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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 04.10.1991
Aktenzeichen: C-15/90
Rechtsgebiete: EWGV, VO Nr. 1408/71/EWG


Vorschriften:

EWGV Art. 177
EWGV Art 48
EWGV Art 52
VO Nr. 1408/71/EWG Art. 1
VO Nr. 1408/71/EWG Art 73
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Ein Selbständiger, der bei unfreiwilliger Aufgabe seiner Tätigkeit aufgrund von Beiträgen, die er als Arbeitnehmer gezahlt oder als ein solcher gutgeschrieben bekommen hat, Anspruch auf Leistungen wegen Arbeitslosigkeit hat, ist kein "Arbeitnehmer" im Sinne des Artikels 73 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 in der Fassung der Verordnung Nr. 1390/81 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe a Ziffern i und ii der Verordnung Nr. 1408/71.

2. Es verstösst nicht gegen Artikel 52 EWG-Vertrag, wenn die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, nach denen Leistungen für unterhaltsberechtigte Kinder nur für Kinder gewährt werden, die im Hoheitsgebiet dieses Staates wohnen, auf einen Staatsangehörigen dieses Staates hinsichtlich eines Zeitraums angewandt werden, in dem er nach Ausübung einer Tätigkeit als Arbeitnehmer in einem anderen Mitgliedstaat, in dem er ein Kind hat, im Herkunftsmitgliedstaat, in den er allein zurückgekehrt ist, als Selbständiger tätig ist.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 4. OKTOBER 1991. - DAVID MAXWELL MIDDLEBURGH GEGEN CHIEF ADJUDICATION OFFICER. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: COURT OF APPEAL - VEREINIGTES KOENIGREICH. - SOZIALE SICHERHEIT - ARBEITNEHMEREIGENSCHAFT - VERORDNUNG NR. 1408/71 - KINDERZULAGE - WOHNORTKLAUSEL - ARTIKEL 48 UND 52 EWG-VERTRAG. - RECHTSSACHE C-15/90.

Entscheidungsgründe:

1 Der Court of Appeal of England and Wales hat mit Beschluß vom 25. Juli 1989, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Januar 1990, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag drei Fragen nach der Auslegung der Artikel 1 und 73 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 1390/81 des Rates vom 12. Mai 1981 zur Ausdehnung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 auf die Selbständigen und ihre Familienangehörigen (ABl. L 143, S. 1) sowie der Artikel 48 und 52 EWG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen David Maxwell Middleburgh (im folgenden: Rechtsmittelführer) und dem Chief Adjudication Officer (im folgenden: Rechtsmittelgegner).

3 Der Rechtsmittelführer, ein britischer Staatsangehöriger, arbeitete von Januar 1981 bis August 1982 in Irland. In diesem Zeitraum ging er eine Verbindung mit einer irischen Staatsangehörigen ein, aus der ein Kind hervorging. Im Oktober 1983 kehrte er allein in das Vereinigte Königreich zurück, wo er vom 15. November 1983 bis zum 13. April 1984 in Krankenhäusern beschäftigt war. Nachdem er vom 16. bis zum 29. April 1984 arbeitslos gewesen war, übte er anschließend vom 30. April bis zum 29. Juli 1984 eine selbständige Tätigkeit aus. Vom 30. Juli bis zum 19. August 1984 war er erneut arbeitslos; vom 20. August bis zum 25. August nahm er an einem Lehrgang zur beruflichen Ausbildung teil.

4 Der Rechtsmittelgegner lehnte die Gewährung von Kindergeld (child benefit) vom 16. April 1984 an mit der Begründung ab, der Sohn des Rechtsmittelführers halte sich nicht in Großbritannien auf; der Rechtsmittelführer legte gegen diese Entscheidung beim Social Security Appeal Tribunal Rechtsmittel ein. Nachdem dieses Rechtsmittel und in der Folge das bei den Social Security Commissioners eingelegte weitere Rechtsmittel hinsichtlich der Zeiträume, während deren der Rechtsmittelführer als Selbständiger tätig war und an einem Lehrgang zur beruflichen Ausbildung teilnahm, zurückgewiesen worden waren, rief der Rechtsmittelführer den Court of Appeal an, der das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt hat:

1) Ist jemand, der

a) als Selbständiger tätig ist,

b) (nach nationalem Recht) bei unfreiwilliger Aufgabe dieser selbständigen Tätigkeit Anspruch auf Leistungen wegen Arbeitslosigkeit hat und

c) diesen Anspruch aufgrund von Beiträgen hat, die er als Arbeitnehmer gezahlt oder als solcher gutgeschrieben bekommen hat,

als Arbeitnehmer im Sinne von Artikel 73 in Verbindung mit Artikel 1 der Verordnung Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit anzusehen?

2) Wenn ein Staatsangehöriger des Mitgliedstaats A zeitweilig im Mitgliedstaat B wohnt und dort währenddessen a) als Arbeitnehmer arbeitet und b) mit einer Staatsangehörigen des Mitgliedstaats B zusammenlebt und mit ihr ein Kind hat, verstösst es dann gegen Artikel 48 oder gegen Artikel 52 EWG-Vertrag, wenn der Mitgliedstaat A die Zahlung von Familienleistungen für dieses Kind nur deshalb ablehnt, weil sich das Kind während eines Zeitraums, in dem der Staatsangehörige in den Mitgliedstaat A zurückgekehrt ist und dort als Selbständiger tätig ist, nicht im Mitgliedstaat A aufhält, sondern im Mitgliedstaat B zurückbleibt?

3) Entfaltet Artikel 48 oder Artikel 52, falls die zweite Frage bejaht wird, unter den Umständen des vorliegenden Falles unmittelbare Wirkung?

5 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, der einschlägigen Rechtsvorschriften und der beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

Zur ersten Frage

6 Artikel 73 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 in der Fassung der Verordnung Nr. 1390/81 lautet: "Ein Arbeitnehmer, der den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats als Frankreich unterliegt, hat für seine Familienangehörigen, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates, als ob die Familienangehörigen in diesem Staat wohnten."

7 Der Rechtsmittelführer macht geltend, er sei in der Zeit vom 30. April bis zum 29. Juli 1984 "Arbeitnehmer" im Sinne von Artikel 73 Absatz 1 gewesen, da er damals gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit pflichtversichert gewesen sei und hierfür als Arbeitnehmer Beiträge entrichtet habe; ausserdem könne er aufgrund der Art der Verwaltung oder der Finanzierung dieses Systems gemäß Artikel 1 Buchstabe a Ziffern i und ii als Arbeitnehmer unterschieden werden. Der Begriff des Arbeitnehmers ("employed person") im Sinne von Artikel 73 Absatz 1 sei identisch mit dem Begriff des Arbeitnehmers ("worker") in Artikel 73 der ursprünglichen Fassung der Verordnung; der Gerichtshof habe im Hinblick auf den letztgenannten Begriff entschieden, daß dieser unter bestimmten Voraussetzungen auch Personen erfasse, die nicht Arbeitnehmer im Sinne des Arbeitsrechts seien.

8 Hierzu ist festzustellen, daß der Betroffene während des fraglichen Zeitraums nur als Selbständiger Beiträge zu einem System der sozialen Sicherheit leistete. Die blosse Tatsache, daß eine Person, die sich in einer solchen Situation befindet, aufgrund der früher als Arbeitnehmer entrichteten Beiträge Anspruch auf Leistungen wegen Arbeitslosigkeit gehabt hätte, wenn sie damals ihre Tätigkeit aufgegeben hätte, kann nicht die Annahme begründen, daß diese Person im Sinne von Artikel 1 Buchstabe a Ziffern i und ii der Verordnung Nr. 1408/71 in der geänderten Fassung für den Zeitraum, in dem sie eine selbständige Tätigkeit ausübte, gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert war oder aber gegen diese Risiken im Rahmen eines Sozialversicherungssystems pflichtversichert war, dessen Art der Verwaltung oder der Finanzierung es zulässt, sie als Arbeitnehmer zu unterscheiden.

9 Ferner kann der Betroffene in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem die Leistungen für unterhaltsberechtigte Kinder nicht an von ihm als Arbeitnehmer entrichtete Beiträge gebunden sind, nicht aufgrund des den Anspruch auf diese Leistungen begründenden Systems als Arbeitnehmer im Sinne von Artikel 1 Buchstabe a Ziffer ii unterschieden werden.

10 Auf die erste Frage ist demgemäß zu antworten, daß ein Selbständiger, der bei unfreiwilliger Aufgabe seiner Tätigkeit aufgrund von Beiträgen, die er als Arbeitnehmer gezahlt oder als ein solcher gutgeschrieben bekommen hat, Anspruch auf Leistungen wegen Arbeitslosigkeit hat, kein "Arbeitnehmer" im Sinne von Artikel 73 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 in der geänderten Fassung in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe a Ziffern i und ii dieser Verordnung ist.

Zur zweiten Frage

11 Die zweite Frage des vorlegenden Gerichts geht im Kern dahin, ob es gegen die Artikel 48 und 52 EWG-Vertrag verstösst, wenn die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, nach denen Leistungen für unterhaltsberechtigte Kinder nur für Kinder gewährt werden, die im Hoheitsgebiet dieses Staates wohnen, auf einen Staatsangehörigen dieses Staates hinsichtlich eines Zeitraums angewandt werden, in dem er nach Ausübung einer Tätigkeit als Arbeitnehmer in einem anderen Mitgliedstaat, in dem er ein Kind hat, im Herkunftsmitgliedstaat, in den er allein zurückgekehrt ist, als Selbständiger tätig ist.

12 Der Rechtsmittelführer macht insoweit geltend, diese Rechtsvorschriften stellten eine mittelbare Diskriminierung der Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten oder jedenfalls eine durch Artikel 48 oder 52 EWG-Vertrag verbotene Beschränkung der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer und des Niederlassungsrechts dar. Die Artikel 48 und 52 seien auch auf Staatsangehörige des die fraglichen Rechtsvorschriften erlassenden Mitgliedstaats anwendbar, wenn sie in den Anwendungsbereich des EWG-Vertrags fielen. Die Kommission teilt diesen Standpunkt, beschränkt aber ihre Ausführungen auf die Auslegung von Artikel 52.

13 Hierzu ist erstens zu bemerken, daß jemand, der im fraglichen Mitgliedstaat vor seiner Arbeitslosigkeit nur eine selbständige Tätigkeit ausgeuebt hat, nicht als "Arbeitnehmer" im Sinne von Artikel 48 EWG-Vertrag angesehen werden kann und sich demgemäß nicht auf diese Vorschrift berufen kann.

14 Zweitens hatte der Gemeinschaftsgesetzgeber im fraglichen Zeitraum noch nicht die erforderlichen Maßnahmen erlassen, um auf dem Gebiet der Niederlassungsfreiheit die Zahlung von Leistungen für unterhaltsberechtigte Kinder an in den Mitgliedstaaten wohnende Personen sicherzustellen. Diese Maßnahmen, die unbedingt erforderlich waren, um zu gewährleisten, daß diese Leistungen tatsächlich für den Unterhalt unterhaltsberechtigter Kinder verwendet werden und um eine Kumulierung solcher Leistungen zu verhindern, wurden erst später mit der Verordnung (EWG) Nr. 3427/89 des Rates vom 30. Oktober 1989 zur Änderung der Verordnung Nr. 1408/71 und der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 (ABl. L 331, S. 1) getroffen, mit der der Anwendungsbereich von Artikel 73 der Verordnung Nr. 1408/71 auf Selbständige ausgedehnt wurde.

15 Folglich waren Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, nach denen für in einem anderen Mitgliedstaat wohnende Kinder von Selbständigen keine Leistungen gewährt wurden, so lange nicht mit Artikel 52 EWG-Vertrag unvereinbar, als der Rat die erwähnten Maßnahmen nicht erlassen hatte.

16 Demnach ist auf die zweite Vorlagefrage - ohne daß auf die Argumente des Rechtsmittelführers eingegangen zu werden braucht - zu antworten, daß es nicht gegen Artikel 52 EWG-Vertrag verstösst, wenn die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, nach denen Leistungen für unterhaltsberechtigte Kinder nur für Kinder gewährt werden, die im Hoheitsgebiet dieses Staates wohnen, auf einen Staatsangehörigen dieses Staates hinsichtlich eines Zeitraums angewandt werden, in dem er nach Ausübung einer Tätigkeit als Arbeitnehmer in einem anderen Mitgliedstaat, in dem er ein Kind hat, im Herkunftsmitgliedstaat, in den er allein zurückgekehrt ist, als Selbständiger tätig ist.

Zur dritten Frage

17 Nach alledem erübrigt sich eine Beantwortung der dritten Frage.

Kostenentscheidung:

Kosten

18 Die Auslagen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht hat, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesem Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Court of Appeal of England and Wales mit Beschluß vom 25. Juli 1989 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1) Ein Selbständiger, der bei unfreiwilliger Aufgabe seiner Tätigkeit aufgrund von Beiträgen, die er als Arbeitnehmer gezahlt oder als ein solcher gutgeschrieben bekommen hat, Anspruch auf Leistungen wegen Arbeitslosigkeit hat, ist kein "Arbeitnehmer" im Sinne des Artikels 73 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 1390/81 des Rates vom 12. Mai 1981 zur Ausdehnung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 auf die Selbständigen und ihre Familienangehörigen in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe a Ziffern i und ii der Verordnung Nr. 1408/71.

2) Es verstösst nicht gegen Artikel 52 EWG-Vertrag, wenn die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, nach denen Leistungen für unterhaltsberechtigte Kinder nur für Kinder gewährt werden, die im Hoheitsgebiet dieses Staates wohnen, auf einen Staatsangehörigen dieses Staates hinsichtlich eines Zeitraums angewandt werden, in dem er nach Ausübung einer Tätigkeit als Arbeitnehmer in einem anderen Mitgliedstaat, in dem er ein Kind hat, im Herkunftsmitgliedstaat, in den er allein zurückgekehrt ist, als Selbständiger tätig ist.

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