Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 13.10.1993
Aktenzeichen: C-121/92
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag, VO 1408/71


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 177
VO 1408/71 Art. 2
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Aus Anhang I Teil I der Verordnung Nr. 1408/71, wonach als Selbständiger im Sinne des Artikels 1 Buchstabe a Ziffer ii der Verordnung gilt, wer eine Tätigkeit oder einen Beruf ausserhalb eines Arbeitsvertrags ausübt, ergibt sich, daß die Selbständigeneigenschaft nicht voraussetzt, daß der Betroffene in diesem Mitgliedstaat wohnt.

Demnach fällt ein deutscher Staatsangehöriger, der in Deutschland wohnt und eine selbständige Tätigkeit jeweils etwa zur Hälfte in Deutschland und in den Niederlanden ausübt, als Selbständiger in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71, obwohl er das aufgrund der niederländischen Rechtsvorschriften für den Anschluß an das niederländische System der sozialen Sicherheit geltende Wohnsitzerfordernis nicht erfuellt.

2. Artikel 14a der Verordnung Nr. 1408/71 ist dahin auszulegen, daß für einen deutschen Staatsangehörigen, der in Deutschland wohnt und eine selbständige Tätigkeit jeweils etwa zur Hälfte in Deutschland und in den Niederlanden ausübt, die deutschen Rechtsvorschriften gelten.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (SECHSTE KAMMER) VOM 13. OKTOBER 1993. - STAATSSECRETARIS VAN FINANCIEN GEGEN A. ZINNECKER. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: HOGE RAAD - NIEDERLANDE. - SOZIALE SICHERHEIT DER WANDERARBEITNEHMER - BESTIMMUNG DER ANWENDBAREN RECHTSVORSCHRIFTEN. - RECHTSSACHE C-121/92.

Entscheidungsgründe:

1 Der Hoge Raad der Nederlanden hat mit Urteil vom 8. April 1992, beim Gerichtshof eingegangen am 15. April 1992, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag mehrere Fragen nach der Auslegung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 149, S. 2), in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 1390/81 des Rates vom 12. Mai 1981 zur Ausdehnung der Verordnung Nr. 1408/71 auf die Selbständigen und ihre Familienangehörigen (ABl. L 143, S. 1) geänderten und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) kodifizierten Fassung zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen A. Zinnecker (im folgenden: Kläger) und dem Staatssecretaris van Financiën (im folgenden: Beklagter) über einen Betrag von 3 407 HFL, den der Beklagte vom Kläger als Sozialversicherungsbeitrag fordert.

3 Aus dem Vorlageurteil ergibt sich, daß der Kläger, der die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, im Jahr 1982 in der Bundesrepublik Deutschland wohnte und als Selbständiger etwa je zur Hälfte seiner Tätigkeit in den Niederlanden und in der Bundesrepublik Deutschland Eßwarenstände betrieb.

4 Während dieser Zeit war der Kläger in Deutschland weder pflichtversichert noch freiwillig versichert, da er keine dahin gehende Erklärung abgegeben hatte. Weil er nicht in den Niederlanden wohnte, war er auch dort nicht versichert.

5 Dennoch setzten die zuständigen niederländischen Behörden gegenüber dem Kläger einen Sozialversicherungsbeitrag für das Jahr 1982 fest. Auf seine Beschwerde wurde der ursprünglich geforderte Betrag vom Inspecteur der Belastingen herabgesetzt.

6 Der Gerechtshof Den Haag hob auf die Klage des Klägers die Entscheidung des Inspecteur und den fraglichen Festsetzungsbescheid auf.

7 Der Beklagte legte dagegen Kassationsbeschwerde zum Hoge Raad der Nederlanden ein. Da dieser der Auffassung ist, daß der Ausgang des Rechtsstreits von der Auslegung der Verordnung Nr. 1408/71 abhängt, hat er das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1) Ist die Frage, ob eine Person Selbständiger im Sinne der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates der Europäischen Gemeinschaften über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, nach der für die Niederlande oder nach der für Deutschland geltenden Bestimmung des Begriffs Selbständige in Artikel 1 Buchstabe a Ziffer ii der Verordnung in Verbindung mit Anhang I Teil I Buchstabe C (Deutschland) und Buchstabe I (Niederlande) zu beantworten, wenn die betreffende Person im zweiten Halbjahr 1982 ihren Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland hatte und ihre Tätigkeit oder ihren Beruf ausserhalb eines Arbeitsvertrags sowohl in der Bundesrepublik Deutschland ° wo sie nicht im Rahmen eines Systems der sozialen Sicherheit pflichtversichert war, da sie nicht Arbeitnehmer war und auch keiner Arbeitnehmern gleichgestellten Berufsgruppe angehörte, und wo sie auch nicht freiwillig versichert war ° als auch in den Niederlanden in etwa gleichem Umfang ausübte?

2) Falls die erste Frage so zu beantworten ist, daß nicht nur die für Deutschland, sondern auch oder ausschließlich die für die Niederlande geltende Begriffsbestimmung maßgeblich ist, steht dann der Umstand, daß die in der ersten Frage genannte Person nach den niederländischen Rechtsvorschriften nicht pflichtversichert ist, da sie im Inland keinen Wohnsitz hat, der Anwendbarkeit von Artikel 1 Buchstabe a Ziffer ii in Verbindung mit Anhang I Teil I Buchstabe I (Niederlande) auf diese Person entgegen?

3) Falls die Antwort auf die Fragen 1 und 2 ergibt, daß die in der ersten Frage genannte Person ausschließlich auf der Grundlage ihrer Tätigkeit in den Niederlanden als Selbständiger angesehen werden darf, ist dann dennoch die in der Bundesrepublik Deutschland ausgeuebte Tätigkeit für die Anwendung von Artikel 14a Absatz 2 der Verordnung mit zu berücksichtigen, was zur Folge hätte, daß für die betreffende Person die Rechtsvorschriften des letztgenannten Staates gälten, oder ist ausschließlich die Tätigkeit in den Niederlanden zu berücksichtigen, was zur Folge hätte, daß für sie gemäß Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe b die Rechtsvorschriften der Niederlande gälten?

4) Falls die in den vorstehenden Fragen genannte Person den niederländischen Rechtsvorschriften unterliegt, wonach sie gegebenenfalls unter das System der "Volksverzekeringen" fällt, zu dem ausschließlich Personen mit Wohnsitz im Inland zugelassen sind, hat diese Person dann, obwohl sie keinen Wohnsitz im Inland hat, für die Anwendung dieses Systems gemäß Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe b der Verordnung als versichert zu gelten?

5) Falls die Frage 4 bejaht wird:

Ist die dort genannte Person in den Niederlanden ausschließlich während des Zeitraums versichert, in dem sie die Tätigkeit im Gebiet der Niederlande ausübt?

8 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, der fraglichen gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen, des Verfahrensablaufs und der vor dem Gerichtshof abgegebenen schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

Zur ersten und zur zweiten Frage

9 Mit seinen ersten beiden Fragen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob ein deutscher Staatsangehöriger, der in Deutschland wohnt und eine selbständige Tätigkeit jeweils etwa zur Hälfte in Deutschland und in den Niederlanden ausübt, in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fällt, wenn er weder in Deutschland noch in den Niederlanden versichert ist, weil in Deutschland für Selbständige nur eine freiwillige Rentenversicherung vorgesehen ist und der Betroffene nicht die zum Eintritt in diese Versicherung notwendige Erklärung abgegeben hat, während er in den Niederlanden das in den nationalen Rechtsvorschriften aufgestellte Wohnsitzerfordernis nicht erfuellt.

10 Der persönliche Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 ist in ihrem Artikel 2 geregelt. Nach Artikel 2 Absatz 1 gilt die Verordnung für "Arbeitnehmer und Selbständige, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind". Ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats fällt also nur dann in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung, wenn er dem System der sozialen Sicherheit eines oder mehrerer Mitgliedstaaten angehört oder angehört hat. Im vorliegenden Fall genügt es, daß für den Selbständigen die Rechtsvorschriften eines der beiden in Frage kommenden Staaten, der Niederlande oder Deutschlands, gelten.

11 Was die niederländischen Rechtsvorschriften betrifft, so geht aus dem Vorlageurteil hervor, daß der Kläger während der entscheidungserheblichen Zeit auch in den Niederlanden als Selbständiger tätig und dort nicht versicherungspflichtig war, weil er das Wohnsitzerfordernis der nationalen Rechtsvorschriften nicht erfuellte. Das vorlegende Gericht stellt daher im Kern die Frage, ob der Kläger trotzdem als Selbständiger angesehen werden kann, der auf der Grundlage der niederländischen Rechtsvorschriften in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung fällt.

12 Im Anhang I Teil I der Verordnung Nr. 1408/71 ist für die Niederlande vorgesehen, daß als Selbständiger im Sinne des Artikels 1 Buchstabe a Ziffer ii der Verordnung gilt, wer eine Tätigkeit oder einen Beruf ausserhalb eines Arbeitsvertrags ausübt. Nach dieser Bestimmung braucht also der Betroffene, um Selbständiger zu sein, nicht unbedingt in den Niederlanden zu wohnen.

13 Folglich ist der Kläger, obwohl er das Wohnsitzerfordernis der niederländischen Rechtsvorschriften nicht erfuellt, als Selbständiger anzusehen, der in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung fällt.

14 Nach dieser Feststellung braucht nicht geprüft zu werden, ob für den Kläger auch die deutschen Rechtsvorschriften gelten.

15 Daher ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, daß die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 dahin auszulegen ist, daß ein deutscher Staatsangehöriger, der in Deutschland wohnt und eine selbständige Tätigkeit jeweils etwa zur Hälfte in Deutschland und in den Niederlanden ausübt, in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung fällt.

Zur dritten Frage

16 Mit der dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, welche nationalen Rechtsvorschriften für eine Person gelten, die sich in der oben beschriebenen Lage befindet.

17 Nach Absatz 2 des Artikels 14a der Verordnung Nr. 1408/71, der eine Sonderregelung für andere Personen als Seeleute enthält, die eine selbständige Tätigkeit ausüben, unterliegt in Abweichung von Artikel 13 Absatz 2 der Verordnung "eine Person, die eine selbständige Tätigkeit gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten ausübt,... den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sie wohnt, wenn sie ihre Tätigkeit zum Teil im Gebiet dieses Mitgliedstaats ausübt".

18 Folglich ist auf die dritte Frage zu antworten, daß unter den Voraussetzungen, wie sie im Ausgangsrechtsstreit vorliegen, die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats gelten, in dem der Selbständige wohnt.

19 Angesichts der Antworten auf die ersten drei Fragen brauchen die vierte und die fünfte Frage nicht beantwortet zu werden.

Kostenentscheidung:

Kosten

20 Die Auslagen der niederländischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

auf die ihm vom Hoge Raad der Nederlanden mit Urteil vom 8. April 1992 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1) Die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 ist dahin auszulegen, daß ein deutscher Staatsangehöriger, der in Deutschland wohnt und eine selbständige Tätigkeit jeweils etwa zur Hälfte in Deutschland und in den Niederlanden ausübt, in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung fällt.

2) Artikel 14a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 ist dahin auszulegen, daß für einen solchen Selbständigen die deutschen Rechtsvorschriften gelten.

Ende der Entscheidung

Zurück