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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 16.12.1999
Aktenzeichen: C-150/98 P
Rechtsgebiete: EG-Vertrag, Beamtenstatut


Vorschriften:

EG-Vertrag Art. 168a
Beamtenstatut Art. 43 Abs. 2
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1 Der Gerichtshof ist, wenn das Gericht die Tatsachen festgestellt oder beurteilt hat, gemäß Artikel 168a EG-Vertrag (jetzt Artikel 225 EG) befugt, die rechtliche Qualifizierung dieser Tatsachen und die vom Gericht daraus gezogenen rechtlichen Konsequenzen zu überprüfen.

2 Die den Beamten nach dem Statut gegenüber der Gemeinschaft obliegende Treuepflicht darf nicht so verstanden werden, daß sie der Freiheit der Meinungsäusserung entgegensteht.

Die Wahrung dieser Freiheit ist von besonderer Bedeutung, wenn ein Beamter von dem ihm durch Artikel 43 Absatz 2 des Statuts eingeräumten Recht Gebrauch macht und der ihm mitgeteilten Beurteilung die Bemerkungen hinzufügt, die er für zweckdienlich hält.

Demnach erscheint es zwar legitim, dem Beamten eine Pflicht zur Zurückhaltung aufzuerlegen, die im übrigen in den Artikeln 12 und 21 des Statuts ausdrücklich vorgesehen ist, doch darf diese Pflicht zur Zurückhaltung nicht eng ausgelegt werden, wenn ein Beamter das ihm durch Artikel 43 Absatz 2 des Statuts eingeräumte Recht ausübt; daher kann ein Verstoß gegen diese Pflicht nur dann angenommen werden, wenn der Beamte grob beleidigende oder solche Ausdrücke verwendet, die den dem Beurteilenden geschuldeten Respekt in erheblichem Maß vermissen lassen.

3 Ergibt sich aus der Begründung eines Urteils des Gerichts ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht, stellt sich die Urteilsformel aber aus anderen Rechtsgründen als richtig dar, so ist das Rechtsmittel zurückzuweisen.


Urteil des Gerichtshofes (Zweite Kammer) vom 16. Dezember 1999. - Wirtschafts- und Sozialausschuss der Europäischen Gemeinschaften gegen E. - Rechtsmittel - Freiheit der Meinungsäußerung gegenüber Vorgesetzten - Treuepflicht und Ansehen des Amtes - Disziplinarstrafe - Einstufung in eine niedrigere Dienstaltersstufe. - Rechtssache C-150/98 P.

Entscheidungsgründe:

1 Der Wirtschafts- und Sozialausschuß der Europäischen Gemeinschaften (im folgenden: Rechtsmittelführer) hat mit Rechtsmittelschrift, die am 17. April 1998 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 49 der EG-Satzung des Gerichtshofes ein Rechtsmittel gegen das Urteil des Gerichts erster Instanz vom 17. Februar 1998 in der Rechtssache T-183/96 (E/Wirtschafts- und Sozialausschuß, Slg. ÖD 1998, I-A-67 und II-159; im folgenden: angefochtenes Urteil) eingelegt, mit dem das Gericht die Entscheidung des Generalsekretärs des Wirtschafts- und Sozialausschusses vom 18. Januar 1996, gegen E die Disziplinarstrafe der Einstufung in eine niedrigere Dienstaltersstufe zu verhängen (im folgenden: streitige Entscheidung), aufgehoben und dem Rechtsmittelführer die Kosten des Verfahrens auferlegt hat.

2 Was den dem Rechtsstreit zugrunde liegenden Sachverhalt betrifft, so wird auf die Randnummern 1 bis 12 des angefochtenen Urteils verwiesen.

Das angefochtene Urteil

3 Nach dem angefochtenen Urteil stützte E ihre Klage auf vier Klagegründe, erstens auf einen Formfehler, zweitens auf offensichtliche Rechtsfehler und Ermessensmißbrauch, drittens auf offensichtliche Tatsachenirrtümer und viertens auf einen Verstoß gegen den Verhältnismässigkeitsgrundsatz.

4 Das Gericht hat die ersten drei Klagegründe zurückgewiesen, den vierten Klagegrund jedoch für stichhaltig erachtet.

5 Das Gericht hat u. a. ausgeführt:

"39 Artikel 12 Absatz 1 des Statuts soll sicherstellen, daß die Gemeinschaftsbeamten in ihrem Verhalten ein würdiges Bild abgeben, das dem besonders korrekten und achtbaren Verhalten entspricht, das von den Angehörigen eines internationalen öffentlichen Dienstes erwartet werden kann (Urteil des Gerichts vom 7. März 1996 in der Rechtssache T-146/94, Williams/Rechnungshof, Slg. ÖD 1996, II-329, Randnr. 65). Im vorliegenden Fall ist das streitige Schreiben vom 10. Januar 1995 durch einen aggressiven Ton gekennzeichnet und lässt somit den erforderlichen Anstand vermissen, wie die Klägerin in ihrer Klageschrift im übrigen eingeräumt hat. Insbesondere Wendungen wie "Arbeit... die er selbst nicht kennt", "das geht Sie nichts an", "sind Sie sicher nicht dieser Vorgesetzte", "Beschränken Sie sich auf Ihre Zuständigkeiten", "Unterlassen Sie es, mich zu diffamieren und mich mit Übergriffen und Beleidigungen zu überziehen", "Während der Zeit meiner Beschäftigung in der Direktion bin ich das Opfer einer Beleidigung durch [den Beurteilenden] geworden: Hinter meinem Rücken hat er am 28. März 1994 eine ehrenrührige Note an Herrn [X] gerichtet, in der mein Hinauswurf gefordert wurde und die dazu geführt hat, daß mein Dienstposten im Organisationsplan gestrichen wurde" und "Die von [dem Beurteilenden] ausgearbeitete Beurteilung stellt einen ungerechtfertigten und diffamierenden persönlichen Angriff voller falscher Behauptungen dar" entsprechen nicht dem den Beamten nach Artikel 12 Absatz 1 des Statuts auferlegten korrekten Verhalten. Demgemäß war die Verwaltung nach Überzeugung des Gerichts zu Recht der Auffassung, daß dieses Schreiben dem Ansehen des Amtes abträglich sei.

40 Aus den gleichen Gründen konnte die Verwaltung davon ausgehen, daß das Schreiben der Klägerin gegen Artikel 21 des Statuts verstieß. Die in diesem Artikel normierte Pflicht des Beamten, seine Vorgesetzten zu beraten und zu unterstützen, gilt nicht nur bei der Durchführung der ihm übertragenen speziellen Aufgaben, sondern erstreckt sich auf die gesamten Beziehungen zwischen dem Beamten und dem Organ. Daher hat der Beamte aufgrund dieser Pflicht allgemein Verhaltensweisen zu unterlassen, die das Ansehen des Organs und seiner Vorgesetzten beeinträchtigen und den ihnen geschuldeten Respekt vermissen lassen (Urteil des Gerichts vom 26. November 1991 in der Rechtssache T-146/89, Slg. 1991, I-1293, Randnr. 72). Wie in der vorstehenden Randnummer festgestellt, haben mehrere der Behauptungen, die die Klägerin im Schreiben vom 10. Januar 1995 aufgestellt hat, das Ansehen des Beurteilenden beeinträchtigt und den ihm geschuldeten Respekt vermissen lassen.

41 Schließlich ist die Freiheit der Meinungsäusserung zwar ein Grundrecht, das auch den Gemeinschaftsbeamten zusteht (Urteil des Gerichtshofes vom 13. Dezember 1989 in der Rechtssache C-100/88, Oyowe und Traore/Kommission, Slg. 1989, 4285, Randnr. 16); die Artikel 12 und 21 des Statuts, wie sie im Vorstehenden ausgelegt worden sind, schränken aber die Freiheit der Meinungsäusserung der Beamten nicht ein, sondern setzen der Ausübung dieses Grundrechts im dienstlichen Interesse sachgerechte Grenzen. Daher musste die Klägerin, als sie von ihrem Recht nach Artikel 43 Absatz 2 des Statuts Gebrauch machte, der ihr zuvor mitgeteilten Beurteilung alle Bemerkungen hinzuzufügen, die sie für zweckdienlich hielt, dieses Recht in einer mit den Artikeln 12 und 21 des Statuts zu vereinbarenden Weise ausüben.

...

59 Wie das Gericht festgestellt hat, besteht die der Klägerin im vorliegenden Fall zur Last gelegte Handlung darin, daß sie bei der Ausübung ihres Rechts, ihre Bemerkungen zu der Beurteilung anzubringen, einen Ton und Ausdrücke verwendet hat, die mit den Verpflichtungen in bezug auf das Ansehen des Amtes sowie den Respekt gegenüber den Vorgesetzten des Organs nicht zu vereinbaren sind. Es handelt sich jedoch nicht um einen schwerwiegenden Verstoß gegen diese Verpflichtungen. Die Klägerin hat in dem streitigen Schreiben nämlich keine grob beleidigende Sprache gebraucht, und sie hat die an den Beurteilenden gerichteten Vorwürfe begründet, indem sie auf ihre eigene Vorstellung von dem zwischen ihnen bestehenden Arbeitsverhältnis und auf ihre tiefgreifende Unzufriedenheit in diesem Zusammenhang hingewiesen hat. Der Verstoß gegen die Artikel 12 und 21 des Statuts besteht daher allein darin, daß sich die Klägerin eines überzogenen und aggressiven Stils bedient hat und es demnach, wie sie in ihrer Klageschrift selbst eingeräumt hat, an Anstand hat fehlen lassen.

60 Nach Auffassung des Gerichts war es unter diesen Umständen offensichtlich unverhältnismässig, gegen die Klägerin die Strafe der Rückstufung um mehrere Dienstaltersstufen zu verhängen. Es handelt sich nämlich um eine schwere Strafe, die selten gegen Beamte verhängt wird und die nur dann verhältnismässig ist, wenn ihr wesentlich schwerwiegendere Handlungen als in diesem Fall zugrunde liegen."

Das Rechtsmittel

6 Der Rechtsmittelführer beantragt in seiner Rechtsmittelschrift,

- das angefochtene Urteil aufzuheben,

- den Rechtsstreit endgültig zu entscheiden und dem von ihm im ersten Rechtszug gestellten Antrag auf vollständige Abweisung der von E erhobenen Klage stattzugeben,

- jeder Partei ihre eigenen Kosten aufzuerlegen und - im Urteil E mit ihrem vollen Namen zu bezeichnen.

7 Zur Begründung seines Rechtsmittels macht der Rechtsmittelführer drei Rechtsmittelgründe geltend, die er folgendermassen zusammenfasst:

- fehlerhafte rechtliche Würdigung der Tatsachen und unrichtige Auslegung der Artikel 12 und 21 des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften (im folgenden: Statut);

- Begründungsmangel des angefochtenen Urteils und unrichtige Auslegung der Artikel 86 und 87 des Statuts;

- fehlerhafte Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit und unrichtige Auslegung der Artikel 12 und 21 des Statuts.

8 E hat keine Rechtsmittelbeantwortung eingereicht.

9 Der Rechtsmittelführer wirft mit seinem ersten Rechtsmittelgrund dem Gericht im wesentlichen vor, in Randnummer 59 des angefochtenen Urteils den Ton und die Ausdrücke, die E in ihrem Schreiben vom 10. Januar 1995 verwendet habe, als blossen Mangel an Anstand qualifiziert zu haben, während sie in Wirklichkeit der Ausdruck mangelnden Respekts seien, der sich aus einem schrankenlosen Gebrauch der Freiheit der Meinungsäusserung ergebe. Nach Auffassung des Rechtsmittelführers sind beim Gebrauch dieser Freiheit im öffentlichen Dienst der Gemeinschaft aber die zusätzlichen Schranken zu beachten, die sich aus dem zwischen den Beteiligten geltenden Grundsatz von Treu und Glauben und aus der Pflicht zur Respektierung der Autorität der Vorgesetzten ergäben, wie sie in Artikel 21 des Statuts ausdrücklich erwähnt sei. Demnach habe das Gericht angesichts des Tons und der in dem Schreiben vom 10. Januar 1995 verwendeten Ausdrücke sowie angesichts sämtlicher konkreter Umstände und Besonderheiten des Einzelfalls eine im Hinblick auf die Artikel 12 und 21 des Statuts unzutreffende rechtliche Qualifizierung der Tatsachen vorgenommen.

10 Nach ständiger Rechtsprechung ist der Gerichtshof, wenn das Gericht die Tatsachen festgestellt oder beurteilt hat, befugt, gemäß Artikel 168a EG-Vertrag (jetzt Artikel 225 EG) die rechtliche Qualifizierung dieser Tatsachen und die vom Gericht daraus gezogenen rechtlichen Konsequenzen zu überprüfen (in diesem Sinne Urteil vom 1. Juni 1994 in der Rechtssache C-136/92 P, Kommission/Brazzelli Lualdi u. a., Slg. 1994, I-1981, Randnr. 49).

11 Das Gericht hat dadurch, daß es in den Randnummern 39, 40 und 59 des angefochtenen Urteils ausgeführt hat, das Verhalten der E, obwohl in ihm nur ein Mangel an Anstand zum Ausdruck komme, gegen die Artikel 12 und 21 des Statuts verstossen habe, die ihm vorliegenden Tatsachen rechtlich qualifiziert. Folglich ist der erste Rechtsmittelgrund insoweit zulässig, als mit ihm eine Kontrolle dieser rechtlichen Qualifizierung durch den Gerichtshof beantragt wird.

12 Ferner gehören nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat; zu diesen allgemeinen Grundsätzen gehört die in Artikel 10 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verbürgte Meinungsfreiheit (vgl. Urteil vom 28. Oktober 1992 in der Rechtssache C-219/91, Ter Voort, Slg. 1992, I-5485, Randnrn. 34 und 35).

13 Schließlich hat der Gerichtshof für den Bereich des öffentlichen Dienstes der Gemeinschaft entschieden, daß die den Beamten nach dem Statut gegenüber der Gemeinschaft obliegende Treuepflicht nicht so verstanden werden darf, daß sie der Freiheit der Meinungsäusserung entgegensteht (Urteil Oyowe und Traore/Kommission, Randnr. 16).

14 Die Wahrung dieser Freiheit ist von besonderer Bedeutung, wenn ein Beamter von dem ihm durch Artikel 43 Absatz 2 des Statuts eingeräumten Recht Gebrauch macht und der ihm mitgeteilten Beurteilung die Bemerkungen hinzufügt, die er für zweckdienlich hält.

15 Demnach erscheint es zwar legitim, dem Beamten eine Pflicht zur Zurückhaltung aufzuerlegen, die im übrigen in den Artikeln 12 und 21 des Statuts ausdrücklich vorgesehen ist, doch darf diese Pflicht zur Zurückhaltung nicht eng ausgelegt werden, wenn ein Beamter das ihm durch Artikel 43 Absatz 2 des Statuts eingeräumte Recht ausübt. Ein Verstoß gegen diese Pflicht kann daher nur dann angenommen werden, wenn der Beamte grob beleidigende oder solche Ausdrücke verwendet, die den dem Beurteilenden geschuldeten Respekt in erheblichem Maß vermissen lassen.

16 Demnach hat das Gericht dadurch, daß es in den Randnummern 39 und 40 des angefochtenen Urteils das der E vorgeworfene Verhalten, das in der Verwendung eines aggressiven und maßlosen Tons für die Mitteilung ihrer Bemerkungen zu einer Beurteilung bestand, als Verstoß gegen die Artikel 12 und 21 des Statuts qualifiziert hat, während es in Randnummer 59 desselben Urteils ausgeführt hat, E habe keine grob beleidigende Sprache gebraucht, bei der rechtlichen Qualifizierung der ihm vorliegenden Tatsachen einen Rechtsfehler begangen.

17 Das Rechtsmittel ist jedoch zurückzuweisen, wenn die Gründe eines Urteils des Gerichts eine Verletzung des Gemeinschaftsrechts enthalten, sich die Urteilsformel aber aus anderen Rechtsgründen als richtig darstellt (vgl. Urteil vom 15. Dezember 1994 in der Rechtssache C-320/92 P, Finsider/Kommission, Slg. 1994, I-5697, Randnr. 37).

18 Dies ist hier der Fall, da das Gericht bei zutreffender rechtlicher Qualifizierung der Tatsachen hätte feststellen müssen, daß kein Verstoß gegen die Artikel 12 und 21 des Statuts vorliegt, und die streitige Entscheidung hätte aufheben müssen.

19 Demgemäß ist das Rechtsmittel zurückzuweisen, ohne daß die übrigen Rechtsmittelgründe geprüft zu werden brauchen.

Kostenentscheidung:

Kosten

20 Nach Artikel 69 § 1 der Verfahrensordnung, der gemäß Artikel 118 auf das Rechtsmittelverfahren entsprechende Anwendung findet, werden dem Rechtsmittelführer die Kosten auferlegt.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Zweite Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1. Das Rechtsmittel wird zurückgewiesen.

2. Der Rechtsmittelführer trägt die Kosten des Rechtsmittelverfahrens.

Ende der Entscheidung

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