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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 01.07.1993
Aktenzeichen: C-154/92
Rechtsgebiete: EWGV, RL Nr. 79/7/EWG


Vorschriften:

EWGV Art. 177
RL Nr. 79/7/EWG Art. 4 Abs. 1
RL Nr. 79/7/EWG Art. 7
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Artikel 4 Absatz 1 und Artikel 7 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit verbieten es, daß eine nationale Regelung, nach der männliche und weibliche Arbeitnehmer im gleichen Alter in den Ruhestand treten können, bei der Berechnungsweise der Altersrente einen Unterschied nach dem Geschlecht aufrechterhält, der seinerseits mit dem vorher geltenden unterschiedlichen Rentenalter zusammenhängt.

2. Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit kann, solange die Richtlinie nicht durchgeführt worden ist, seit dem 23. Dezember 1984 von einzelnen vor den innerstaatlichen Gerichten in Anspruch genommen werden, um die Anwendung aller mit diesem Artikel unvereinbaren nationalen Vorschriften auszuschließen.

Bei einem Verstoß gegen Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie hat die benachteiligte Gruppe Anspruch auf Anwendung der gleichen Regelung wie die begünstigte Gruppe, die sich in der gleichen Lage befindet, wobei diese Regelung, solange die Richtlinie nicht ordnungsgemäß durchgeführt ist, das einzig gültige Bezugssystem bleibt.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (SECHSTE KAMMER) VOM 1. JULI 1993. - REMI VAN CANT GEGEN RIJKSDIENST VOOR PENSIOENEN. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: ARBEIDSRECHTBANK ANTWERPEN - BELGIEN. - GLEICHBEHANDLUNG - ALTERSRENTE - BERECHNUNGSWEISE - RENTENALTER. - RECHTSSACHE C-154/92.

Entscheidungsgründe:

1 Die Arbeidsrechtbank Antwerpen hat mit Urteil vom 23. April 1992, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Mai 1992, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag drei Fragen nach der Auslegung der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (ABl. 1979, L 6, S. 24) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Herrn Remi van Cant und dem Rijksdienst voor pensiönen (nachstehend: Rijksdienst) wegen der Berechnung der ihm vom Rijksdienst gezahlten Rente.

3 Die belgische Königliche Verordnung Nr. 50 vom 24. Oktober 1967 über die Alters- und Hinterbliebenenrente der Arbeitnehmer (Moniteur belge vom 27. Oktober 1967, S. 11258) hatte das normale Rentenalter für Männer auf 65 Jahre und für Frauen auf 60 Jahre festgesetzt. Der Anspruch auf Altersrente wurde je Kalenderjahr aufgrund eines Bruchteils der Löhne erworben, dessen Nenner bei Männern 45 und bei Frauen 40 nicht übersteigen konnte.

4 Das Gesetz vom 20. Juli 1990, das ein flexibles Rentenalter für Arbeitnehmer einführte und die Renten der Arbeitnehmer an die Entwicklung des allgemeinen Wohlstands anpasste (Moniteur belge vom 15. August 1990, S. 15875), gestattet allen männlichen oder weiblichen Arbeitnehmern, mit Vollendung des 60. Lebensjahres in den Ruhestand zu treten. Bei der Berechnung des Betrages der Rente behielt dieses Gesetz demgegenüber die durch die Königliche Verordnung Nr. 50 geschaffene Regelung bei.

5 Da Herr Remi van Cant das 65. Lebensjahr vollendet hat, bezieht er seit dem 1. Juni 1991 eine Altersrente, die vom Rijksdienst auf der Grundlage der günstigsten 45 Kalenderjahre seiner Beschäftigungszeit errechnet wurde.

6 Herr Remi van Cant erhob bei der Arbeidsrechtbank Antwerpen Klage auf Aufhebung der Entscheidung, mit der der Rijksdienst den Betrag seiner Rente festgesetzt hatte, und zwar mit der Begründung, daß die Methode der Berechnung der Rente, die für weibliche Arbeitnehmer gelte und bei der die 40 günstigsten Jahre der Beschäftigungszeit des Arbeitnehmers berücksichtigt würden, zu einer Rente führen würde, die höher wäre als die ihm gewährte.

7 Im Rahmen dieses Rechtsstreits hat die Arbeidsrechtbank beschlossen, das Verfahren auszusetzen, bis der Gerichtshof folgende Vorlagefragen beantwortet hat:

1) Stellt die Berechnungsweise der Altersrente männlicher Berechtigter eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im Sinne von Artikel 4 der Richtlinie 79/7/EWG dar, wenn für die Altersrente weiblicher Berechtigter eine andere Berechnungsweise vorgesehen ist, die dazu führen kann, daß für gleiche Beschäftigungszeiten eine höhere Rente gewährt wird, indem insbesondere die Altersrente eines Mannes in Höhe von 1/45 x 60 % oder 75 % des pauschalen/fiktiven/tatsächlichen Lohnes für jedes in Anrechnung zu bringende Kalenderjahr der Beschäftigungszeit berechnet wird, während die Altersrente für Frauen in Höhe von 1/40 x 60 % oder 75 % dieses Lohnes berechnet wird, und indem ° gegebenenfalls ° die 45 günstigsten Jahre der Beschäftigungszeit angerechnet werden, wenn es sich um einen Mann handelt, und die 40 günstigsten Jahre, wenn es sich um eine Frau handelt, wobei dem Umstand Rechnung zu tragen ist, daß die Altersrente für Männer und Frauen nach Wahl am ersten Tag des Monats beginnen kann, der auf die Vollendung des 60. Lebensjahres folgt?

2) Falls die vorstehende Frage zu bejahen ist, entfaltet dann Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7/EWG unter den Umständen des vorliegenden Falles unmittelbare Wirkung?

3) Falls die zweite Frage zu bejahen ist, bedeutet dies, daß die Altersrenten der männlichen Berechtigten auf der Grundlage der günstigsten Berechnungsvorschriften zu berechnen sind, die jetzt nach Artikel 3 des Gesetzes vom 20. Juli 1990 zur Einführung einer flexiblen Altersgrenze für Arbeitnehmer und zur Anpassung der Arbeitnehmerrenten an die Entwicklung des allgemeinen Wohlstands nur auf weibliche Berechtigte angewandt werden?

8 Wegen weiterer Einzelheiten des dem Ausgangsrechtsstreit zugrunde liegenden Sachverhalts, des Verfahrensablaufs und der vor dem Gerichtshof abgegebenen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

Zur ersten Frage

9 Mit der ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob Artikel 4 Absatz 1 und Artikel 7 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 es verbieten, daß eine nationale Regelung, nach der männliche und weibliche Arbeitnehmer im gleichen Alter in den Ruhestand treten können, bei der Berechnungsweise der Rente einen Unterschied nach dem Geschlecht aufrechterhält, der seinerseits mit dem nach der früheren Regelung geltenden unterschiedlichen Rentenalter zusammenhängt.

10 Für die Beantwortung dieser Frage ist vorab darauf hinzuweisen, daß Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 jede Diskriminierung aufgrund des Geschlechts bei der Berechnung der Leistungen, u. a. auch bei Alter, untersagt.

11 Ferner sind nationale Rechtsvorschriften wie die vom vorlegenden Gericht beschriebenen, die eine nach dem Geschlecht des Arbeitnehmers unterschiedliche Berechnungsweise der Ruhestandsrenten vorsehen, diskriminierend im Sinne der Richtlinie 79/7.

12 Schließlich kann eine solche Diskriminierung lediglich nach Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 79/7 gerechtfertigt sein, wonach die Richtlinie der Befugnis der Mitgliedstaaten nicht entgegensteht, die Festsetzung des Rentenalters für die Gewährung der Altersrente oder Ruhestandsrente und etwaige Auswirkungen daraus auf andere Leistungen vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie auszuschließen.

13 Hat eine nationale Regelung das bis dahin bestehende unterschiedliche Rentenalter für weibliche und männliche Arbeitnehmer beseitigt, was als tatsächliche Frage der Beurteilung durch das nationale Gericht unterliegt, so kann Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 79/7 nicht mehr herangezogen werden, um die Aufrechterhaltung eines Unterschieds bei der Berechnungsweise der Altersrente zu rechtfertigen, die mit diesem unterschiedlichen Rentenalter zusammenhing.

14 Demgemäß ist auf die erste Frage der Arbeidsrechtbank Antwerpen zu antworten, daß die Artikel 4 Absatz 1 und Artikel 7 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 es verbieten, daß eine nationale Regelung, nach der männliche und weibliche Arbeitnehmer im gleichen Alter in den Ruhestand treten können, bei der Berechnungsweise der Rente einen Unterschied nach dem Geschlecht aufrechterhält, der seinerseits mit dem vorher geltenden unterschiedlichen Rentenalter zusammenhängt.

Zur zweiten Frage

15 Mit der zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob sich einzelne vor den innerstaatlichen Gerichten nach Ablauf der Frist zur Umsetzung der Richtlinie 79/7 auf Artikel 4 Absatz 1 dieser Richtlinie berufen können, um die Anwendung einer mit diesem Artikel nicht zu vereinbarenden nationalen Vorschrift auszuschließen.

16 Für die Beantwortung dieser Frage ist darauf hinzuweisen, daß sich die einzelnen nach ständiger Rechtsprechung in allen Fällen, in denen die Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, bei Fehlen von fristgemäß erlassenen Durchführungsmaßnahmen auf diese Bestimmungen gegenüber allen nationalen, nicht richtlinienkonformen Vorschriften berufen können (vgl. insbesondere Urteil vom 4. Dezember 1986 in der Rechtssache 71/85, Federatie Nederlandse Vakbeweging, Slg. 1986, 3855, Randnr. 13).

17 Zu Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 hat der Gerichtshof bereits entschieden, daß diese Bestimmung den Mitgliedstaaten keineswegs die Befugnis verleiht, die Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in seinem eigenen Geltungsbereich Bedingungen zu unterwerfen oder einzuschränken, und daß diese Bestimmung hinreichend genau und unbedingt ist, so daß sie seit dem 23. Dezember 1984, an dem die Richtlinie von den Mitgliedstaaten umgesetzt sein musste, von einzelnen vor den innerstaatlichen Gerichten in Anspruch genommen werden kann, um die Anwendung aller mit diesem Artikel unvereinbaren nationalen Vorschriften auszuschließen (vgl. Urteil Federatie Nederlandse Vakbeweging, a. a. O., Randnr. 21, Urteil vom 24. März 1987 in der Rechtssache 286/85, McDermott und Cotter, Slg. 1987, 1453, Randnr. 14, Urteil vom 24. Juni 1987 in der Rechtssache 384/85, Borrie Clarke, Slg. 1987, 2865, Randnr. 9).

18 Auf die zweite Frage ist daher zu antworten, daß Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 seit dem 23. Dezember 1984 von einzelnen vor den innerstaatlichen Gerichten in Anspruch genommen werden kann, um die Anwendung aller mit diesem Artikel unvereinbaren nationalen Vorschriften auszuschließen.

Zur dritten Frage

19 Mit der dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob bei einem Verstoß gegen Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 die benachteiligte Gruppe Anspruch auf Anwendung der gleichen Regelung wie die begünstigte Gruppe hat.

20 Insoweit ist darauf hinzuweisen, daß der Gerichtshof bereits im Urteil McDermott und Cotter, a. a. O., entschieden hat, daß bis zu dem Zeitpunkt, zu dem der Mitgliedstaat die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen erlässt, Frauen Anspruch auf Anwendung der gleichen Regelung wie Männer haben, die sich in der gleichen Lage befinden, wobei diese Regelung, solange die Richtlinie nicht durchgeführt ist, das einzig gültige Bezugssystem bleibt.

21 Diese Feststellung, die der Gerichtshof für den Fall der Benachteiligung weiblicher Arbeitnehmer gegenüber männlichen Arbeitnehmern getroffen hat, gilt ohne Rücksicht darauf, welche Gruppe aufgrund des Geschlechts benachteiligt wird.

22 Auf die dritte Frage ist daher zu antworten, daß bei einem Verstoß gegen Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 die benachteiligte Gruppe Anspruch auf Anwendung der gleichen Regelung wie die begünstigte Gruppe hat, die sich in der gleichen Lage befindet, wobei diese Regelung, solange die Richtlinie nicht ordnungsgemäß durchgeführt ist, das einzig gültige Bezugssystem bleibt.

Kostenentscheidung:

Kosten

23 Die Auslagen der Regierung des Königreichs Belgien und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

auf die ihm von der Arbeidsrechtbank Antwerpen mit Urteil vom 23. April 1992 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1) Artikel 4 Absatz 1 und Artikel 7 Absatz 1 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit verbieten es, daß eine nationale Regelung, nach der männliche und weibliche Arbeitnehmer im gleichen Alter in den Ruhestand treten können, bei der Berechnungsweise der Rente einen Unterschied nach dem Geschlecht aufrechterhält, der seinerseits mit dem vorher geltenden unterschiedlichen Rentenalter zusammenhängt.

2) Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 kann seit dem 23. Dezember 1984 von einzelnen vor den innerstaatlichen Gerichten in Anspruch genommen werden, um die Anwendung aller mit diesem Artikel unvereinbaren nationalen Vorschriften auszuschließen.

3) Bei einem Verstoß gegen Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 hat die benachteiligte Gruppe Anspruch auf Anwendung der gleichen Regelung wie die begünstigte Gruppe, die sich in der gleichen Lage befindet, wobei diese Regelung, solange die Richtlinie nicht ordnungsgemäß durchgeführt ist, das einzig gültige Bezugssystem bleibt.

Ende der Entscheidung

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