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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 02.10.2008
Aktenzeichen: C-157/06
Rechtsgebiete: Richtlinie 93/36/EWG


Vorschriften:

Richtlinie 93/36/EWG Art. 2 Abs. 1 Buchst. b
Richtlinie 93/36/EWG Art. 3
Richtlinie 93/36/EWG Art. 6
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

2. Oktober 2008

"Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Öffentliche Lieferaufträge -Richtlinie 93/36/EWG - Vergabe öffentlicher Aufträge ohne Veröffentlichung einer vorherigen Bekanntmachung - Leichte Hubschrauber für die Polizei und die Feuerwehr"

Parteien:

In der Rechtssache C-157/06

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 226 EG, eingereicht am 23. März 2006,

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch X. Lewis und D. Recchia als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Klägerin,

gegen

Italienische Republik, vertreten durch I. M. Braguglia als Bevollmächtigten im Beistand von G. Fiengo, avvocato dello Stato, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Beklagte,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten der Sechsten Kammer L. Bay Larsen in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Zweiten Kammer, der Richter K. Schiemann, J. Makarczyk (Berichterstatter) und J.-C. Bonichot sowie der Richterin C. Toader,

Generalanwalt: M. Poiares Maduro,

Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. Mai 2008,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Mit ihrer Klageschrift beantragt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften die Feststellung, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 93/36/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Lieferaufträge (ABl. L 199, S. 1), insbesondere Art. 2 Abs. 1 Buchst. b sowie Art. 6 und 9, verstoßen hat, dass sie das Dekret des Ministers des Innern Nr. 558/A/04/03/RR vom 11. Juli 2003 (im Folgenden: Ministerialdekret) erlassen hat, das die Ausnahme von der Gemeinschaftsregelung über öffentliche Lieferaufträge für die Beschaffung von leichten Hubschraubern für die Bedürfnisse der Polizeikräfte und des nationalen Feuerwehrkorps gestattet, ohne dass eine der Voraussetzungen, die eine solche Ausnahme rechtfertigen können, erfüllt ist.

Rechtlicher Rahmen

Gemeinschaftsrecht

2 Art. 2 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 93/36 bestimmt:

"(1) Diese Richtlinie findet keine Anwendung auf

...

b) Lieferungen, die gemäß den Rechts- und Verwaltungsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats für geheim erklärt werden oder deren Ausführung nach diesen Vorschriften besondere Sicherheitsmaßnahmen erfordert, oder wenn der Schutz wesentlicher Interessen der Sicherheit des Mitgliedstaats es gebietet."

3 Art. 3 der Richtlinie sieht vor:

"Unbeschadet der Artikel 2 und 4 und des Artikels 5 Absatz 1 gilt diese Richtlinie für alle Waren, auf die sich Artikel 1 Buchstabe a) bezieht, einschließlich der Vergabe von Aufträgen öffentlicher Auftraggeber im Bereich der Verteidigung, mit Ausnahme der Waren, auf die Artikel [296] Absatz 1 Buchstabe b) [EG] Anwendung findet."

4 Art. 6 der Richtlinie bestimmt:

"(1) Für die Vergabe öffentlicher Lieferaufträge wenden die öffentlichen Auftraggeber die in Artikel 1 Buchstaben d), e) und f) genannten Verfahren in den nachstehenden Fällen an.

(2) Die öffentlichen Auftraggeber können Lieferaufträge im Verhandlungsverfahren vergeben, wenn im Rahmen eines offenen oder nicht offenen Verfahrens nicht ordnungsgemäße Angebote oder nur Angebote abgegeben worden sind, die nach den innerstaatlichen, mit Abschnitt IV zu vereinbarenden Vorschriften unannehmbar sind, sofern die ursprünglichen Bedingungen des Auftrags nicht grundlegend geändert werden. Die öffentlichen Auftraggeber veröffentlichen in diesen Fällen eine Vergabebekanntmachung, es sei denn, sie beziehen in das betreffende Verhandlungsverfahren alle [Unternehmen] ein, die die Kriterien der Artikel 20 bis 24 erfüllen und die im Verlauf des vorangegangenen offenen oder nicht offenen Verfahrens Angebote unterbreitet haben, die den formalen Voraussetzungen für das Angebotsverfahren entsprechen.

(3) Die öffentlichen Auftraggeber können in folgenden Fällen Lieferaufträge im Verhandlungsverfahren ohne vorherige öffentliche Vergabebekanntmachung vergeben:

a) wenn nach Durchführung eines offenen oder nicht offenen Verfahrens keine Angebote bzw. keine geeigneten Angebote abgegeben worden sind, sofern die ursprünglichen Bedingungen des Auftrags nicht grundlegend geändert werden und unter der Voraussetzung, dass der Kommission ein Bericht vorgelegt wird;

b) wenn es sich um Erzeugnisse handelt, die nur zum Zweck von Forschungen, Versuchen, Untersuchungen oder Entwicklungen hergestellt werden, wobei unter diese Bestimmung nicht eine Serienfertigung zum Nachweis der Marktfähigkeit des Produkts oder zur Deckung der Forschungs- und Entwicklungskosten fällt;

c) wenn der Gegenstand der Lieferung wegen seiner technischen oder künstlerischen Besonderheiten oder aufgrund des Schutzes eines Ausschließlichkeitsrechts nur von einem bestimmten Lieferanten hergestellt oder geliefert werden kann;

d) soweit dies unbedingt erforderlich ist, wenn dringliche, zwingende Gründe im Zusammenhang mit Ereignissen, die der betreffende öffentliche Auftraggeber nicht voraussehen konnte, es nicht zulassen, die in den offenen, den nicht offenen oder den Verhandlungsverfahren gemäß Absatz 2 vorgeschriebenen Fristen einzuhalten. Die angeführten Umstände zur Begründung der zwingenden Dringlichkeit dürfen auf keinen Fall dem öffentlichen Auftraggeber zuzuschreiben sein;

e) bei zusätzlichen, vom ursprünglichen Unternehmer durchgeführten Lieferungen, die entweder zur teilweisen Erneuerung von gelieferten Waren oder Einrichtungen oder zur Erweiterung von Lieferungen oder bestehenden Einrichtungen bestimmt sind, wenn ein Wechsel des Unternehmers dazu führen würde, dass der öffentliche Auftraggeber Material unterschiedlicher technischer Merkmale kaufen müsste und dies eine technische Unvereinbarkeit oder unverhältnismäßige technische Schwierigkeiten bei Gebrauch und Wartung mit sich bringen würde. Die Laufzeit dieser Aufträge sowie der Daueraufträge darf in der Regel drei Jahre nicht überschreiten.

(4) In allen anderen Fällen vergibt der öffentliche Auftraggeber seine Lieferaufträge im offenen oder nicht offenen Verfahren."

5 Art. 9 der Richtlinie lautet:

"(1) Die öffentlichen Auftraggeber veröffentlichen so bald wie möglich nach Beginn ihres jeweiligen Haushaltsjahres eine nicht verbindliche, nach Warenbereichen aufgeschlüsselte Bekanntmachung über alle Beschaffungen, die sie in den folgenden zwölf Monaten durchzuführen beabsichtigen und deren geschätzter Gesamtwert unter Berücksichtigung der Vorschriften des Artikels 5 mindestens 750 000 [Euro] beträgt.

Die Warenbereiche werden von den Auftraggebern unter Bezugnahme auf Positionen der Nomenklatur 'Classification of Products According to Activities (CPA)' festgelegt. Die Kommission legt die Art und Weise der Bezugnahme in der Bekanntmachung auf bestimmte Positionen der Nomenklatur nach dem in Artikel 32 Absatz 2 vorgesehenen Verfahren fest.

(2) Die öffentlichen Auftraggeber, die einen Lieferauftrag im Wege eines offenen, eines nicht offenen oder in den in Artikel 6 Absatz 2 genannten Fällen - eines Verhandlungsverfahrens vergeben wollen, teilen ihre Absicht durch Bekanntmachung mit.

(3) Die öffentlichen Auftraggeber, die einen Auftrag vergeben haben, teilen das Ergebnis in einer Bekanntmachung mit. Gewisse Angaben über die Auftragsvergabe brauchen jedoch in bestimmten Fällen nicht veröffentlicht zu werden, wenn die Bekanntmachung dieser Angaben den Gesetzesvollzug behindern, dem öffentlichen Interesse zuwiderlaufen, die legitimen geschäftlichen Interessen einzelner öffentlicher oder privater Unternehmen berühren oder den lauteren Wettbewerb zwischen den Lieferanten beeinträchtigen würde.

(4) Die Bekanntmachungen werden nach den in Anhang IV enthaltenen Maßnahmen erstellt; in ihnen sind die dort verlangten Auskünfte anzugeben. Die öffentlichen Auftraggeber dürfen ausschließlich die in den Artikeln 22 und 23 vorgesehenen Anforderungen stellen, wenn sie Auskünfte über die wirtschaftlichen und technischen Anforderungen an die Lieferanten im Hinblick auf deren Auswahl verlangen (Anhang IV, Abschnitt B Nummer 11, Anhang IV, Abschnitt C Nummer 9, und Anhang IV, Abschnitt D Nummer 8).

(5) Die öffentlichen Auftraggeber übermitteln die Bekanntmachungen binnen kürzester Frist und in geeignetster Weise dem Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften. Im Fall des in Artikel 12 vorgesehenen beschleunigten Verfahrens werden die Bekanntmachungen mittels Fernschreiben, Telegramm oder Fernkopierer übermittelt.

Die in Absatz 1 vorgesehene Bekanntmachung wird so bald wie möglich nach Beginn des jeweiligen Haushaltsjahres übermittelt.

Die in Absatz 3 vorgesehene Bekanntmachung wird spätestens 48 Tage nach Vergabe des jeweiligen Auftrags übermittelt.

(6) Die in den Absätzen 1 und 3 erwähnten Bekanntmachungen werden in vollem Umfang im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften und in der Datenbank TED in den Amtssprachen der Gemeinschaften veröffentlicht, wobei nur der Wortlaut in der Originalsprache verbindlich ist.

(7) Die in Absatz 2 erwähnten Bekanntmachungen werden ungekürzt im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften und in der Datenbank TED in ihren Originalsprachen veröffentlicht. Eine Zusammenfassung der wichtigsten Elemente aller Bekanntmachungen wird in den anderen Amtssprachen der Gemeinschaften veröffentlicht, wobei nur der Wortlaut in der Originalsprache verbindlich ist.

(8) Das Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht die Bekanntmachungen spätestens zwölf Tage nach der Absendung, im Fall des beschleunigten Verfahrens gemäß Artikel 12 spätestens fünf Tage nach der Absendung.

(9) Die Bekanntmachung darf in den Amtsblättern oder in der Presse des Landes des öffentlichen Auftraggebers nicht vor dem Tag der Absendung an das Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht werden; bei der Veröffentlichung ist dieser Zeitpunkt anzugeben. Die Veröffentlichung darf nur die im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlichten Angaben enthalten.

(10) Der öffentliche Auftraggeber muss den Tag der Absendung nachweisen können.

(11) Die Kosten der Veröffentlichung der Bekanntmachungen im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften werden von den Gemeinschaften getragen. Der Wortlaut der Bekanntmachungen darf eine Seite des Amtsblatts, d. h. etwa 650 Wörter, nicht überschreiten. In jeder Nummer des Amtsblatts, das eine oder mehrere Bekanntmachungen enthält, ist (sind) auch das (die) Muster aufgeführt, auf das (die) sich die veröffentlichte(n) Bekanntmachung(en) bezieht (beziehen)."

Nationales Recht

6 Das Ministerialdekret bestimmt:

"1. Bei der Lieferung von Hubschraubern des leichten Typs für die Bedürfnisse der Polizeikräfte und des nationalen Feuerwehrkorps sind besondere Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen, die auch auf die Handlungen der Technischen Bewertungsgruppe und des Interministeriellen Ausschusses, die in den Erwägungsgründen aufgeführt sind, Anwendung finden.

2. Für die Vergabe dieser Lieferungen kann von den Bestimmungen des Decreto legislativo Nr. 358 vom 24. Juli 1992, erneuert durch das Decreto legislativo Nr. 402 vom 20. Oktober 1998 [im Folgenden: Decreto legislativo Nr. 358/1992], abgewichen werden, da die Voraussetzungen des Art. 4 Buchst. c dieses Decreto im vorliegenden Fall erfüllt sind."

7 Das im Ministerialdekret angeführte Decreto legislativo Nr. 358/1992 enthält die Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Gemeinschaftsregelung für die Vergabe öffentlicher Lieferaufträge.

8 Art. 4 Buchst. c des Decreto legislativo Nr. 358/1992 gibt die Bestimmungen von Art. 2 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 93/36 wieder.

Vorverfahren

9 Nachdem die Kommission von dem Ministerialdekret Kenntnis erhalten hatte, das ihrer Ansicht nach nicht mit Art. 2 Abs. 1 Buchst. b sowie den Art. 6 und 9 der Richtlinie 93/36 im Einklang stand, sandte sie am 1. April 2004 ein Mahnschreiben an die Italienische Republik, das diese am 30. Juli 2004 beantwortete.

10 Da der Kommission diese Antwort nicht genügte, übersandte sie der Italienischen Republik am 14. Dezember 2004 eine mit Gründen versehene Stellungnahme, mit der diese aufgefordert wurde, die Maßnahmen zu ergreifen, die erforderlich sind, um dieser Stellungnahme binnen zwei Monaten ab deren Eingang nachzukommen.

11 Mit Schreiben vom 22. März 2005 teilte die Italienische Republik der Kommission mit, dass sie die mit Gründen versehene Stellungnahme noch nicht im Einzelnen beantwortet habe, da sie "insoweit einen tief greifenden Denkprozess eingeleitet" habe, dessen erste Ergebnisse "zu der Ansicht veranlassen, dass der Wortlaut dieses Dekrets eine gewisse Ratlosigkeit in Bezug darauf hervorrufen könnte, ob dieses dem auf Gemeinschaftsebene geltenden Regelungsrahmen für die Verfahren zur Vergabe öffentlicher Lieferaufträge in vollem Umfang entspricht". Weiter wurde in diesem Schreiben die Eröffnung eines technischen Dialogs mit den Dienststellen der Kommission gewünscht, der "diesen Denkprozess begleiten und zu einer erneuten Prüfung der erwähnten Rechtsvorschriften führen könnte, die die verschiedenen Zwänge, die in diesem Bereich bestehen, hinreichend berücksichtigt".

12 Trotz zweier Schreiben der Kommission vom 14. April und 26. Mai 2005, mit denen diese der Italienischen Republik mitteilte, dass sie bereit sei, in einen Dialog mit den betroffenen Ministerialstellen zu treten, hat dieser technische Dialog nie stattgefunden. Daher hat sich die Kommission dafür entschieden, die vorliegende Klage zu erheben.

Zur Klage

Vorbringen der Parteien

13 Die Kommission rügt, dass die Italienische Republik mit dem Ministerialdekret die Lieferungen leichter Hubschrauber für die Bedürfnisse der Polizeikräfte und des nationalen Feuerwehrkorps dem Anwendungsbereich der Richtlinie 93/36 entzogen habe, denn keine der in Art. 2 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen sei beachtet worden.

14 Die erwähnten Hubschrauber seien für die Polizeikräfte und das nationale Feuerwehrkorps bestimmt, also für Zivildienste, die üblicherweise nicht an militärischen Aktionen beteiligt sein dürften. Im Übrigen bestätige der Umstand, dass der Einbau einer leichten Bewaffnung als bloße Möglichkeit vorgesehen sei, dass die in Rede stehenden Hubschrauber im Wesentlichen zu einer zivilen Verwendung bestimmt seien. Schließlich genüge der Umstand, dass die Hubschrauber bestimmte Merkmale aufweisen müssten, die denen von Militärhubschraubern ähnelten, nicht, sie militärischen Lieferungen gleichzustellen. Allenfalls handele es sich um Luftfahrzeuge, die für eine etwaige doppelte Verwendung bestimmt seien.

15 Im Übrigen müsse auch bei militärischen Lieferungen die Richtlinie 93/36 angewandt werden, und die Umstände, die die in deren Art. 2 Abs. 1 Buchst. b vorgesehene Ausnahme rechtfertigten, müssten von dem Mitgliedstaat dargetan werden, der sich auf diese Ausnahme berufe. Die Italienische Republik habe jedoch im vorliegenden Fall die Rechtmäßigkeit der Anwendung der in dieser Bestimmung geregelten Ausnahme nicht nachgewiesen.

16 Die Italienische Republik macht geltend, im gegenwärtigen internationalen Kontext hätten sich die Begriffe Krieg und Kriegsmaterial im Vergleich zu ihrer ursprünglichen Bedeutung ebenso wie der Begriff des Schutzes wesentlicher Interessen der nationalen Sicherheit erheblich geändert. Der militärische Charakter der Hubschrauber, die Gegenstand der im Ministerialdekret vorgesehenen Lieferungen seien, könne nicht bestritten werden, da diese Hubschrauber für die Erfüllung von Aufgaben der nationalen Sicherheit verwendet werden könnten. Gemäß den Festlegungen eines zu diesem Zweck gebildeten interministeriellen Ausschusses müssten die Hubschrauber bestimmte technische Merkmale aufweisen, die es ermöglichten, sie gegebenenfalls als Waffen- und Verteidigungssysteme zu verwenden, weshalb sie einer Zulassung durch das Verteidigungsministerium bedürften.

17 Die Italienische Republik trägt vor, dass die in Art. 2 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 93/36 vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt seien. Hierbei stützt sie sich insbesondere darauf, dass bei den in Rede stehenden Lieferungen wegen ihrer Verwendung als Waffensysteme und ihrer Interoperabilität mit anderem militärischem Material größtmögliche Vertraulichkeit zu wahren sei. Dies sei der Grund, weshalb die Geheimhaltung im Rahmen eines offenen Vergabeverfahrens nicht gewährleistet werden könne.

18 Da die in Rede stehenden Luftfahrzeuge ohne Einschränkung als militärisches Material eingestuft werden könnten, würden sie selbst dann, wenn davon auszugehen wäre, dass die in Art. 2 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 93/36 vorgesehenen Voraussetzungen im vorliegenden Fall nicht einschlägig seien, dennoch unter die in Art. 296 EG geregelte Ausnahme fallen und seien daher der Gemeinschaftsregelung über öffentliche Aufträge entzogen.

19 Schließlich hält die Italienische Republik die vorliegende Klage für unzulässig wegen Verletzung des Grundsatzes ne bis in idem. Die streitgegenständliche Frage sei nämlich vom Gerichtshof bereits im Urteil vom 8. April 2008, Kommission/Italien (C-337/05, Slg. 2008, I-0000), geprüft und entschieden worden.

Würdigung durch den Gerichtshof

Zur Zulässigkeit

20 Insoweit genügt der Hinweis darauf, dass zwischen der vorliegenden Rechtssache und derjenigen, die mit dem erwähnten Urteil Kommission/Italien abgeschlossen worden ist, ein wesentlicher Unterschied besteht. In der vorliegenden Rechtssache hat die Italienische Republik gemäß einem Dekret des Ministers des Innern gehandelt, während sich die Rechtssache, die mit dem erwähnten Urteil abgeschlossen worden ist, auf die Rechtmäßigkeit einer Praxis der italienischen Behörden bezogen hat. Dies genügt für die Feststellung, dass im vorliegenden Fall der Grundsatz ne bis in idem keinesfalls mit Erfolg geltend gemacht werden kann.

21 Daher ist die von der Italienischen Republik erhobene Unzulässigkeitseinrede zurückzuweisen.

Zur Begründetheit

22 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass zwischen den Parteien unstreitig ist, dass die Beträge der vom Ministerialdekret erfassten Aufträge die in Art. 5 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 93/36 festgesetzte Schwelle übersteigen, so dass die Aufträge in den Geltungsbereich der Richtlinie fallen können.

23 Außerdem ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung jede Ausnahme von den Vorschriften, die die Wirksamkeit der im EG-Vertrag niedergelegten Rechte im Bereich der öffentlichen Aufträge gewährleisten sollen, eng auszulegen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. November 1993, Kommission/Spanien, C-71/92, Slg. 1993, I-5923, Randnr. 36) und dass die Beweislast für das tatsächliche Vorliegen der eine Ausnahme rechtfertigenden außergewöhnlichen Umstände derjenige trägt, der sich auf diese Ausnahme berufen will (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. Mai 1994, Kommission/Spanien, C-328/92, Slg. 1994, I-1569, Randnrn. 15 und 16, sowie Kommission/Italien, Randnrn. 57 und 58).

24 Im vorliegenden Fall macht die Italienische Republik geltend, dass das Ministerialdekret die in Art. 296 EG und in Art. 2 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 93/36 vorgesehenen Voraussetzungen insbesondere deshalb erfülle, weil die von diesem Dekret erfassten Hubschrauber Güter mit doppeltem Verwendungszweck seien, also sowohl zivilen als auch militärischen Zwecken dienen könnten.

25 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 296 Abs. 1 Buchst. b EG jeder Mitgliedstaat die Maßnahmen ergreifen kann, die seines Erachtens für die Wahrung seiner wesentlichen Sicherheitsinteressen erforderlich sind, soweit sie die Erzeugung von Waffen, Munition und Kriegsmaterial oder den Handel damit betreffen; Voraussetzung ist dabei allerdings, dass diese Maßnahmen auf dem Gemeinsamen Markt die Wettbewerbsbedingungen hinsichtlich der nicht eigens für militärische Zwecke bestimmten Waren nicht beeinträchtigen (vgl. Urteil Kommission/Italien, Randnr. 46).

26 Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergibt sich, dass die betreffenden Waren eigens für militärische Zwecke bestimmt sein müssen. Daraus folgt, dass beim Erwerb von Ausrüstungsgegenständen, deren Nutzung für militärische Zwecke ungewiss ist, zwingend die Regeln für die Vergabe öffentlicher Aufträge beachtet werden müssen (vgl. Urteil Kommission/Italien, Randnr. 47).

27 Es steht jedoch fest, dass das Ministerialdekret, wie die Italienische Republik einräumt, Hubschrauber betrifft, deren ziviler Einsatzzweck gewiss ist, während ihr militärischer Zweck nur eine Möglichkeit darstellt.

28 Daher kann sich die Italienische Republik nicht mit Erfolg auf Art. 296 Abs. 1 Buchst. b EG, auf den Art. 3 der Richtlinie 93/36 verweist, berufen, um eine nationale Regelung zu rechtfertigen, die den Rückgriff auf das Verhandlungsverfahren für den Erwerb dieser Hubschrauber gestattet.

29 Die Italienische Republik beruft sich außerdem auf Art. 2 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 93/36.

30 Dazu ist sogleich daran zu erinnern, dass die Notwendigkeit, eine Geheimhaltungspflicht vorzusehen, keineswegs an einer Auftragsvergabe im Ausschreibungsverfahren hindert (vgl. Urteil Kommission/Italien, Randnr. 52).

31 Die Rechtfertigung einer nationalen Regelung, die den Erwerb der fraglichen Hubschrauber im Verhandlungsverfahren gestattet, mit Art. 2 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 93/36 ist deshalb gemessen an dem Ziel, das Bekanntwerden vertraulicher Informationen im Zusammenhang mit der Hubschrauberherstellung zu verhindern, unverhältnismäßig. Die Italienische Republik hat nämlich nicht dargetan, dass dieses Ziel bei einer Ausschreibung, wie sie nach der Richtlinie 93/36 vorgesehen ist, nicht hätte erreicht werden können (vgl. Urteil Kommission/Italien, Randnr. 53).

32 Daher kann im vorliegenden Fall für die bloße Behauptung, dass die in Rede stehenden Lieferungen für geheim erklärt worden seien, dass bei ihnen besondere Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen seien oder dass eine Ausnahme von den Gemeinschaftsvorschriften notwendig sei, um wesentliche Sicherheitsinteressen des Staates zu schützen, nicht für den Nachweis genügen, dass die außergewöhnlichen Umstände, die die in Art. 2 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 93/36 vorgesehenen Ausnahmen rechtfertigten, tatsächlich vorliegen.

33 Somit kann sich die Italienische Republik nicht mit Erfolg auf Art. 2 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 93/36 berufen, um eine nationale Regelung zu rechtfertigen, die den Rückgriff auf das Verhandlungsverfahren für den Erwerb der erwähnten Hubschrauber genehmigt.

34 Nach allem ist festzustellen, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 93/36, insbesondere Art. 2 Abs. 1 Buchst. b sowie Art. 6 und 9, verstoßen hat, dass sie das Ministerialdekret erlassen hat, das die Ausnahme von der Gemeinschaftsregelung über öffentliche Lieferaufträge für die Beschaffung leichter Hubschrauber für die Bedürfnisse der Polizeikräfte und des nationalen Feuerwehrkorps gestattet, ohne dass eine der Voraussetzungen, die eine solche Ausnahme rechtfertigen können, erfüllt ist.

Kostenentscheidung:

Kosten

35 Nach Art. 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission die Verurteilung der Italienischen Republik beantragt hat und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1. Die Italienische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 93/36/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Lieferaufträge, insbesondere Art. 2 Abs. 1 Buchst. b sowie Art. 6 und 9, verstoßen, dass sie das Dekret Nr. 558/A/04/03/RR des Ministers des Innern vom 11. Juli 2003 erlassen hat, das die Ausnahme von der Gemeinschaftsregelung über öffentliche Lieferaufträge für die Beschaffung leichter Hubschrauber für die Bedürfnisse der Polizeikräfte und des nationalen Feuerwehrkorps gestattet, ohne dass eine der Voraussetzungen, die eine solche Ausnahme rechtfertigen können, erfüllt ist.

2. Die Italienische Republik trägt die Kosten.

Ende der Entscheidung

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