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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 24.03.1994
Aktenzeichen: C-148/93
Rechtsgebiete:


Vorschriften:

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Sandalen und Schuhe mit Laufsohlen aus Kunststoff und Oberteil aus Spinnstoff bzw. Kunststoff, die als Gehhilfe zum Tragen über einem Gipsverband am Fuß bestimmt sind, stellen keine "orthopädischen Vorrichtungen" im Sinne der Position 9021 der Kombinierten Nomenklatur (1992) dar, da den Waren dieser Position gemeinsam ist, daß sie den Funktionsschäden, die sie beheben sollen, speziell angepasst und speziell für eine bestimmte Person gefertigt sind.

Die genannten Waren sind auch nicht als "Vorrichtungen zum Behandeln von Knochenbrüchen" (Unterposition 9021 19 90), deren charakteristisches Merkmal es ist, daß sie unmittelbar auf den verletzten Körperteil einwirken, oder als Teile oder Zubehör eines orthopädischen Apparats, einer anderen orthopädischen Vorrichtung oder einer Vorrichtung zum Behandeln von Knochenbrüchen anzusehen, da Gipsverbände selbst nicht als solche eingestuft werden können.

Da die fraglichen Waren nicht der Position 9021 zugewiesen werden können, gehören sie zum Kapitel 64, das Schuhe und ähnliche Waren umfasst, auch wenn sie nicht unmittelbar am Fuß, sondern über einem Gipsverband getragen werden.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (DRITTE KAMMER) VOM 24. MAERZ 1994. - 3M MEDICA GMBH GEGEN OBERFINANZDIREKTION FRANKFURT AM MAIN. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: BUNDESFINANZHOF - DEUTSCHLAND. - GEMEINSAMER ZOLLTARIF - ZUM TRAGEN UEBER EINEM GIPSVERBAND BESTIMMTE SCHUHE UND SANDALEN - TARIFIERUNG. - RECHTSSACHE C-148/93.

Entscheidungsgründe:

1 Der Bundesfinanzhof hat mit Beschluß vom 2. Februar 1993, beim Gerichtshof eingegangen am 9. April 1993, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung der Position 9021 des Gemeinsamen Zolltarifs in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 2587/91 der Kommission vom 26. Juli 1991 zur Änderung des Anhangs I der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif (ABl. L 259, S. 1) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der 3M Medica GmbH und der Oberfinanzdirektion Frankfurt am Main wegen der Zuweisung zweier als "Canvas Cast Shoe" (einer Sandale) und "Vinyl Cast Shoe" (eines Schuhs) bezeichneter Waren zu den Unterpositionen 6404 19 90 bzw. 6402 91 90.

3 Nachdem die Oberfinanzdirektion den Einspruch der 3M Medica GmbH gegen diese Tarifierung zurückgewiesen hatte, erhob diese Klage vor dem Bundesfinanzhof; sie machte geltend, die fraglichen Waren stellten orthopädische Vorrichtungen im Sinne der Position 9021 dar, da es sich um einen Ersatz für Gehstollen handele (orthopädische Hilfsmittel, die als Gehhilfe in Gipsverbänden am Fuß eingesetzt würden), da sie ausschließlich auf Rezept über Apotheken oder Kliniken zu beziehen seien und da sie einzeln und nicht paarweise verkauft würden. Darüber hinaus stellten sie einen Krückenersatz dar.

4 Demgegenüber machte die Oberfinanzdirektion geltend, den fraglichen Waren, die ein besseres Gehen bei einem bereits angelegten Gipsverband ermöglichten, komme lediglich eine Hilfsfunktion zu. Sie hätten keine unmittelbare Wirkung auf den mißgebildeten oder erkrankten Fuß. Sie stellten keinen Krückenersatz und auch keine Vorrichtung zum Behandeln von Knochenbrüchen dar.

5 Nach Feststellung des vorlegenden Gerichts handelt es sich um Waren mit Laufsohlen aus Kunststoff und einem Oberteil aus Spinnstoff bzw. Kunststoff, die zum Tragen über einem Gipsverband am Fuß bestimmt sind. Diese Waren seien als Gehhilfen bei angelegtem Gips aus orthopädischer Sicht sinnvoll. Sie könnten daher der Position 9021 zugewiesen werden, die u. a. orthopädische Vorrichtungen, Vorrichtungen zum Behandeln von Knochenbrüchen und Teile davon erfasse.

6 Das vorlegende Gericht schließt eine Einreihung der fraglichen Waren als Vorrichtungen zum Behandeln von Knochenbrüchen oder als orthopädische Schuhe aus, hält es aber für möglich, sie innerhalb der Position 9021 als orthopädische Vorrichtungen für den Fuß "zum Stützen oder Halten von Organen nach einer... Operation" anzusehen, falls dieser zolltarifliche Begriff in einem weiteren, auch die Gehhilfe bei angelegtem Gipsverband umfassenden Sinne auszulegen wäre. Wenn sich dieser Verband selbst als orthopädische Vorrichtung darstellen sollte, könnten die fraglichen Waren aufgrund ihrer Zweckbestimmung auch als Zubehör ("Teile") im Sinne der Unterposition 9021 90 90 anzusehen sein.

7 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts könnten diese Waren auch als orthopädische Vorrichtungen sonstiger Art zu bewerten sein. Die Position 9021 erfasse auch Krücken, und die fraglichen Waren hätten, auch wenn sie keine Krücken seien, doch eine vergleichbare Funktion.

8 In Anbetracht seiner Bedenken hinsichtlich der von der Oberfinanzdirektion vorgenommenen Tarifierung hat der Bundesfinanzhof dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist der Begriff "orthopädische Vorrichtungen" in Position 9021 der Kombinierten Nomenklatur (1992) dahin auszulegen, daß er auch Erzeugnisse nach Art der in den Gründen beschriebenen, als Gehhilfen bei angelegtem Gipsverband dienenden "Schuhe" umfasst?

2. Bei Verneinung von Frage 1: Ist der Begriff "Vorrichtungen zum Behandeln von Knochenbrüchen" oder "Teile" (von orthopädischen Vorrichtungen usw.) dahin auszulegen, daß auch Erzeugnisse wie vorstehend angesprochen hierunter fallen?

Zur ersten Frage

9 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Sandalen und Schuhe mit Laufsohlen aus Kunststoff und Oberteil aus Spinnstoff bzw. Kunststoff, die zum Tragen über einem Gipsverband am Fuß bestimmt sind, "orthopädische Vorrichtungen" im Sinne der Position 9021 der Kombinierten Nomenklatur (1992) darstellen.

10 Nach den Erläuterungen zu Position 9021 dienen orthopädische Apparate und andere orthopädische Vorrichtungen "zum Verhüten oder Korrigieren bestimmter körperlicher Mißbildungen" oder "zum Stützen oder Halten von Organen nach einer Krankheit oder Operation". Es handelt sich insbesondere um "maßgerecht angefertigte orthopädische Schuhe", "maßgerecht gefertigte Spezialeinlagen für Schuhe" und "orthopädische Vorrichtungen für den Fuß (für Klumpfüsse, Beinstützen... usw.)".

11 Nach diesen Erläuterungen gehören dagegen "einfache Fußschützer oder Vorrichtungen zum Vermindern des Druckes an bestimmten Stellen des Fusses" und "serienmässig hergestellte Schuhe mit reliefartig geformter Innensohle zum Stützen des Fußgewölbes" nicht zur Position 9021.

12 Somit ist, wie die Kommission und der Generalanwalt ausgeführt haben, den Waren dieser Position gemeinsam, daß sie den Funktionsschäden, die sie beheben sollen, speziell angepasst und speziell für eine bestimmte Person gefertigt sind.

13 Die Cast-Sandalen und -Schuhe ermöglichen bei angelegtem Gips ein leichteres und bequemeres Gehen. Sie bezwecken nicht, bestimmte körperliche Mißbildungen zu korrigieren, dienen nicht zum Stützen oder Halten von Organen nach einer Krankheit oder Operation und sind keine im Hinblick auf einen bestimmten Funktionsschaden speziell entwickelten, maßgerecht gefertigten Apparate oder Vorrichtungen.

14 Die genannten Sandalen und Schuhe sind daher serienmässig gefertigten Einlagen oder serienmässig hergestellten Schuhen mit das Fußgewölbe stützender Innensohle gleichzusetzen, d. h. Waren, die nicht zum Kapitel 90 gehören.

15 Auch der Vergleich mit den in der Position 9021 ausdrücklich erwähnten Krücken lässt keine Zuweisung zu dieser Position zu, da die jeweiligen Aufgaben verschieden sind. Während Krücken für einen Gehbehinderten zum Gehen nämlich unerläßlich sind, erleichtern die fraglichen Waren nur das Gehen mit einem Gipsverband.

16 Daher ist auf die erste Frage zu antworten, daß Sandalen und Schuhe mit Laufsohlen aus Kunststoff und Oberteil aus Spinnstoff bzw. Kunststoff, die zum Tragen über einem Gipsverband am Fuß bestimmt sind, keine "orthopädischen Vorrichtungen" im Sinne der Position 9021 der Kombinierten Nomenklatur (1992) darstellen.

Zur zweiten Frage

17 Die zweite Frage des vorlegenden Gerichts geht dahin, ob bei Verneinung der ersten Frage die genannten Waren als "Vorrichtungen zum Behandeln von Knochenbrüchen" (Unterposition 9021 19 90) oder als Teile oder Zubehör orthopädischer Apparate, anderer orthopädischer Vorrichtungen oder Vorrichtungen zum Behandeln von Knochenbrüchen anzusehen sind.

18 Nach den Erläuterungen dienen Vorrichtungen zum Behandeln von Knochenbrüchen dazu, "die verletzten Körperteile stillzulegen, sie zu strecken, sie zu schützen oder... Brüche zu richten". Nach den Ausführungen der Kommission ist charakteristisches Merkmal dieser Vorrichtungen, daß sie unmittelbar auf den verletzten Körperteil einwirken. Die Cast-Sandalen und -Schuhe, die über einem Gipsverband getragen werden, weisen dieses Merkmal jedoch nicht auf.

19 Sie können auch nicht als Teile oder Zubehör eines orthopädischen Apparats, einer anderen orthopädischen Vorrichtung oder einer Vorrichtung zum Behandeln von Knochenbrüchen angesehen werden. Voraussetzung wäre, daß Gipsverbände als orthopädische Apparate, andere orthopädische Vorrichtungen oder Vorrichtungen zum Behandeln von Knochenbrüchen eingestuft werden könnten. Ein dem Bein des Patienten angelegter Gipsverband ist jedoch, wie der Generalanwalt ausgeführt hat, nicht wiederverwendbar und stellt keine Ware im Sinne des Zolltarifs dar. Diese Beurteilung wird durch die Erläuterungen zu Position 9021 (II. Schienen und andere Vorrichtungen zum Behandeln von Knochenbrüchen) bestätigt, die eine Reihe von Schienen und Stützen aufzählen, die Gipsverbände aber nicht erwähnen.

20 Daher ist auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, daß die genannten Waren nicht als "Vorrichtungen zum Behandeln von Knochenbrüchen" (Unterposition 9021 19 90) oder als Teile oder Zubehör orthopädischer Apparate, anderer orthopädischer Vorrichtungen oder Vorrichtungen zum Behandeln von Knochenbrüchen anzusehen sind.

21 Da die fraglichen Waren also nicht der Position 9021 zugewiesen werden können, gehören sie zum Kapitel 64 mit der Überschrift "Schuhe, Gamaschen und ähnliche Waren; Teile davon". Dieses Kapitel umfasst verschiedene Arten von Schuhen "ohne Rücksicht auf Form, Grösse, Verwendungszweck, Herstellungsart und stoffliche Beschaffenheit"; nicht als Schuhe gelten danach "Einwegartikel, die... keine angebrachten Sohlen aufweisen" (siehe Erläuterungen, Allgemeines).

22 Die fraglichen Waren sind ihrem Verwendungszweck nach Schuhe und weisen angebrachte Sohlen auf. Daß sie nicht unmittelbar am Fuß, sondern über einem Gipsverband getragen werden, ist ohne Bedeutung, da dies auch für Überschuhe zutrifft, die nach den Erläuterungen zum Kapitel 64 gehören.

Kostenentscheidung:

Kosten

23 Die Auslagen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben hat, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

auf die ihm vom Bundesfinanzhof mit Beschluß vom 2. Februar 1993 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1) Sandalen und Schuhe mit Laufsohlen aus Kunststoff und Oberteil aus Spinnstoff bzw. Kunststoff, die zum Tragen über einem Gipsverband am Fuß bestimmt sind, stellen keine "orthopädischen Vorrichtungen" im Sinne der Position 9021 der Kombinierten Nomenklatur (1992) dar.

2) Die genannten Waren sind nicht als "Vorrichtungen zum Behandeln von Knochenbrüchen" (Unterposition 9021 19 90) oder als Teile oder Zubehör orthopädischer Apparate, anderer orthopädischer Vorrichtungen oder Vorrichtungen zum Behandeln von Knochenbrüchen anzusehen.

Ende der Entscheidung

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