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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 03.12.1992
Aktenzeichen: C-140/91
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 177
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Arbeitnehmer können sich vor dem nationalen Gericht nicht ungeachtet der in einem nationalen Gesetz aufgestellten zeitlichen Voraussetzungen für die Leistungsgewährung durch den nach diesem Gesetz eingerichteten Garantiefonds ° daß es nämlich nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses und zum Konkurs- oder Zwangsvollstreckungsverfahren gekommen sein muß ° auf die Bestimmungen der Richtlinie 80/987 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers berufen, um von dem Fonds die Zahlung der in diesem Gesetz vorgesehenen Abfindung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu erlangen, wenn diese Ereignisse in ihrem Fall vor dem Ablauf der Frist für die Durchführung der Richtlinie eingetreten sind.

Die Bürger können sich nämlich nur dann, wenn ein Mitgliedstaat eine Richtlinie bei Ablauf der für ihre Durchführung festgesetzten Frist nicht ordnungsgemäß umgesetzt hat, unter bestimmten Voraussetzungen vor den nationalen Gerichten auf Rechte berufen, die sie unmittelbar aus dieser Richtlinie herleiten.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (ERSTE KAMMER) VOM 3. DEZEMBER 1992. - MAURO SUFFRITTI UND ANDERE GEGEN ISTITUTO NAZIONALE DELLA PREVIDENZA SOCIALE. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: PRETURA CIRCONDARIALE DI BOLOGNA - ITALIEN. - ARBEITNEHMERSCHUTZ - UNMITTELBARE ANWENDUNG EINER RICHTLINIE - ABLAUF DER DURCHFUEHRUNGSFRIST. - VERBUNDENE RECHTSSACHEN C-140/91, C-141/91, C-278/91 UND C-279/91.

Entscheidungsgründe:

1 Die Pretura circondariale Bologna hat mit Beschlüssen vom 25. Januar 1991 (Rechtssachen C-140/91 und C-141/91), vom 23. Juli 1991 (Rechtssache C-278/91) und vom 25. Juli 1991 (Rechtssache C-279/91), beim Gerichtshof eingegangen am 27. Mai und am 31. Oktober 1991, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag Fragen nach der Auslegung der Richtlinie 80/987/EWG des Rates vom 20. Oktober 1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (ABl. L 283, S. 23) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in Rechtsstreitigkeiten zwischen den Klägern Suffritti, Fiori, Giacometti, Dal Pane und Balletti einerseits und dem beklagten Istituto Nazionale della Previdenza Sociale (im folgenden: INPS) andererseits, das es abgelehnt hat, den Klägern die Abfindung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu zahlen.

3 Die Richtlinie 80/987 soll für die Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers unbeschadet günstigerer Vorschriften der Mitgliedstaaten einen gemeinschaftsrechtlichen Mindestschutz gewährleisten. Sie sieht hierfür u. a. besondere Garantien für die Befriedigung ihrer nichterfuellten Ansprüche vor, die das Arbeitsentgelt betreffen.

4 Gemäß Artikel 11 waren die Mitgliedstaaten verpflichtet, die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, um der Richtlinie innerhalb einer am 23. Oktober 1983 abgelaufenen Frist nachzukommen. Da die Italienische Republik dieser Verpflichtung nicht nachgekommen ist, hat der Gerichtshof mit Urteil vom 2. Februar 1989 in der Rechtssache C-22/87 (Kommission/Italien, Slg. 1989, 143) festgestellt, daß sie damit gegen den EWG-Vertrag verstossen hat.

5 Die Kläger Suffritti und Fiori waren vom 24. Mai 1971 bzw. 27. September 1971 als Arbeitnehmer bei der Firma Tecnoquarzi beschäftigt. Der Kläger Suffritti schied am 11. September 1981, der Kläger Fiori am 30. April 1981 wegen Nichtzahlung des Arbeitsentgelts aus. Am 6. November 1982 eröffnete das Tribunale Bologna den Konkurs über das Vermögen der Firma Tecnoquarzi und stellte fest, daß die Forderungen der beiden Arbeitnehmer auf Zahlung der Abfindung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses in die Schuldenmasse der Firma gehörten. Die Kläger Giacometti, Dal Pane und Balletti waren Arbeitnehmer bei der Giuseppe Minganti SpA, und zwar die ersten beiden bis zum 24. März 1982 und der dritte bis zum 11. September 1981, als sie wegen Nichtzahlung ihres Arbeitsentgelts freiwillig ausschieden. Am 17. Mai 1983 eröffnete das Tribunale Bologna den Konkurs über das Vermögen der Firma und stellte fest, daß die Forderungen der Kläger in die Schuldenmasse der Firma gehörten. Hierauf ist keine Zahlung erfolgt.

6 Die Kläger in den vier Rechtssachen stellten Anträge bei dem gemäß dem italienischen Gesetz Nr. 297/82 (GURI Nr. 147 vom 31. Juni 1982) beim INPS eingerichteten Garantiefonds auf Zahlung einer Abfindung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Diese Anträge wurden unter Berufung auf Artikel 2 dieses Gesetzes abgelehnt, wonach das Arbeitsverhältnis nach dem Inkrafttreten des Gesetzes beendet worden sein muß, was nicht der Fall war.

7 Die Kläger erhoben deshalb bei der Pretura Bologna Klage; sie berufen sich auf die Richtlinie 80/987 und das Urteil Kommission/Italien, a. a. O.

8 Das nationale Gericht hat unter diesen Umständen dem Gerichtshof die folgenden, weitgehend übereinstimmend formulierten Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1) Ist die fragliche Richtlinie unmittelbar anwendbar?

2) Wenn ja, ist die Richtlinie seit Oktober 1980, seit dem Datum der Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften oder seit dem Datum der Bekanntgabe an den italienischen Staat gültig?

3) Haben demnach Arbeitnehmer, die nach dem oben angegebenen Zeitpunkt ihr Arbeitsverhältnis gelöst haben oder die bei einem Unternehmen, über dessen Vermögen nach diesem Zeitpunkt der Konkurs eröffnet worden ist, tätig waren, Anspruch darauf, daß ihnen der Garantiefonds die ihnen nach dem Gesetz zustehende Abfindung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses zahlt?

9 Wegen weiterer Einzelheiten der Sachverhalte der Ausgangsrechtsstreitigkeiten, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

10 Die Fragen gehen im wesentlichen dahin, ob sich Arbeitnehmer vor einem nationalen Gericht ungeachtet der in dem italienischen Gesetz Nr. 297/82 aufgestellten zeitlichen Voraussetzung für die Leistungsgewährung durch den nach diesem Gesetz eingerichteten Garantiefonds ° daß es nämlich nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses und zum Konkurs- oder Zwangsvollstreckungsverfahren gekommen sein muß ° auf die Bestimmungen der Richtlinie 80/987 berufen können, um von dem Fonds die Zahlung der in diesem Gesetz vorgesehenen Abfindung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu erlangen.

11 Die Frist für die Umsetzung der Richtlinie 80/987 lief erst am 23. Oktober 1983 ab. Zu den in den Ausgangsverfahren fraglichen Konkurseröffnungen und Beendigungen von Arbeitsverhältnissen kam es vor Ablauf dieser Frist.

12 Unter diesen Umständen können sich die Arbeitnehmer nicht auf die Richtlinie berufen, um zu verhindern, daß bestimmte Vorschriften des nationalen Rechts zur Anwendung kommen.

13 Die Bürger können sich nämlich nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes nur dann, wenn ein Mitgliedstaat eine Richtlinie bei Ablauf der für ihre Durchführung festgesetzen Frist nicht ordnungsgemäß umgesetzt hat, unter bestimmten Voraussetzungen vor den nationalen Gerichten auf Rechte berufen, die sie unmittelbar aus dieser Richtlinie herleiten.

14 Dem nationalen Gericht ist demnach zu antworten, daß sich Arbeitnehmer vor den nationalen Gerichten nicht ungeachtet der in dem italienischen Gesetz Nr. 297/82 aufgestellten zeitlichen Voraussetzung für die Leistungsgewährung durch den nach diesem Gesetz eingerichteten Garantiefonds ° daß es nämlich nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses und zum Konkurs- oder Zwangsvollstreckungsverfahren gekommen sein muß ° auf die Bestimmungen der Richtlinie 80/987/EWG des Rates vom 20. Oktober 1980 berufen können, um von dem Fonds die Zahlung der in diesem Gesetz vorgesehenen Abfindung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu erlangen.

Kostenentscheidung:

Kosten

15 Die Auslagen der italienischen und der deutschen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

auf die ihm von der Pretura Circondariale Bologna mit Beschlüssen vom 25. Januar, 23. Juli und 25. Juli 1991 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Arbeitnehmer können sich vor den nationalen Gerichten nicht ungeachtet der in dem italienischen Gesetz Nr. 297/82 aufgestellten zeitlichen Voraussetzung für die Leistungsgewährung durch den nach diesem Gesetz eingerichteten Garantiefonds ° daß es nämlich nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses und zum Konkurs- oder Zwangsvollstreckungsverfahren gekommen sein muß ° auf die Bestimmungen der Richtlinie 80/987/EWG des Rates vom 20. Oktober 1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers berufen, um von dem Fonds die Zahlung der in diesem Gesetz vorgesehenen Abfindung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu erlangen.

Ende der Entscheidung

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