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Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 30.01.1997
Aktenzeichen: C-139/95
Rechtsgebiete: Richtlinie 79//EWG vom 19.12.1978, EGV
Vorschriften:
Richtlinie 79//EWG vom 19.12.1978 Art. 7 Abs. 1 | |
Richtlinie 79//EWG vom 19.12.1978 Art. 3 Abs. 1 | |
EGV Art. 119 Abs. 2 |
3 Vorruhestandsleistungen, die aufgrund des Eintritts in einen vorzeitigen Ruhestand gewährt werden, hängen unmittelbar und effektiv mit dem in Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 genannten Schutz gegen das Altersrisiko zusammen, so daß sie in den Geltungsbereich dieser Richtlinie fallen. Aufgrund der blossen Tatsache, daß der Eintritt in den vorzeitigen Ruhestand die direkte Folge der Krise darstellt, in der sich das Unternehmen befindet, bei dem der betreffende Arbeitnehmer zuletzt beschäftigt war, können solche Leistungen nicht als mit Leistungen bei Entlassung vergleichbar angesehen werden, wenn sie unmittelbar durch eine nationale Rechtsvorschrift geregelt und für bestimmte, allgemein umschriebene Gruppen von Arbeitnehmern zwingend sind.
4 Hat ein Mitgliedstaat gemäß Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 79/7 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit ein je nach dem Geschlecht unterschiedliches Rentenalter festgesetzt, so kann er nach dieser Vorschrift auch bestimmen, daß die Arbeitnehmer eines zum Krisenunternehmen erklärten Unternehmens für die Zeit von ihrem Eintritt in den vorzeitigen Ruhestand bis zur Erreichung des Alters, in dem sie eine Altersrente verlangen können - also 55 Jahre für Frauen und 60 Jahre für Männer -, Anspruch auf eine Gutschrift zusätzlicher Rentenbeiträge bis zur Hoechstgrenze von fünf Jahren haben, weil die bei der Methode zur Berechnung der Vorruhestandsleistungen vorgenommene Unterscheidung nach dem Geschlecht objektiv und notwendig mit der Festsetzung eines für Männer und Frauen unterschiedlichen Rentenalters verbunden ist.
Diese objektiv mit der Festsetzung eines für Männer und Frauen unterschiedlichen Rentenalters verbundene Diskriminierung im Rahmen einer Vorruhestandsregelung, die die Benachteiligung des Arbeitnehmers, der den Arbeitsmarkt vor Erreichung des gesetzlichen Rentenalters verlässt, dadurch verhindert, daß ihm für die Zeit zwischen der tatsächlichen Aufgabe seiner Erwerbstätigkeit und dem gesetzlichen Rentenalter fiktive Beiträge gutgeschrieben werden, erfolgt nämlich wegen der Kohärenz zwischen der Altersrenten- und der Vorruhestandsregelung und ist für die Wahrung dieser Kohärenz notwendig, da ihre Aufhebung zu anderen Diskriminierungen führen könnte.
Urteil des Gerichtshofes (Fünfte Kammer) vom 30. Januar 1997. - Livia Balestra gegen Istituto nazionale della previdenza sociale (INPS). - Ersuchen um Vorabentscheidung: Pretura circondariale di Genova - Italien. - Richtlinien 76/207/EWG und 79/7/EWG - Gleichbehandlung von Männern und Frauen - Berechnung zusätzlich gutgeschriebener Rentenbeiträge. - Rechtssache C-139/95.
Entscheidungsgründe:
1 Die Pretura circondariale Genua hat mit Beschluß vom 19. April 1995, beim Gerichtshof eingegangen am 2. Mai 1995, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung der Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen (ABl. L 39, S. 40) und der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (ABl. 1979, L 6, S. 24) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Frau Balestra, einer ehemaligen Arbeitnehmerin eines zum Krisenunternehmen erklärten Unternehmens, und dem Istituto nazionale della previdenza sociale (INPS - Staatliche Anstalt für soziale Vorsorge) über die Berechnung der Rentenbeiträge, die ihr das INPS in Anwendung der gesetzlichen Vorruhestandsregelung zusätzlich gutgeschrieben hat.
3 Die zur Zeit der Ereignisse des Ausgangsverfahrens in Italien anwendbare Regelung stellt sich wie folgt dar. Die Vorschriften bezueglich des Rentenalters ergeben sich aus Artikel 9 des Gesetzes Nr. 218 vom 4. April 1952 (Suppl. ord. GURI Nr. 89 vom 15. April 1952). Danach können männliche Arbeitnehmer mit Vollendung des 60. und weibliche Arbeitnehmer mit Vollendung des 55. Lebensjahres in den Ruhestand treten; Voraussetzung dafür ist in beiden Fällen, daß sie mindestens 15 Jahre lang Beiträge entrichtet haben und ihnen mindestens 180 Monats- oder 780 Wochenbeiträge gutgeschrieben worden sind.
4 Besondere Vorschriften gelten für die Arbeitnehmer von Unternehmen, die gemäß dem Gesetz Nr. 675 vom 12. August 1977 (GURI Nr. 243) vom Comitato Interministeriale per il Coordinamento della Politica Industriale (CIPI - Interministerieller Koordinierungsausschuß für Industriepolitik) zu Krisenunternehmen erklärt worden sind.
5 Nach dem Gesetz Nr. 155 vom 23. April 1981 (Suppl. ord. GURI Nr. 114; im folgenden: Gesetz Nr. 155/1981) können diese Arbeitnehmer mit Vollendung des 55. Lebensjahres bei Männern und des 50. Lebensjahres bei Frauen vorzeitig in den Ruhestand treten. Artikel 16 dieses Gesetzes bestimmt, daß bei den Arbeitnehmern der durch das CIPI zu Krisenunternehmen erklärten Unternehmen, "die das 55. Lebensjahr bei Männern und das 50. Lebensjahr bei Frauen vollendet haben und 180 Monatsbeiträge zur allgemeinen Invaliditäts-, Alters- und Hinterbliebenen-Pflichtversicherung geleistet haben", die Rente anhand der tatsächlichen Beitragsdauer zuzueglich eines Zeitraums berechnet wird, der der Zeit zwischen dem Tag der Beendigung ihres Arbeitsvertrags und ihrem 60. Geburtstag bei Männern oder 55. Geburtstag bei Frauen entspricht (zusätzlich gutgeschriebene Rentenbeiträge).
6 Zum Vorruhestand gibt es ausser dem Gesetz Nr. 155/1981 und seinen späteren Änderungen noch Sonderregelungen für Arbeitnehmer bestimmter Wirtschaftszweige. Aus den Akten geht hervor, daß sich Frau Balestra im Ausgangsverfahren auf die für die Arbeitnehmer des Stahlsektors geltende Regelung berufen hat. Sie hat nämlich beantragt, die in diesem Sektor geltenden Vorschriften entsprechend auf sie anzuwenden.
7 Für die Arbeitnehmer des Stahlsektors galt zunächst die Regel, daß das in Artikel 16 des Gesetzes Nr. 155/1981 genannte Vorruhestandsalter der Arbeitnehmer von Unternehmen, die zu Krisenunternehmen erklärt werden (55 Jahre für Männer und 50 Jahre für Frauen), für alle Arbeitnehmer, Männer wie Frauen, auf 50 Jahre festgesetzt war (Artikel 1 des Gesetzes Nr. 193 vom 31. Mai 1984, GURI Nr. 153 vom 5. Juni 1984).
8 Im Urteil Nr. 371 vom 6. Juli 1989 (GURI 1. serie speciale Nr. 28 vom 12. Juli 1989) stellte die Corte costituzionale die Verfassungswidrigkeit des Artikels 16 des Gesetzes Nr. 155/1981 in Verbindung mit dem Gesetz Nr. 193/1984 fest, da die im Stahlsektor beschäftigten Frauen, wenn sie mit 50 Jahren in den Vorruhestand traten, durch eine zusätzliche Gutschrift von Rentenbeiträgen nicht die gleiche Beitragsdauer erreichen konnten wie ein männlicher Arbeitnehmer, für den das Rentenalter auf 60 Jahre festgesetzt ist, während es für Frauen 55 Jahre beträgt. In diesem Urteil hat die Corte costituzionale auf den Grundsatz hingewiesen, daß Frauen und Männer bis zum gleichen Lebensalter erwerbstätig sein könnten.
9 Später wurde eine neue Sonderregel eingeführt, wonach die im Stahlsektor beschäftigten Frauen mit Vollendung des 47. Lebensjahres in den Vorruhestand treten konnten, sofern sie 300 Monatsbeiträge entrichtet hatten (Artikel 5 Absatz 5 des Decreto-legge Nr. 536 vom 30. Dezember 1987, GURI Nr. 304 vom 31. Dezember 1987, das in das Gesetz Nr. 48 vom 29. Februar 1988, GURI Nr. 50 vom 1. März 1988, übergeführt wurde); für Männer blieb es bei der Altersgrenze von 50 Jahren.
10 Im Urteil Nr. 503 vom 30. Dezember 1991 (GURI 1. serie speciale Nr. 2 vom 8. Januar 1992) führte die Corte costituzionale aus, daß diese Möglichkeit für die weiblichen Arbeitnehmer des Stahlsektors, vom vollendeten 47. Lebensjahr an in den Vorruhestand zu treten, mit dem Anspruch auf eine Gutschrift zusätzlicher Rentenbeiträge von der Beendigung ihres Arbeitsvertrags bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres (bis zu dem sowohl Frauen als auch Männer das Recht haben, berufstätig zu sein), verbunden sein müsse, jedoch wie bei den Männern nur bis zu 10 Jahren. Hierzu ist zu bemerken, daß sich bei Anwendung des Artikels 16 des Gesetzes Nr. 155/1981 auf den Stahlsektor für Frauen von der (mit Vollendung des 47. Lebensjahres möglichen) Beendigung ihres Arbeitsvertrags bis zum Rentenalter (55 Jahre) eine Beitragsgutschrift von höchstens acht Jahren ergeben hätte, während für Männer von der (mit Vollendung des 50. Lebensjahres möglichen) Beendigung ihres Arbeitsvertrags bis zum Rentenalter (60 Jahre) bis zu zehn Jahre gutgeschrieben werden; der Unterschied in der Beitragsgutschrift von zwei Jahren ergibt sich daraus, daß das Vorruhestandsalter für Frauen nur um drei Jahre niedriger lag als das für Männer.
11 Frau Balestra ist eine ehemalige Arbeitnehmerin eines Unternehmens, das vom CIPI zum Krisenunternehmen erklärt wurde. Im Zusammenhang damit schied sie aus diesem Unternehmen aus und trat aufgrund der für Frauen zwischen 50 und 55 Jahren geltenden Vorruhestandsregelung in den Ruhestand.
12 Da sie im Alter von 54 Jahren und 7 Monaten ausgeschieden war, wurden ihr vom INPS gemäß Artikel 16 des Gesetzes Nr. 155/1981 fünf Beitragsmonate gutgeschrieben, die dem Zeitraum bis zur Vollendung des 55. Lebensjahres entsprachen, von dem an ein weiblicher Arbeitnehmer in Italien in den Ruhestand treten konnte.
13 Am 13. April 1993 erhob Frau Balestra beim vorlegenden Gericht Klage mit dem Antrag, dem INPS aufzugeben, ihr zusätzliche Beiträge bis zu der im Gesetz Nr. 155/1981 vorgesehenen Hoechstgrenze von fünf Jahren gutzuschreiben. Dabei stützte sie sich auf die vorgenannte Rechtsprechung der Corte costituzionale in bezug auf die Arbeitnehmer des Stahlsektors.
14 Das INPS trat ihrem Antrag mit der Begründung entgegen, daß sie den Arbeitsvertrag durch freiwilliges Ausscheiden beendet habe und daß Artikel 16 des Gesetzes Nr. 155/1981 für Männer und Frauen gleiche Beitragsgutschriften vorsehe; der einzige Unterschied ergebe sich aus dem unterschiedlichen Alter, in dem Männer und Frauen in den Ruhestand treten könnten. Nach Ansicht des INPS hätten Frau Balestra aufgrund der genannten Rechtsprechung der Corte costituzionale zusätzliche Beitragsjahre nur gewährt werden können, wenn sie Arbeitnehmerin eines Unternehmens des Stahlsektors gewesen wäre, für den eine Sonderregelung gilt.
15 Frau Balestra trug vor, Artikel 16 des Gesetzes Nr. 155/1981 verstosse gegen den in den Richtlinien 76/207 und 79/7 aufgestellten Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen.
16 Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie 76/207 bestimmt:
"Diese Richtlinie hat zum Ziel, daß in den Mitgliedstaaten der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, einschließlich des Aufstiegs, und des Zugangs zur Berufsbildung sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen und in bezug auf die soziale Sicherheit unter den in Absatz 2 vorgesehenen Bedingungen verwirklicht wird. Dieser Grundsatz wird im folgenden als "Grundsatz der Gleichbehandlung" bezeichnet."
17 Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie lautet:
"Die Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung hinsichtlich der Arbeitsbedingungen einschließlich der Entlassungsbedingungen beinhaltet, daß Männern und Frauen dieselben Bedingungen ohne Diskriminierung auf Grund des Geschlechts gewährt werden."
18 Artikel 1 Absatz 2 der Richtlinie sieht vor:
"Der Rat erlässt im Hinblick auf die schrittweise Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit auf Vorschlag der Kommission Bestimmungen, in denen dazu insbesondere der Inhalt, die Tragweite und die Anwendungsmodalitäten angegeben sind."
19 Aufgrund dieser Vorschrift erließ der Rat die Richtlinie 79/7, die nach ihrem Artikel 1 zum Ziel hat, daß auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit und der sonstigen Bestandteile der sozialen Sicherung der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit schrittweise verwirklicht wird.
20 Gemäß ihrem Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe a findet die Richtlinie 79/7 Anwendung
"auf die gesetzlichen Systeme, die Schutz gegen folgende Risiken bieten:
- Krankheit, - Invalidität, - Alter, - Arbeitsunfall und Berufskrankheit, - Arbeitslosigkeit".
21 Die in Artikel 1 der Richtlinie 79/7 genannte Zielsetzung wird in Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie wie folgt konkretisiert:
"Der Grundsatz der Gleichbehandlung beinhaltet den Fortfall jeglicher unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, insbesondere unter Bezugnahme auf den Ehe- oder Familienstand, und zwar im besonderen betreffend:
- den Anwendungsbereich der Systeme und die Bedingungen für den Zugang zu den Systemen,
- die Beitragspflicht und die Berechnung der Beiträge,
- die Berechnung der Leistungen, einschließlich der Zuschläge für den Ehegatten und für unterhaltsberechtigte Personen, sowie die Bedingungen betreffend die Geltungsdauer und die Aufrechterhaltung des Anspruchs auf die Leistungen."
22 Gemäß Artikel 7 Absatz 1 steht die Richtlinie 79/7
"... nicht der Befugnis der Mitgliedstaaten entgegen, folgendes von ihrem Anwendungsbereich auszuschließen:
a) die Festsetzung des Rentenalters für die Gewährung der Altersrente oder Ruhestandsrente und etwaige Auswirkungen daraus auf andere Leistungen..."
23 Da das vorlegende Gericht der Ansicht war, daß für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits eine Auslegung dieser Vorschriften erforderlich sei, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Verstösst die Festsetzung unterschiedlicher Altersgrenzen für männliche und weibliche Arbeitnehmer im Hinblick auf den vorzeitigen Eintritt in den Ruhestand gemäß Artikel 16 des Gesetzes Nr. 155/81, auf die Auflösung des Arbeitsverhältnisses und die Berechnung der Vorruhestandsleistungen gegen die oben genannten Gemeinschaftsrichtlinien (Artikel 1, 2, 3, 4 und 5 der Richtlinie 79/7/EWG und Artikel 1, 2 und 5 der Richtlinie 76/207/EWG)?
2. Verstösst die unterschiedliche Behandlung (im Hinblick auf das individuelle Arbeitsverhältnis und die soziale Sicherheit), die sich aus der Festsetzung unterschiedlicher Altersgrenzen ergibt, gegen die genannten Vorschriften dieser Gemeinschaftsrichtlinien in einer Rechtsordnung - wie der italienischen -, in der die (für die Zwecke des vorzeitigen Eintritts in den Ruhestand allein relevante) Altersgrenze sowohl für Männer als auch für Frauen auf 60 Jahre festgesetzt ist?
24 Ausweislich der Akten verlangt die Klägerin des Ausgangsverfahrens die Gutschrift zusätzlicher Rentenbeiträge für fünf Jahre nach ihrem Eintritt in den vorzeitigen Ruhestand; bei der Berechnung soll somit die Grenze unberücksichtigt bleiben, die sich nach Artikel 16 des Gesetzes Nr. 155/1981 aus dem Rentenalter für Frauen (55 Jahre) ergibt. Zur Begründung weist die Klägerin darauf hin, daß in Italien die Frauen ebenso wie die Männer das Recht hätten, bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres zu arbeiten.
25 Das vorlegende Gericht möchte daher im wesentlichen wissen, ob es dem Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen entspricht, wenn bei der Berechnung der Vorruhestandsleistungen je nach dem Geschlecht unterschiedliche Altersgrenzen für den Eintritt in den Ruhestand berücksichtigt werden, genauer, ob ein Mitgliedstaat, wenn er gemäß Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 79/7 ein je nach dem Geschlecht unterschiedliches Rentenalter festgesetzt hat, nach dieser Vorschrift auch bestimmen kann, daß die Arbeitnehmer eines zum Krisenunternehmen erklärten Unternehmens für die Zeit von ihrem Eintritt in den vorzeitigen Ruhestand bis zur Erreichung des Alters, in dem sie eine Altersrente verlangen können - also 55 Jahre für Frauen und 60 Jahre für Männer -, Anspruch auf eine Gutschrift zusätzlicher Rentenbeiträge bis zur Hoechstgrenze von fünf Jahren haben.
26 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes fallen die durch Gesetz geregelten Leistungen der sozialen Sicherheit, die zwingend für allgemein umschriebene Gruppen von Arbeitnehmern gelten, nicht unter den Begriff des Entgelts im Sinne von Artikel 119 Absatz 2 des Vertrages (vgl. Urteile vom 25. Mai 1971 in der Rechtssache 80/70, Defrenne, Slg. 1971, 445, Randnrn. 7 und 8, vom 17. Mai 1990 in der Rechtssache C-262/88, Barber, Slg. 1990, I-1889, Randnrn. 22 und 23, und vom 17. Februar 1993 in der Rechtssache C-173/91, Kommission/Belgien, Slg. 1993, I-673, Randnr. 14). Dagegen fallen die gesetzlichen Leistungen der sozialen Sicherheit in den Anwendungsbereich der Richtlinie 79/7.
27 Im vorliegenden Fall fragt sich das vorlegende Gericht jedoch, ob in Anbetracht der Tatsache, daß Artikel 16 des Gesetzes Nr. 155/1981 für Arbeitsverhältnisse innerhalb von Krisenunternehmen gilt, der Vorruhestand für den Arbeitnehmer nicht eher ein Zwang als eine Wahlmöglichkeit sei, da der Arbeitnehmer andernfalls sowohl seinen Rentenanspruch als auch seinen Arbeitsplatz verliere.
28 In diesem Fall sei der Vorruhestand mit einer Entlassung vergleichbar, wobei der Begriff der Entlassung in dem Sinne weit zu verstehen sei, daß er auch die Beendigung des Arbeitsverhältnisses umfasse, wenn sie im Rahmen einer Vorruhestandsregelung erfolge. Anwendbar sei daher die Richtlinie 76/207, nach deren Artikel 5 Absatz 1 Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts hinsichtlich der Entlassungsbedingungen verboten seien.
29 Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Auch wenn der Eintritt in den vorzeitigen Ruhestand die direkte Folge der Krise darstellt, in der sich das Unternehmen befindet, bei dem der betreffende Arbeitnehmer zuletzt beschäftigt war, so sind doch die gewährten Vorruhestandsleistungen unmittelbar durch Gesetz geregelt und für bestimmte, allgemein umschriebene Gruppen von Arbeitnehmern zwingend. Ausserdem hängen diese Leistungen unmittelbar und effektiv mit dem in Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 genannten Schutz gegen das Altersrisiko zusammen, da sie aufgrund des Eintritts in einen vorzeitigen Ruhestand gewährt werden (vgl. Urteil vom 16. Februar 1982 in der Rechtssache 19/81, Burton, Slg. 1982, 555, Randnrn. 12 bis 15).
30 Jedenfalls ergibt sich aus den Akten, was die Betroffene nicht bestritten hat, daß die Beendigung ihrer Tätigkeit vorliegend nicht auf eine Entlassung, sondern darauf zurückzuführen ist, daß sie nur fünf Monate vor Erreichung des Alters, in dem sie auf jeden Fall in den Ruhestand treten konnte, freiwillig ausgeschieden ist.
31 Aus dem Vorstehenden folgt, daß die Richtlinie 79/7 anwendbar ist.
32 Angesichts dieser Richtlinie kann eine Diskriminierung zwischen den Geschlechtern im Rahmen der schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen nur vorübergehend nach Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie gerechtfertigt werden (vgl. Urteil vom 1. Juli 1993 in der Rechtssache C-154/92, Van Cant, Slg. 1993, I-3811, Randnr. 12). In allen anderen Fällen würde eine Diskriminierung gegen Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie verstossen, der nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes hinreichend genau und unbedingt ist, so daß er von einzelnen vor den nationalen Gerichten in Anspruch genommen werden kann, um die Anwendung aller mit ihm unvereinbaren nationalen Vorschriften auszuschließen (vgl. Urteile vom 4. Dezember 1986 in der Rechtssache 71/85, Federatie Nederlandse Vakbeweging, Slg. 1986, 3855, Randnr. 21, und vom 24. März 1987 in der Rechtssache 286/85, McDermott und Cotter, Slg. 1987, 1453, Randnr. 14).
33 Setzt ein Mitgliedstaat gemäß Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 79/7 für die Gewährung der Alters- und Ruhestandsrente unterschiedliche Altersgrenzen für Männer und Frauen fest, so ist nach ständiger Rechtsprechung der mit der Wendung "etwaige Auswirkungen daraus auf andere Leistungen" in Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe a definierte Anwendungsbereich der zugelassenen Ausnahme auf Diskriminierungen in anderen Leistungssystemen beschränkt, sofern sie notwendig und objektiv mit dieser unterschiedlichen Altersgrenze verbunden sind (vgl. insbesondere Urteile vom 30. März 1993 in der Rechtssache C-328/91, Thomas u. a., Slg. 1993, I-1247, Randnr. 20, und vom 11. August 1995 in der Rechtssache C-92/94, Graham u. a., Slg. 1995, I-2521, Randnr. 11).
34 Hat also ein Mitgliedstaat gemäß dieser Vorschrift das Rentenalter für Frauen auf 55 und für Männer auf 60 Jahre festgesetzt, so ist zu prüfen, ob die in einem anderen Leistungssystem als dem der Altersrenten bestehende Diskriminierung von Männern oder Frauen objektiv und notwendig mit diesem unterschiedlichen Rentenalter verbunden ist.
35 Dies ist der Fall, wenn diese Diskriminierungen objektiv erforderlich sind, um zu verhindern, daß das finanzielle Gleichgewicht des Systems der sozialen Sicherheit gefährdet wird, oder um die Kohärenz zwischen dem System der Altersrenten und dem der anderen Leistungen zu gewährleisten (vgl. Urteile Thomas u. a., a. a. O., Randnr. 12, und Graham u. a., a. a. O., Randnr. 12).
36 Bei einer gesetzlichen Vorruhestandsregelung wie der des Ausgangsverfahrens werden Frauen in bezug auf die Methode, nach der ihre Vorruhestandsleistungen berechnet werden, und damit hinsichtlich der Höhe ihrer Altersrente diskriminiert.
37 Die Diskriminierung besteht darin, daß aufgrund der Tatsache, daß bei der Berechnung der zusätzlichen Rentenbeiträge je nach dem Geschlecht unterschiedliche Altersvoraussetzungen für den Eintritt in den Ruhestand berücksichtigt werden, bei gleichen tatsächlich entrichteten Beiträgen die Altersrente eines weiblichen Arbeitnehmers in bestimmten Fällen niedriger sein kann als die eines männlichen Arbeitnehmers.
38 Eine Frau, die mit 55 Jahren in den Ruhestand tritt, hat nämlich keinen Anspruch auf eine Gutschrift von Beiträgen. Daher wird für einen Mann und eine Frau, die beide 55 Jahre alt sind, bei gleichem Verlauf hinsichtlich der tatsächlich entrichteten Beiträge die dem Mann bei Eintritt in den Vorruhestand gezahlte Leistung höher sein als die Leistung, die der Frau bei Eintritt in den Ruhestand gewährt wird. Mit anderen Worten, bei gleichen tatsächlich entrichteten Beiträgen muß die Frau etwa fünf Jahre (bis zum 60. Lebensjahr) länger arbeiten, um eine Rente in gleicher Höhe wie der Mann, der mit 55 Jahren in den Vorruhestand tritt, zu erhalten.
39 Die Beantwortung der Frage, ob diese Diskriminierung objektiv und notwendig mit der Festsetzung eines je nach dem Geschlecht unterschiedlichen Rentenalters verbunden ist, fällt in die Zuständigkeit des nationalen Gerichts. Aus dem Urteil Thomas u. a. (a. a. O., Randnr. 13) ergibt sich jedoch, daß der Gerichtshof, der dem nationalen Gericht nützliche Antworten erteilen soll, Hinweise geben kann, die dem nationalen Gericht die Entscheidung ermöglichen.
40 Bezueglich der Diskriminierung, um die es im Ausgangsverfahren geht, ist festzustellen, daß sie objektiv mit der Festsetzung eines für Frauen und Männer unterschiedlichen Rentenalters verbunden ist, da sie sich unmittelbar aus der Tatsache ergibt, daß das Rentenalter für Frauen auf 55 und für Männer auf 60 Jahre festgesetzt ist. Für Männer wie für Frauen gilt nämlich die Regel, daß sie ihr Recht auf Eintritt in den Vorruhestand höchstens fünf Jahre vor Erreichung des Alters geltend machen können, in dem sie eine Altersrente verlangen können, und daß ihnen für die Zeit von ihrem Ausscheiden bis zur Erreichung dieses Alters Rentenbeiträge gutgeschrieben werden.
41 Zu der Frage, ob diese Diskriminierung auch notwendig mit dem unterschiedlichen Rentenalter für Männer und Frauen verbunden ist, ist zunächst festzustellen, daß die durch Artikel 16 des Gesetzes Nr. 155/1981 eingeführte Vorruhestandsregelung dadurch gekennzeichnet ist, daß dem Arbeitnehmer vor Erreichung des Rentenalters eine Leistung gewährt wird, die auf der Grundlage der tatsächlich entrichteten Beiträge und der fiktiven Erhöhung der Beitragszeiten um die Zeit, die den Arbeitnehmer vom Rentenalter trennt, berechnet wird. Die Vorruhestandsleistung soll folglich demjenigen ein Einkommen sichern, der den Arbeitsmarkt vor Erreichung des Alters verlässt, in dem er eine Altersrente verlangen kann. Daher besteht vorliegend eine Kohärenz zwischen der Altersrenten- und der Vorruhestandsregelung.
42 Sodann ist zu prüfen, ob es für die Wahrung dieser Kohärenz notwendig ist, Frauen, die effektiv das Recht haben, bis zum 60. Lebensjahr zu arbeiten, die Gutschrift von Beiträgen für die Zeit nach ihrem 55. Lebensjahr, mit dem sie eine Altersrente verlangen können, zu verweigern.
43 Dazu ist erstens zu bemerken, daß, wenn den Frauen, die im Alter zwischen 50 und 55 Jahren vorzeitig in den Ruhestand treten, Beiträge für fünf Jahre gutgeschrieben würden, ohne die Altersgrenze, die das Rentenalter darstellt, zu berücksichtigen, sich, je näher ihr Eintritt in den Vorruhestand an das Rentenalter heranrücken würde, desto mehr herausstellen würde, daß diese weiblichen Arbeitnehmer letztlich eine höhere Rente erhalten als weibliche Arbeitnehmer, die bis zum 55. Lebensjahr Beiträge entrichtet haben und ohne die Möglichkeit einer Gutschrift von Beiträgen in den Ruhestand treten.
44 Zweitens ist darauf hinzuweisen, daß eine solche Regelung auch zur Diskriminierung der männlichen Arbeitnehmer führen kann. Während der männliche Arbeitnehmer, der im Alter zwischen 55 und 60 Jahren in den Vorruhestand tritt, nur Anspruch auf eine Gutschrift von Beiträgen für die Zeit vom Eintritt in den Vorruhestand bis zur Erreichung des Rentenalters hat, hätte die Arbeitnehmerin, die ebenfalls in den letzten fünf Jahren vor dem Zeitpunkt, zu dem sie eine Altersrente verlangen kann, in den Vorruhestand tritt, grundsätzlich Anspruch auf eine Gutschrift von Beiträgen für fünf Jahre.
45 Folglich ist festzustellen, daß, auch wenn die Frauen effektiv das Recht haben, bis zum 60. Lebensjahr zu arbeiten, die Weigerung, ihnen für die Zeit nach ihrem 55. Lebensjahr, mit dem sie eine Altersrente verlangen können, Beiträge gutzuschreiben, notwendig ist, um die Kohärenz zwischen der Rentenregelung und der Vorruhestandsregelung zu wahren.
46 Daher ist dem vorlegenden Gericht zu antworten, daß ein Mitgliedstaat, wenn er gemäß Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 79/7 ein je nach dem Geschlecht unterschiedliches Rentenalter festgesetzt hat, nach dieser Vorschrift auch bestimmen kann, daß die Arbeitnehmer eines zum Krisenunternehmen erklärten Unternehmens für die Zeit von ihrem Eintritt in den vorzeitigen Ruhestand bis zur Erreichung des Alters, in dem sie eine Altersrente verlangen können - also 55 Jahre für Frauen und 60 Jahre für Männer -, Anspruch auf eine Gutschrift zusätzlicher Rentenbeiträge bis zur Hoechstgrenze von fünf Jahren haben, weil die bei der Methode zur Berechnung der Vorruhestandsleistungen vorgenommene Unterscheidung nach dem Geschlecht objektiv und notwendig mit der Festsetzung eines für Männer und Frauen unterschiedlichen Rentenalters verbunden ist.
Kostenentscheidung:
Kosten
47 Die Auslagen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben hat, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Tenor:
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
(Fünfte Kammer)
auf die ihm von der Pretura circondariale Genua mit Beschluß vom 19. April 1995 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:
Hat ein Mitgliedstaat gemäß Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit ein je nach dem Geschlecht unterschiedliches Rentenalter festgesetzt, so kann er nach dieser Vorschrift auch bestimmen, daß die Arbeitnehmer eines zum Krisenunternehmen erklärten Unternehmens für die Zeit von ihrem Eintritt in den vorzeitigen Ruhestand bis zur Erreichung des Alters, in dem sie eine Altersrente verlangen können - also 55 Jahre für Frauen und 60 Jahre für Männer -, Anspruch auf eine Gutschrift zusätzlicher Rentenbeiträge bis zur Hoechstgrenze von fünf Jahren haben, weil die bei der Methode zur Berechnung der Vorruhestandsleistungen vorgenommene Unterscheidung nach dem Geschlecht objektiv und notwendig mit der Festsetzung eines für Männer und Frauen unterschiedlichen Rentenalters verbunden ist.
Ende der Entscheidung
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