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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 20.09.1994
Aktenzeichen: C-12/93
Rechtsgebiete: Verordnung 1408/71/EWG, EWGV
Vorschriften:
Verordnung 1408/71/EWG Anhang VI Nr. 4 | |
EWGV Art. 51 |
1. Es liefe den Artikeln 48 bis 51 EWG-Vertrag zuwider, wenn Arbeitnehmer, die von ihrem Recht auf Freizuegigkeit Gebrauch gemacht haben, Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlören, die ihnen die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats sichern, da ein solcher Verlust Arbeitnehmer der Gemeinschaft davon abhalten könnte, von ihrem Recht auf Freizuegigkeit Gebrauch zu machen, und somit diese Freizuegigkeit beeinträchtigen würde. Dies ist nicht der Fall bei den Bestimmungen des Anhangs VI Buchstabe I (jetzt J) Nr. 4 der Verordnung Nr. 1408/71 in der geänderten Fassung, die die Anwendung der niederländischen Rechtsvorschriften über die Arbeitsunfähigkeit betreffen und sich dahin auswirken, daß eine Person, die bei Eintritt des Versicherungsfalls keine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausübte, keinen Anspruch auf Leistungen bei Invalidität hat.
Eine Person, die ausschließlich in den Niederlanden eine Erwerbstätigkeit ausgeuebt und diese vor Eintritt des Versicherungsfalls beendet hat, befindet sich nämlich in der gleichen Lage wie eine Person, die von der Freizuegigkeit Gebrauch macht und früher sowohl einem auf dem Eintritt des Versicherungsfalls beruhenden System als auch einem auf dem schrittweisen Aufbau der Ansprüche beruhenden System unterlag.
2. Artikel 51 EWG-Vertrag und die Verordnung Nr. 1408/71 sehen lediglich die Zusammenrechnung der in verschiedenen Mitgliedstaaten zurückgelegten Versicherungszeiten vor und regeln nicht die Voraussetzungen für die Entstehung dieser Zeiten. Es ist daher Sache jedes Mitgliedstaats, durch den Erlaß von Rechtsvorschriften die Voraussetzungen festzulegen, unter denen eine Person einem System der sozialen Sicherheit beitreten kann oder muß, solange es dabei nicht zu einer diskriminierenden Unterscheidung zwischen Inländern und Angehörigen der anderen Mitgliedstaaten kommt.
Folglich ist es einem nationalen Gesetzgeber nach dem Gemeinschaftsrecht nicht untersagt, die Voraussetzungen für die Gewährung einer Invaliditätsrente dadurch zu ändern und zu verschärfen, daß er eine zusätzliche Anforderung wie den Bezug von Arbeitseinkommen in bestimmter Höhe im Jahr vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit einführt, da es sich dabei um eine objektive Voraussetzung handelt, die unterschiedslos für inländische Arbeitnehmer und solche aus anderen Mitgliedstaaten gilt.
URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 20. SEPTEMBER 1994. - BESTUUR VAN DE NIEUWE ALGEMENE BEDRIJFSVERENIGING GEGEN V. A. DRAKE. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: CENTRALE RAAD VAN BEROEP - NIEDERLANDE. - SOZIALE SICHERHEIT - GUELTIGKEIT DES ANHANGS VI BUCHSTABE I (JETZT J) NR. 4 DER VERORDNUNG (EWG) NR. 1408/71. - RECHTSSACHE C-12/93.
Entscheidungsgründe:
1 Der Centrale Raad van Beroep hat mit Beschluß vom 5. Januar 1993, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Januar 1993, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Gültigkeit des Anhangs VI Buchstabe I (jetzt J) Nr. 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) kodifizierten Fassung (im folgenden: Verordnung Nr. 1408/71 in der geänderten Fassung) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen dem Bestuur van de Nieuwe Algemene Bedrijfsvereniging und V. A. Drake über die Gewährung von Leistungen bei Invalidität nach niederländischem Recht.
3 In den Niederlanden ist die Pflichtversicherung gegen Invalidität in zwei Gesetzen geregelt: in der Algemene Arbeitsongeschiktheidswet vom 11. Dezember 1975 (Allgemeines Gesetz über die Arbeitsunfähigkeit, Stbl. 674, im folgenden: AAW) und in der Wet op de Arbeidsongeschiktheidsverzekering vom 18. Februar 1966 (Gesetz über die Arbeitsunfähigkeitsversicherung, Stbl. 84, im folgenden: WAO).
4 Mit der am 1. Oktober 1976 in Kraft getretenen AAW wurde eine Invaliditätspflichtversicherung für alle Einwohner der Niederlande geschaffen. Der Erwerb des Anspruchs auf Leistungen sowie deren Berechnung hängen nicht von der Dauer der Versicherungszeiten ab. Allerdings gilt seit dem 1. Januar 1980 gemäß Artikel 6 Absätze 1 und 2, daß der Versicherte, der diese Leistungen in Anspruch nehmen möchte, im Jahr vor dem Eintritt der Arbeitsunfähigkeit ein Einkommen aus einer Tätigkeit im Erwerbs- und Berufsleben oder in Verbindung mit einer solchen Tätigkeit in einer bestimmten Höhe erzielt haben muß.
5 Mit der am 1. Juli 1967 in Kraft getretenen WAO wurde eine Invaliditätspflichtversicherung für Arbeitnehmer geschaffen. Auch in diesem System sind der Leistungsanspruch und seine Höhe von der Dauer der Versicherungszeiten unabhängig. Für die Bewilligung einer Leistung nach diesem Gesetz ist jedoch Voraussetzung, daß der Betroffene diesen Rechtsvorschriften unterliegt, d. h., daß er bei Eintritt des Versicherungsfalls eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausübte. Ist dies der Fall, so erhält der Versicherte die Leistungen indessen erst, nachdem er 52 Wochen lang ununterbrochen arbeitsunfähig war. Der Leistungsbetrag wird nach dem Grad der Erwerbsminderung und nach dem nach oben begrenzten Betrag des Arbeitsentgelts pro Tag berechnet.
6 Zu der Zeit, als sich der dem Ausgangsverfahren zugrunde liegende Sachverhalt ereignete, wurden im Fall der gleichzeitigen Beantragung beider Leistungsarten die Leistungen nach der WAO nur gezahlt, wenn und soweit ihr Betrag die Leistungen nach der AAW überstieg. Allerdings hatte ein Empfänger von Leistungen nach der WAO, wenn er aus irgendeinem Grunde keine Leistungen nach der AAW beanspruchen konnte, auf die nach der WAO geschuldeten Leistungen Anspruch in voller Höhe.
7 V. A. Drake, ein tschechoslowakischer Staatsangehöriger, der nach einem Gesetz vom 20. Mai 1975 als Niederländer eingebürgert wurde, legte in dem drei Jahre und zwölf Tage umfassenden Zeitraum vom 24. Oktober 1968 bis 5. November 1971 Versicherungszeiten nach der WAO zurück. Vom 30. November 1971 bis 23. Oktober 1980 war er sodann infolge einer Erwerbstätigkeit in Deutschland der deutschen Invaliditätsversicherung angeschlossen. Aus dem Vorlagebeschluß geht hervor, daß er seit dem 24. Oktober 1980 ° und bis zum 1. Juli 1984 ° keine Berufstätigkeit mehr ausübte und auch in keinem dieser beiden Länder Leistungen mit Lohnersatzfunktion erhielt.
8 Mit Bescheid vom 24. März 1986 wurde die Erwerbsunfähigkeit von V. A. Drake im Sinne der deutschen Rechtsvorschriften festgestellt, und ihm wurde mit Wirkung vom 1. Juli 1984 eine auf der Grundlage der in Deutschland zurückgelegten Versicherungszeiten berechnete Erwerbsunfähigkeitsrente bewilligt.
9 Im Hinblick auf seine frühere Arbeitnehmertätigkeit in den Niederlanden stellte er auch in diesem Staat einen Antrag auf Leistungen bei Invalidität. Obgleich der zuständige niederländische Träger, die Nieuwe Algemene Bedrijfsvereniging (im folgenden: NAB), anerkannte, daß V. A. Drake seit dem 1. Juli 1984 als völlig arbeitsunfähig im Sinne der WAO und der AAW anzusehen sei, lehnte er dessen Antrag mit der Begründung ab, der Antragsteller habe keinen Anspruch auf Leistungen nach der WAO, da er bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit nicht Arbeitnehmer gewesen sei, und ihm stuenden auch nach der AAW keine Leistungen zu, da er in dem Jahr, das dem Eintritt der Arbeitsunfähigkeit vorausgegangen sei, kein Einkommen bezogen habe.
10 V. A. Drake klagte gegen den Bescheid der NAB beim Raad van Beroep Amsterdam; dieser gab seiner Klage statt. Gegen diese Entscheidung legte die NAB Berufung beim Centrale Raad van Beroep ein, nach dessen Auffassung für die Entscheidung des Rechtsstreits dem Gerichtshof die folgende Frage vorzulegen war:
Steht mit den Bestimmungen des EWG-Vertrages, insbesondere mit Artikel 51, eine Regelung in Einklang, wie sie in der Nummer 4 des Anhangs VI (Niederlande) der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 (in der zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt geltenden Fassung) enthalten ist, die zur Folge haben kann, daß das nationale Recht an einen (früheren) Arbeitnehmer im Sinne der Verordnung für den Erwerb eines Anspruchs auf Leistungen bei Invalidität nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats eine zusätzliche Anforderung stellt (im vorliegenden Fall Bezug von Arbeitseinkommen in dem Jahr vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit), die bei der Anwendung der nationalen gesetzlichen Regelung nicht gilt, als der noch unterliegend er gemäß Artikel 45 Absatz 4 der Verordnung (in der zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt geltenden Fassung) gilt?
11 Artikel 51 EWG-Vertrag lautet:
"Der Rat beschließt einstimmig auf Vorschlag der Kommission die auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit für die Herstellung der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer notwendigen Maßnahmen; zu diesem Zweck führt er insbesondere ein System ein, welches aus- und einwandernden Arbeitnehmern und deren anspruchsberechtigten Angehörigen folgendes sichert:
a) die Zusammenrechnung aller nach den verschiedenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften berücksichtigten Zeiten für den Erwerb und die Aufrechterhaltung des Leistungsanspruchs sowie für die Berechnung der Leistungen;
b) die Zahlung der Leistungen an Personen, die in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten wohnen."
12 Auf der Grundlage dieses Artikels erließ der Rat die Verordnung Nr. 1408/71 und zu ihrer Durchführung die Verordnung (EWG) Nr. 574/72 vom 21. März 1972 (ABl. L 74, S. 1), die hauptsächlich die Koordinierung der verschiedenen einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften bezwecken, um zu gewährleisten, daß sich aus der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer nicht ein Nachteil für die Arbeitnehmer, die von ihr Gebrauch machen, im Vergleich zu jenen ergibt, die ihre Erwerbstätigkeit in nur einem Mitgliedstaat ausüben.
13 Im Hinblick auf Leistungen bei Invalidität sah Artikel 45 Absatz 3 der Verordnung Nr. 1408/71 in der ursprünglichen Fassung (ABl. L 149, S. 2) folgendes vor:
"Ein Arbeitnehmer, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht mehr unterliegt, in denen weder für den Erwerb des Anspruchs noch für die Berechnung der Leistungen eine Versicherungsdauer vorgesehen ist, sondern die Gewährung der Leistungen davon abhängig gemacht wird, daß der Arbeitnehmer ihnen im Zeitpunkt des Versicherungsfalls noch unterliegt, gilt für die Anwendung dieses Kapitels als ihnen im Zeitpunkt des Versicherungsfalls noch unterliegend, sofern auf ihn in diesem Zeitpunkt die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats Anwendung finden oder, falls dies nicht zutrifft, sofern er Leistungsansprüche nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats nachweisen kann..."
14 Dieser Artikel 45 Absatz 3 sollte vor allem die Koexistenz der Systeme, die auf dem Erwerb des Leistungsanspruchs durch Eintritt des Versicherungsfalls beruhen, und der Systeme sicherstellen, die im Gegensatz dazu auf dem schrittweisen Aufbau des Leistungsanspruchs, also allein nach Maßgabe der Dauer der Versicherungszeiten, beruhen; er erlaubte Arbeitnehmern, die Leistungen bei Invalidität nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats erhielten, daher grundsätzlich, auch niederländische Leistungen nach der WAO in Anspruch zu nehmen.
15 Später wurde durch die Verordnung (EWG) Nr. 1390/81 des Rates vom 12. Mai 1981 zur Ausdehnung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 auf die Selbständigen und ihre Familienangehörigen (ABl. L 143, S. 1) die Nummer 4 des Anhangs VI Buchstabe I (jetzt J) eingefügt. Für die Anwendung der niederländischen Rechtsvorschriften über die Versicherung für den Fall der Arbeitsunfähigkeit schreibt diese Bestimmung vor, daß der zuständige Träger den Betrag der Geldleistungen
° gemäß der WAO festsetzt, wenn "der Betreffende im Zeitpunkt des Eintritts der Arbeitsunfähigkeit, die zur Invalidität geführt hat, Arbeitnehmer im Sinne von Artikel 1 Buchstabe a) der Verordnung" war (Buchstabe a), und
° gemäß der AAW, wenn "der Betreffende im Zeitpunkt des Eintritts der Arbeitsunfähigkeit, die zur Invalidität geführt hat, kein Arbeitnehmer im Sinne von Artikel 1 Buchstabe a) der Verordnung" war (Buchstabe b).
Ebenfalls durch diese Verordnung wurde Artikel 45 Absatz 3 zu Artikel 45 Absatz 4.
16 Seit der Einfügung der Regelung des Anhangs VI Buchstabe I (jetzt J) Nr. 4 haben nur die Arbeitnehmer Anspruch auf Leistungen nach der WAO, die bei Eintritt des Versicherungsfalls erwerbstätig waren. Es genügt somit nicht mehr, daß sie Leistungsansprüche nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats nachweisen können. Die Betroffenen, die bei Eintritt des Versicherungsfalls nicht mehr erwerbstätig waren, können nach Nummer 4 Buchstabe b des Anhangs VI nur die Leistungen nach der AAW beanspruchen, die ihrerseits voraussetzen, daß die Betroffenen im Jahr vor dem Eintritt der Arbeitsunfähigkeit ein Einkommen aus oder in Verbindung mit einer Erwerbstätigkeit in bestimmter Höhe bezogen haben.
17 Aus der fraglichen Regelung und dem Vorlagebeschluß ergibt sich, daß das vorlegende Gericht an der Gültigkeit der in Anhang VI Buchstabe I (jetzt J) Nr. 4 der Verordnung Nr. 1408/71 in der geänderten Fassung enthaltenen Bestimmung unter zwei Gesichtspunkten Zweifel hat.
18 Fraglich sei erstens, ob diese Bestimmung die Tragweite des Artikels 45 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1408/71 in der geänderten Fassung in rechtmässiger Weise einschränken könne, da sie ein neues Tatbestandsmerkmal, nämlich die Arbeitnehmereigenschaft bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit, einfüge, anhand dessen in Anwendung dieser Bestimmung festgelegt werden solle, aufgrund welcher niederländischen Rechtsvorschriften, der WAO oder der AAW, ein Leistungsanspruch erworben werden könne.
19 Zweitens sei fraglich, ob durch den Anhang VI Buchstabe I (jetzt J) Nr. 4, der insoweit auf die niederländischen Rechtsvorschriften verweise, in rechtmässiger Weise eine zusätzliche Anforderung wie der Bezug eines Arbeitseinkommens in bestimmter Höhe im Jahr vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit habe geschaffen werden können, da eine solche Anforderung nicht bei Anwendung der nationalen Rechtsvorschriften gestellt werde, als denen noch unterliegend der betroffene Arbeitnehmer nach Artikel 45 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1408/71 in der geänderten Fassung gelte.
Zum ersten Teil der Vorlagefrage
20 Zum ersten Teil der Vorlagefrage ist darauf hinzuweisen, daß zwischen den Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 in der geänderten Fassung einerseits und denen ihres Anhangs VI andererseits keine Rangordnung besteht. Vielmehr wurden alle diese Bestimmungen auf der Grundlage von Artikel 51 EWG-Vertrag erlassen, und sie sind daher im Zusammenhang miteinander im Lichte des Zwecks dieses Artikels auszulegen, der in der Herstellung grösstmöglicher Freizuegigkeit der Arbeitnehmer besteht, die eine der Grundlagen der Gemeinschaft darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. Mai 1990 in der Rechtssache C-293/88, Winter-Lutzins, Slg. 1990, I-1623, Randnr. 13, und vom 30. März 1993 in der Rechtssache C-282/91, De Wit, Slg. 1993, I-1221, Randnr. 16).
21 Daher beschränkt sich die zu prüfende Frage darauf, ob die in Anhang VI Buchstabe I (jetzt J) Nr. 4 der Verordnung Nr. 1408/71 in der geänderten Fassung festgelegten Modalitäten für die Anwendung der niederländischen Rechtsvorschriften über die Arbeitsunfähigkeit mit diesem Zweck vereinbar sind oder nicht.
22 Nach ständiger Rechtsprechung liefe es den Artikeln 48 bis 51 EWG-Vertrag zuwider, wenn Arbeitnehmer, die von ihrem Recht auf Freizuegigkeit Gebrauch gemacht haben, Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlören, die ihnen die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats sichern; ein solcher Verlust könnte Arbeitnehmer der Gemeinschaft davon abhalten, von ihrem Recht auf Freizuegigkeit Gebrauch zu machen, und würde somit diese Freizuegigkeit beeinträchtigen (vgl. Urteil vom 9. Dezember 1993 in den verbundenen Rechtssachen C-45/92 und C-46/92, Lepore und Scamuffa, Slg. 1993, I-6497, Randnr. 21).
23 Dies ist bei Anhang VI Buchstabe I (jetzt J) Nr. 4 der Verordnung Nr. 1408/71 in der geänderten Fassung nicht der Fall.
24 Eine Person, die ausschließlich in den Niederlanden eine Erwerbstätigkeit ausgeuebt und diese vor Eintritt des Versicherungsfalls beendet hat, befindet sich nämlich in der gleichen Lage wie eine Person, die von der Freizuegigkeit Gebrauch macht und früher sowohl einem auf dem Eintritt des Versicherungsfalls beruhenden System als auch einem auf dem schrittweisen Aufbau der Ansprüche beruhenden System unterlag. Darum hat die Situation einer Person wie V. A. Drake ihren Grund nicht darin, daß diese von der durch Artikel 48 gewährleisteten Freizuegigkeit der Arbeitnehmer Gebrauch gemacht hat, sondern sie ist durch die Beendigung ihrer Berufstätigkeit vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit bedingt.
25 Demnach laufen die in Anhang VI Buchstabe I (jetzt J) Nr. 4 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 in der geänderten Fassung festgelegten Modalitäten für die Anwendung der niederländischen Rechtsvorschriften über die Arbeitsunfähigkeit den Artikeln 48 bis 51 EWG-Vertrag nicht zuwider.
Zum zweiten Teil der Vorlagefrage
26 Zum zweiten Teil der Frage des vorlegenden Gerichts, der die Rechtmässigkeit der Einführung einer zusätzlichen Anforderung wie des Bezugs von Arbeitseinkommen in bestimmter Höhe im Jahr vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit betrifft, genügt der Hinweis, daß Artikel 51 EWG-Vertrag und die Verordnung Nr. 1408/71 nach ständiger Rechtsprechung lediglich die Zusammenrechnung der in verschiedenen Mitgliedstaaten zurückgelegten Versicherungszeiten vorsehen und nicht die Voraussetzungen für die Entstehung dieser Versicherungszeiten regeln. Es ist daher Sache jedes Mitgliedstaats, durch den Erlaß von Rechtsvorschriften die Voraussetzungen festzulegen, unter denen eine Person einem System der sozialen Sicherheit beitreten kann oder muß, solange es dabei nicht zu einer diskriminierenden Unterscheidung zwischen Inländern und Angehörigen der anderen Mitgliedstaaten kommt (vgl. Urteil vom 4. Oktober 1991 in der Rechtssache C-349/87, Paraschi, Slg. 1991, I-4501, Randnr. 15).
27 Folglich ist es einem nationalen Gesetzgeber nach dem Gemeinschaftsrecht nicht untersagt, die Voraussetzungen für die Gewährung einer Invaliditätsrente zu ändern, auch wenn er sie dadurch verschärft, sofern diese Voraussetzungen keine offene oder versteckte Diskriminierung von Arbeitnehmern der Gemeinschaft bewirken.
28 Bei dem vom niederländischen Gesetzgeber als Anspruchsvoraussetzung für Leistungen nach der AAW festgelegten Einkommenserfordernis handelt es sich um eine objektive Voraussetzung, die unterschiedslos für inländische Arbeitnehmer und solche aus anderen Mitgliedstaaten gilt. Daher läuft es dem Gemeinschaftsrecht nicht zuwider, daß dieses Erfordernis zur Voraussetzung für die Gewährung einer niederländischen Rente wegen Arbeitsunfähigkeit gemacht wird.
29 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, daß ihre Prüfung nichts ergeben hat, was die Gültigkeit des Anhangs VI Buchstabe I (jetzt J) Nr. 4 der Verordnung Nr. 1408/71 in der geänderten Fassung beeinträchtigen könnte.
Kostenentscheidung:
Kosten
30 Die Auslagen der niederländischen und der griechischen Regierung sowie des Rates der Europäischen Union und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Tenor:
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm vom Centrale Raad van Beroep mit Beschluß vom 5. Januar 1993 vorgelegte Frage für Recht erkannt:
Die Prüfung der vorgelegten Frage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit des Anhangs VI Buchstabe I (jetzt J) Nr. 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 kodifizierten Fassung beeinträchtigen könnte.
Ende der Entscheidung
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