 des Vertrages entscheidet der Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung des Vertrages und die Auslegung der Handlungen der Organe der Gemeinschaft. Weiter heisst es in Absatz 2: "Wird eine derartige Frage einem Gericht eines Mitgliedstaats gestellt und hält dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlaß seines Urteils für erforderlich, so kann es diese Frage dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen."

9 Zwar hängt die Anrufung des Gerichtshofes nach dieser Vorschrift nicht davon ab, ob das Verfahren, in dem das nationale Gericht eine Vorabentscheidungsfrage stellt, streitigen Charakter hat (vgl. zuletzt Urteil vom 17. Mai 1994 in der Rechtssache C-18/93, Corsica Ferries, Slg. 1994, I-1783, Randnr. 12); aus Artikel 177 geht jedoch hervor, daß die nationalen Gerichte den Gerichtshof nur anrufen können, wenn bei ihnen ein Rechtsstreit anhängig ist und sie im Rahmen eines Verfahrens zu entscheiden haben, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt (vgl. Beschlüsse vom 18. Juni 1980 in der Rechtssache 138/80, Borker, Slg. 1980, 1975, Randnr. 4, und vom 5. März 1986 in der Rechtssache 318/85, Greis Unterweger, Slg. 1986, 955, Randnr. 4).

10 Dies ist hier nicht der Fall.

11 Entscheidet das vorlegende Gericht nach den geltenden nationalen Vorschriften in einem Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit über einen Antrag auf Genehmigung der Satzung einer Gesellschaft zum Zweck ihrer Eintragung in das Register, so übt es eine Tätigkeit aus, die keinen Rechtsprechungscharakter hat und mit der im übrigen in anderen Mitgliedstaaten Verwaltungsbehörden betraut sind. Denn es handelt als Verwaltungsbehörde, ohne daß es gleichzeitig einen Rechtsstreit zu entscheiden hätte. Nur wenn die Person, die nach nationalem Recht ermächtigt ist, die Genehmigung zu beantragen, einen Rechtsbehelf gegen die Ablehnung der Genehmigung und damit der Eintragung einlegt, kann davon ausgegangen werden, daß das angerufene Gericht eine Rechtsprechungstätigkeit im Sinne des Artikels 177 ausübt, die die Aufhebung eines Rechtsakts, der ein Recht des Antragstellers verletzt, bezweckt (vgl. Urteil vom 12. November 1974 in der Rechtssache 32/74, Haaga, Slg. 1974, 1201).

12 Der Gerichtshof ist somit für die Beantwortung der vom Tribunale civile e penale Mailand vorgelegten Fragen nicht zuständig.

Kostenentscheidung:

Kosten

13 Die Auslagen der italienischen Regierung, der deutschen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften ist für die Beantwortung der vom Tribunale civile e penale Mailand in seinem Vorlagebeschluß vom 31. März 1994 gestellten Fragen nicht zuständig.

Ende der Entscheidung

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