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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 08.02.1996
Aktenzeichen: C-149/94
Rechtsgebiete: Richtlinie 79/409/EWG


Vorschriften:

Richtlinie 79/409/EWG Art. 6
Richtlinie 79/409/EWG Art. 1 Abs. 1
Richtlinie 79/409/EWG Art. 9
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Die Richtlinie 79/409 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten verpflichtet die Mitgliedstaaten vorbehaltlich der durch Artikel 9 geschaffenen Möglichkeit der Abweichung dazu, die Vermarktung von Exemplaren einer in ihren Anhängen nicht genannten Vogelart zu untersagen, sofern es sich um eine wildlebende Art handelt, die im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten heimisch ist, auf das der Vertrag Anwendung findet.

Auf diese Schutzpflicht hat es keinen Einfluß, daß die fragliche Art ihren natürlichen Lebensraum nicht im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats hat. Denn die Bedeutung eines vollständigen und wirksamen Schutzes der wildlebenden Vogelarten in der gesamten Gemeinschaft, unabhängig von ihrem Aufenthaltsort oder ihrer Zugstrecke, macht alle nationalen Rechtsvorschriften, die den Schutz der wildlebenden Vogelarten nach Maßgabe des Begriffs des nationalen Erbes bestimmen, mit der Richtlinie unvereinbar.

Die Richtlinie gilt dagegen nicht für Vögel, die in Gefangenschaft geschlüpft sind und aufgezogen wurden. Eine solche Ausdehnung der Schutzvorschriften über die in ihrer natürlichen Umwelt vorhandenen Vogelbestände hinaus würde nämlich nicht dem umweltpolitischen Ziel dienen, das der Richtlinie zugrunde liegt. Im übrigen bleiben die Mitgliedstaaten vorbehaltlich der Artikel 30 ff. des Vertrages, die aus anderen Mitgliedstaaten eingeführte Erzeugnisse betreffen, für die Regelung dieses Bereichs zuständig, da der Gemeinschaftsgesetzgeber in den Handel mit den genannten Exemplaren nicht eingegriffen hat.


Urteil des Gerichtshofes (Dritte Kammer) vom 8. Februar 1996. - Strafverfahren gegen Didier Vergy. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal de grande instance de Caen - Frankreich. - Richtlinie 79/409/EWG des Rates über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten - Verkaufsverbot - In Gefangenschaft geschlüpftes und aufgezogenes Exemplar. - Rechtssache C-149/94.

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunal de grande instance Cän hat mit Urteil vom 22. März 1994, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Juni 1994, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung der Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (ABl. L 103, S. 1; im folgenden: Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Strafverfahren gegen Herrn Vergy, der beschuldigt wird, 1992 in Landes-sur-Ajonc (Frankreich) ein lebendes Exemplar einer nach den französischen Rechtsvorschriften geschützten Vogelart zum Verkauf angeboten und verkauft zu haben.

3 Es ist unstreitig, daß das fragliche Exemplar in Gefangenschaft geschlüpft ist und aufgezogen wurde.

4 Vor dem Tribunal de grande instance Cän berief sich Herr Vergy darauf, daß die französischen Rechtsvorschriften auf solche Exemplare nicht anwendbar seien und daß sie andernfalls gegen die Richtlinie verstießen.

5 Da der Ausgang des Strafverfahrens nach seiner Ansicht von der Auslegung der Richtlinie abhängt, hat das nationale Gericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist die Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979, insbesondere in ihren Artikeln 1, 2, 5 und 6, dahin auszulegen, daß sie es einem Mitgliedstaat gestattet, Rechtsvorschriften zu erlassen, die die Vermarktung von Exemplaren einer in den Anhängen dieser Richtlinie nicht genannten Art einschränken oder untersagen?

2. Wird die Antwort auf die vorangegangene Frage durch den Umstand beeinflusst, daß die betreffenden Exemplare in Gefangenschaft geschlüpft sind und aufgezogen wurden, oder durch die Tatsache, daß die fragliche Art ihren natürlichen Lebensraum nicht in dem betreffenden Land hat?

6 Das Exemplar, um das es im Ausgangsverfahren geht, wird im Vorlagebeschluß als "schwarze Kanadagans" bezeichnet. Eine solche Bezeichnung entspricht jedoch keiner anerkannten Kategorie der Vogeltaxonomie. Auch wenn die von Herrn Vergy in der Sitzung gemachte Angabe, das verkaufte Exemplar sei eine Zwergkanadagans (Branta canadensis minima) gewesen, plausibel erscheint, ist die Einordnung des Exemplars eine tatsächliche Frage, für die das vorlegende Gericht zuständig ist.

Zur ersten Frage

7 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob die Richtlinie nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die die Vermarktung von Exemplaren einer in den Anhängen dieser Richtlinie nicht genannten Vogelart einschränken oder untersagen.

8 Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie lautet: "Diese Richtlinie betrifft die Erhaltung sämtlicher wildlebenden Vogelarten, die im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, auf welches der Vertrag Anwendung findet, heimisch sind. Sie hat den Schutz, die Bewirtschaftung und die Regulierung dieser Arten zum Ziel und regelt die Nutzung dieser Arten." Gemäß Artikel 6 der Richtlinie, um den es in der vorliegenden Rechtssache in erster Linie geht, sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Vermarktung aller unter Artikel 1 fallenden Vogelarten generell zu untersagen; dies gilt jedoch unbeschadet der Ausnahmen, die unter bestimmten Voraussetzungen für die in Anhang III genannten Arten gelten. Im übrigen besteht nach Artikel 9 der Richtlinie die Möglichkeit, aus den dort festgelegten Gründen von Artikel 6 abzuweichen.

9 Wie der Gerichtshof im Urteil vom 8. Juli 1987 in der Rechtssache 247/85 (Kommission/Belgien, Slg. 1987, 3029, Randnrn. 6 und 7) festgestellt hat, ist den genannten Bestimmungen zu entnehmen, daß die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die Vermarktung sämtlicher wildlebenden Vogelarten, die im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, auf das der Vertrag Anwendung findet, heimisch sind, generell zu untersagen, vorbehaltlich der Ausnahmen, die unter bestimmten Voraussetzungen für die in Anhang III genannten Arten gelten, und der durch Artikel 9 geschaffenen Möglichkeit der Abweichung.

10 Auf die erste Frage ist daher zu antworten, daß die Richtlinie die Mitgliedstaaten vorbehaltlich der durch Artikel 9 geschaffenen Möglichkeit der Abweichung dazu verpflichtet, die Vermarktung von Exemplaren einer in ihren Anhängen nicht genannten Vogelart zu untersagen, sofern es sich um eine wildlebende Art handelt, die im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten heimisch ist, auf das der Vertrag Anwendung findet.

Zur zweiten Frage

11 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie auch für Vögel gilt, die in Gefangenschaft geschlüpft sind und aufgezogen wurden, und ob sie einen Mitgliedstaat auch dann dazu verpflichtet, für den Schutz einer wildlebenden Vogelart zu sorgen, die im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten heimisch ist, auf das der Vertrag Anwendung findet, wenn die fragliche Art ihren natürlichen Lebensraum nicht im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats hat.

Zum ersten Teil der Frage

12 In bezug auf die in Gefangenschaft geschlüpften und aufgezogenen Exemplare haben die Kommission, die französische Regierung und Herr Vergy im wesentlichen geltend gemacht, daß die Richtlinie dem Schutz der in ihrer natürlichen Umwelt vorhandenen Vogelbestände diene und daß die Ausdehnung der Schutzvorschriften auf Exemplare wildlebender Arten, die in Gefangenschaft geschlüpft und aufgezogen worden seien, nicht diesem umweltpolitischen Ziel entspreche.

13 Diesem Vorbringen ist zu folgen. Wie der Generalanwalt in Nummer 31 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, würde eine solche Ausdehnung der Schutzvorschriften weder dem in der zweiten Begründungserwägung der Richtlinie beschriebenen Anliegen der Erhaltung der natürlichen Umwelt noch dem in der achten Begründungserwägung der Richtlinie angesprochenen Anliegen des langfristigen Schutzes und der Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen als Bestandteil des gemeinsamen Erbes der europäischen Völker dienen.

14 Vorsorglich ist hinzuzufügen, daß die Mitgliedstaaten vorbehaltlich der Artikel 30 ff. EG-Vertrag, die aus anderen Mitgliedstaaten eingeführte Erzeugnisse betreffen, für die Regelung dieses Bereichs zuständig bleiben, da der Gemeinschaftsgesetzgeber in den Handel mit Exemplaren wildlebender Vogelarten, die in Gefangenschaft geschlüpft sind und aufgezogen wurden, nicht eingegriffen hat.

15 Auf den ersten Teil der zweiten vom vorlegenden Gericht gestellten Frage ist daher zu antworten, daß die Richtlinie nicht für Vögel gilt, die in Gefangenschaft geschlüpft sind und aufgezogen wurden.

Zum zweiten Teil der zweiten Frage

16 Hinsichtlich des zweiten Teils der zweiten Vorlagefrage tragen die Kommission, die französische Regierung und Herr Vergy vor, jeder Mitgliedstaat sei verpflichtet, den durch die Richtlinie vorgesehenen Schutz auf Arten zu erstrecken, die in seinem eigenen Gebiet nicht ihren natürlichen oder gewöhnlichen Lebensraum hätten, aber im europäischen Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wild lebten.

17 Wie der Gerichtshof im Urteil vom 27. April 1988 in der Rechtssache 252/85 (Kommission/Frankreich, Slg. 1988, 2243, Randnr. 15) ausgeführt hat, macht die Bedeutung eines vollständigen und wirksamen Schutzes der wildlebenden Vogelarten in der gesamten Gemeinschaft, unabhängig von ihrem Aufenthaltsort oder ihrer Zugstrecke, alle nationalen Rechtsvorschriften, die den Schutz der wildlebenden Vogelarten nach Maßgabe des Begriffs des nationalen Erbes bestimmen, mit der Richtlinie unvereinbar.

18 Auf den zweiten Teil der zweiten Frage ist folglich zu antworten, daß die Richtlinie einen Mitgliedstaat auch dann dazu verpflichtet, für den Schutz einer wildlebenden Vogelart zu sorgen, die im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten heimisch ist, auf das der Vertrag Anwendung findet, wenn die fragliche Art ihren natürlichen Lebensraum nicht im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats hat.

Kostenentscheidung:

Kosten

19 Die Auslagen der französischen Regierung und der Kommission, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

auf die ihm vom Tribunal de grande instance Cän mit Urteil vom 22. März 1994 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1. Die Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten verpflichtet die Mitgliedstaaten vorbehaltlich der durch Artikel 9 geschaffenen Möglichkeit der Abweichung dazu, die Vermarktung von Exemplaren einer in ihren Anhängen nicht genannten Vogelart zu untersagen, sofern es sich um eine wildlebende Art handelt, die im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten heimisch ist, auf das der Vertrag Anwendung findet.

2. Die Richtlinie gilt nicht für Vögel, die in Gefangenschaft geschlüpft sind und aufgezogen wurden.

3. Die Richtlinie verpflichtet einen Mitgliedstaat auch dann dazu, für den Schutz einer wildlebenden Vogelart zu sorgen, die im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten heimisch ist, auf das der Vertrag Anwendung findet, wenn die fragliche Art ihren natürlichen Lebensraum nicht im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats hat.

Ende der Entscheidung

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