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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 17.03.1993
Aktenzeichen: C-155/91
Rechtsgebiete: EWGV


Vorschriften:

EWGV Art. 173
EWGV Art. 100a
EWGV Art. 130s
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Im Rahmen des Zuständigkeitssystems der Gemeinschaft muß sich die Wahl der Rechtsgrundlage eines Rechtsakts auf objektive, gerichtlich nachprüfbare Umstände gründen. Zu diesen Umständen gehören insbesondere das Ziel und der Inhalt des Rechtsakts.

2. Die Richtlinie 91/156 über Abfälle bezweckt, die Bewirtschaftung von Industrie- und Haushaltsabfällen im Einklang mit den Erfordernissen des Umweltschutzes sicherzustellen. Zwar sind Abfälle, seien sie rückführbar oder nicht, als Erzeugnisse anzusehen, deren Verkehr gemäß Artikel 30 des Vertrages grundsätzlich nicht verhindert werden darf, doch ist diese Richtlinie nicht darauf gerichtet, den freien Verkehr von Abfällen zu verwirklichen; sie führt vielmehr den in Artikel 130r Absatz 2 des Vertrages für die Umweltpolitik der Gemeinschaft aufgestellten Grundsatz durch, daß Umweltbeeinträchtigungen nach Möglichkeit an ihrem Ursprung zu bekämpfen sind. Demgemäß konnte die Richtlinie rechtsgültig auf der Grundlage von Artikel 130s des Vertrages allein erlassen werden.

Der Umstand, daß sich einige Bestimmungen der Richtlinie auf das Funktionieren des Binnenmarktes auswirken, genügt für eine Anwendung des Artikels 100a des Vertrages nicht. Der Rückgriff auf diese Vorschrift ist nämlich nicht gerechtfertigt, wenn der zu erlassende Rechtsakt nur nebenbei eine Harmonisierung der Marktbedingungen innerhalb der Gemeinschaft bewirkt.

3. Nach Artikel 37 Absatz 3 der EWG-Satzung des Gerichtshofes können mit den aufgrund des Beitritts gestellten Anträgen nur die Anträge einer Partei unterstützt werden. Diese Voraussetzung ist dann nicht erfuellt, wenn die Anträge des Streithelfers von den angeblich unterstützten Anträgen der die Nichtigkeit eines Rechtsakts insgesamt beantragenden Partei abweichen, indem sie nur auf die Nichtigerklärung einer der Bestimmungen des angefochtenen Rechtsakts aus völlig anderen Gründen, als sie die genannte Partei für ihren Antrag angeführt hat, gerichtet sind.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 17. MAERZ 1993. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN RAT DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN. - ABFALLRICHTLINIE - RECHTSGRUNDLAGE. - RECHTSSACHE C-155/91.

Entscheidungsgründe:

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 11. Juni 1991 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingereicht worden ist, gemäß Artikel 173 Absatz 1 EWG-Vertrag Klage erhoben auf Nichtigerklärung der Richtlinie 91/156/EWG des Rates vom 18. März 1991 zur Änderung der Richtlinie 75/442/EWG über Abfälle (ABl. L 78, S. 32).

2 Mit der Richtlinie 75/442 wurde eine Gemeinschaftsregelung über Abfallbeseitigung festgelegt. Zur Berücksichtigung der Erfahrungen, die bei der Durchführung dieser Richtlinie in den Mitgliedstaaten gesammelt worden waren, legte die Kommission am 16. August 1988 einen Vorschlag für den Erlaß der Richtlinie 91/156 vor. Als Rechtsgrundlage wählte die Kommission Artikel 100a EWG-Vertrag. Der Rat sprach sich jedoch allgemein dafür aus, die zu erlassende Richtlinie auf Artikel 130s EWG-Vertrag zu stützen. Trotz der Einwände des Europäischen Parlaments, das sich im Rahmen seiner Anhörung durch den Rat nach Artikel 130s für die von der Kommission vorgeschlagene Rechtsgrundlage ausgesprochen hatte, erließ der Rat die Richtlinie auf der Grundlage von Artikel 130s EWG-Vertrag.

3 Die Kommission stützt ihre Klage auf einen einzigen Klagegrund, nämlich den der unzutreffenden Wahl der Rechtsgrundlage für die genannte Richtlinie. Das Parlament, das dem Rechtsstreit als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Kommission beigetreten ist, beantragt darüber hinaus die Nichtigerklärung von Artikel 18 der Richtlinie.

4 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, des Verfahrensablaufs und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur wiedergegeben, soweit es die Begründung des Urteils erfordert.

Zur Rechtsgrundlage

5 Die Kommission, unterstützt durch das Europäische Parlament, macht im wesentlichen geltend, Ziel der Richtlinie seien sowohl der Umweltschutz als auch die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes. Daher hätte sie wie die Richtlinie über die Abfälle der Titandioxid-Industrie, die Gegenstand des Urteils vom 11. Juni 1991 in der Rechtssache C-300/89 (Kommission/Rat, Slg. 1991, I-2867, im folgenden: Titandioxid-Urteil) gewesen sei, allein auf der Grundlage von Artikel 100a EWG-Vertrag erlassen werden müssen.

6 Nach Ansicht des Rates ist dagegen Artikel 130s EWG-Vertrag die richtige Rechtsgrundlage der Richtlinie 91/156, die ihrem Ziel und ihrem Inhalt nach vor allem den Schutz der Gesundheit und der Umwelt bezwecke.

7 Nach nunmehr ständiger Rechtsprechung muß sich im Rahmen des Zuständigkeitssystems der Gemeinschaft die Wahl der Rechtsgrundlage eines Rechtsakts auf objektive, gerichtlich nachprüfbare Umstände gründen. Zu diesen Umständen gehören insbesondere das Ziel und der Inhalt des Rechtsakts (vgl. zuletzt Urteil vom 7. Juli 1992 in der Rechtssache C-295/90, Parlament/Rat, Slg. 1992, I-4193, Randnr. 13).

8 Zum Ziel der Richtlinie 91/156 heisst es in der vierten, der sechsten, der siebten und der neunten Begründungserwägung, daß die Mitgliedstaaten zur Erreichung eines hohen Umweltschutzniveaus Maßnahmen zu treffen haben, um das Entstehen von Abfällen zu begrenzen und um die Rückführung und Wiederverwendung von Abfällen als Rohstoffe zu fördern, und daß sie die Entsorgungsautarkie erreichen und das Verbringen ihrer Abfälle vermindern müssen.

9 Inhaltlich verpflichtet die Richtlinie die Mitgliedstaaten namentlich dazu, die Verhütung oder Verringerung der Erzeugung von Abfällen sowie deren Verwertung und Beseitigung ohne Gefährdung der menschlichen Gesundheit und der Umwelt zu fördern und eine unkontrollierte Ablagerung, Ableitung und Beseitigung von Abfällen zu verbieten (Artikel 3 und 4). Damit verpflichtet die Richtlinie die Mitgliedstaaten zur Errichtung eines integrierten und angemessenen Netzes von Beseitigungsanlagen, das es sowohl der Gemeinschaft insgesamt als auch jedem einzelnen Mitgliedstaat erlaubt, die Entsorgungsautarkie durch die Beseitigung ihrer Abfälle in einer der am nächsten gelegenen Entsorgungsanlagen zu erreichen (Artikel 5). Zur Verwirklichung dieser Ziele erstellen die Mitgliedstaaten Abfallbewirtschaftungspläne und können das Verbringen von Abfällen, das diesen Plänen nicht entspricht, unterbinden (Artikel 7). Schließlich verpflichtet die Richtlinie die Mitgliedstaaten, die Beseitigungsunternehmen und -anlagen Genehmigungs-, Melde- und Kontrollregelungen (Artikel 9 bis 14) zu unterwerfen und bekräftigt auf dem Gebiet der Abfallbeseitigung das in Artikel 130r Absatz 2 EWG-Vertrag aufgestellte Verursacherprinzip (Artikel 15).

10 Wie sich aus dem Vorstehenden ergibt, ist die strittige Richtlinie ihrem Ziel und ihrem Inhalt nach darauf gerichtet, die Bewirtschaftung von Industrie- und Haushaltsabfällen im Einklang mit den Erfordernissen des Umweltschutzes sicherzustellen.

11 Nach Ansicht der Kommission führt die Richtlinie jedoch auch den Grundsatz des freien Verkehrs von Abfällen, die zur Verwertung bestimmt sind, durch und unterwirft den freien Verkehr von Abfällen, die zur Beseitigung bestimmt sind, Bedingungen, die mit dem Binnenmarkt im Einklang stehen.

12 Zwar sind Abfälle, seien sie rückführbar oder nicht, als Erzeugnisse anzusehen, deren Verkehr gemäß Artikel 30 EWG-Vertrag grundsätzlich nicht verhindert werden darf (Urteil des Gerichtshofes vom 9. Juli 1992 in der Rechtssache C-2/90, Kommission/Belgien, Slg. 1992, I-4431, Randnr. 28).

13 Wie der Gerichtshof jedoch entschieden hat, rechtfertigen dringende Erfordernisse des Umweltschutzes Ausnahmen vom freien Verkehr von Abfällen. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof festgestellt, daß der für die Umweltpolitik der Gemeinschaft in Artikel 130r Absatz 2 EWG-Vertrag aufgestellte Grundsatz, Umweltbeeinträchtigungen nach Möglichkeit an ihrem Ursprung zu bekämpfen, bedeutet, daß es Sache jeder Region, Gemeinde oder anderen Gebietskörperschaft ist, die geeigneten Maßnahmen zu treffen, um Aufnahme, Behandlung und Beseitigung ihrer eigenen Abfälle sicherzustellen; diese sind daher möglichst nah am Ort ihrer Erzeugung zu beseitigen, um ihre Verbringung soweit wie möglich einzuschränken (Urteil Kommission/Belgien, a. a. O., Randnr. 34).

14 Die Umsetzung dieser Leitlinien ist Gegenstand der Richtlinie. Namentlich in Artikel 5 bestätigt sie den Grundsatz, daß der Ort der Abfallbeseitigung in der Nähe des Ortes der Abfallerzeugung liegen muß, damit soweit wie möglich gewährleistet wird, daß jeder Mitgliedstaat die Entsorgungsautarkie erreicht. Ferner erlaubt Artikel 7 den Mitgliedstaaten, die Verbringung von zu verwertenden oder zu beseitigenden Abfällen, die ihren Bewirtschaftungsplänen nicht entsprechen, zu unterbinden.

15 Damit ist die Richtlinie nicht darauf gerichtet, den freien Verkehr von Abfällen innerhalb der Gemeinschaft zu verwirklichen; dies hat die Kommission im übrigen in der mündlichen Verhandlung eingeräumt.

16 Die Kommission macht ferner geltend, daß die Richtlinie insofern zu einer Angleichung der Rechtsvorschriften führe, als sie in Artikel 1 eine einheitliche Definition der Abfälle und der diese betreffenden Tätigkeiten enthalte. In diesem Zusammenhang verweist sie namentlich auf die fünfte Begründungserwägung der Richtlinie, wonach unterschiedliche Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten über Abfallbeseitigung und -verwertung die Umweltqualität und das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes beeinträchtigen könnten.

17 Die Kommission weist schließlich darauf hin, daß die Richtlinie auch zur Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen sowohl auf der Ebene der industriellen Erzeugung als auch auf derjenigen der Abfallbeseitigung beitrage. Hierzu macht sie geltend, diese Richtlinie beseitige in einem gewissen Masse die Vorteile, die die Industrien einiger Mitgliedstaaten auf der Ebene der Produktionskosten dadurch genössen, daß dort weniger strenge Rechtsvorschriften für den Umgang mit Abfällen beständen als in anderen Mitgliedstaaten. So sei Artikel 4, der die Verwertung und Beseitigung von Abfällen vorsehe, "ohne daß Wasser, Luft, Boden und die Tier- und Pflanzenwelt gefährdet werden", hinreichend genau, um bei ordnungsgemässer Umsetzung durch die Mitgliedstaaten sicherzustellen, daß die Belastungen für die Wirtschaftsteilnehmer in Zukunft in allen Mitgliedstaaten weitgehend gleich seien.

18 Gewiß ist einzuräumen, daß einige Bestimmungen der Richtlinie, insbesondere die in Artikel 1 enthaltenen Definitionen, Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarktes haben.

19 Entgegen der Ansicht der Kommission macht jedoch der Umstand, daß die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarktes betroffen ist, allein die Anwendung von Artikel 100a EWG-Vertrag noch nicht erforderlich. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes ist nämlich der Rückgriff auf Artikel 100a nicht gerechtfertigt, wenn der zu erlassende Rechtsakt nur nebenbei eine Harmonisierung der Marktbedingungen innerhalb der Gemeinschaft bewirkt (Urteil vom 4. Oktober 1991 in der Rechtssache C-70/88, Parlament/Rat, Slg. 1991, I-4529, Randnr. 17).

20 Dies ist hier der Fall. Hauptzweck der in Artikel 1 der Richtlinie vorgesehenen Harmonisierung ist es, im Interesse des Umweltschutzes die Effizienz der Bewirtschaftung von Abfällen gleich welchen Ursprungs in der Gemeinschaft sicherzustellen; nur nebenbei wirkt sie sich auf die Wettbewerbs- und Handelsbedingungen aus. Dadurch unterscheidet sie sich von der Richtlinie 89/428/EWG des Rates vom 21. Juni 1989 über die Modalitäten zur Vereinheitlichung der Programme zur Verringerung und späteren Unterbindung der Verschmutzung durch Abfälle der Titandioxid-Industrie (ABl. L 201, S. 56), die Gegenstand des Titandioxid-Urteils (a. a. O.) war und die darauf gerichtet ist, die nationalen Rechtsvorschriften über die Produktionsbedingungen in einem bestimmten Industriesektor mit dem Ziel der Beseitigung der Wettbewerbsverzerrungen in diesem Sektor anzugleichen.

21 Unter diesen Umständen ist festzustellen, daß die angefochtene Richtlinie rechtsgültig auf der Grundlage von Artikel 130s EWG-Vertrag allein erlassen worden ist. Der Klagegrund der unrichtigen Wahl der Rechtsgrundlage der Richtlinie ist daher zurückzuweisen.

Zu Artikel 18 der Richtlinie

22 Das Parlament beantragt die Nichtigerklärung von Artikel 18 der Richtlinie 91/156 mit der Begründung, das dort vorgesehene Regelungsausschußverfahren entspreche nicht dem Vertrag.

23 Nach Artikel 37 Absatz 3 der Satzung des Gerichtshofes können mit den aufgrund des Beitritts gestellten Anträgen nur die Anträge einer Partei unterstützt werden.

24 Während der Antrag der Kommission auf die Nichtigerklärung der Richtlinie 91/156 gerichtet ist, begehrt das Parlament mit seinem Antrag die Nichtigerklärung von Artikel 18 der Richtlinie aus völlig anderen Gründen, als sie die Kommission für ihren Antrag anführt. Damit unterstützt das Parlament nicht den Antrag der Kommission; sein Antrag ist daher als unzulässig zurückzuweisen.

25 Nach alldem ist die Klage abzuweisen.

Kostenentscheidung:

Kosten

26 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen. Gemäß Artikel 69 § 4 der Verfahrensordnung haben das Königreich Spanien und das Europäische Parlament ihre eigenen Kosten zu tragen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

für Recht erkannt und entschieden:

1) Die Klage wird abgewiesen.

2) Die Kommission trägt die Kosten des Verfahrens. Das Königreich Spanien und das Europäische Parlament tragen ihre eigenen Kosten.

Ende der Entscheidung

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